Jochen Distelmeyer, Wilko Johnson und ich

Wie Jochen Distelmeyer anno 2016 in seinem Konzert Dr. Feelgood und ihren furiosen Gitarristen Wilko Johnson rühmte und mir seinen Roman Otis ganz speziell signierte.

Im Mai 2016 habe ich Jochen Distelmeyers Roman Otis zu des Sängers Konzert im Salzburger Rockhouse mitgenommen, um mir das Buch vom Meister persönlich signieren zu lassen. Die coole LP-Hülle seines geradeneuen Albums Songs From The Bottom Vol. 1, auf dem Distelmeyer in seinem kühlen hanseatischen Englisch famose Songs wie Al Greens Let’s Stay Together,  Lana Del Reys Video Games, Britney Spears Toxic oder Nick Lowes I Read A Lot intoniert, schien mir zu sperrig, um das Konzert im Salzburger Rockhouse-Gewölbe genießen zu können.

Der Plan ging auf. Jochen Distelmeyer beglückte uns, begleitet von einem zweiten Gitarristen/Keyboarder, mit den erlesenen Songs From The Bottom plus einigen weiteren hochfeinen Coverversionen wie What’s Going On vom gestrauchelten Soul-Priester Marvin Gaye oder Take The Long Way Home von Supertramp und ein paar schönen Blumfeld-Liedern wie Tausend Tränen Tief.

Nach Nick Lowes Denkerballade schwadronierte Distelmeyer gewitzt von Lowes Rolle in der Londoner Pubrock-Szene in den Jahren vor Punk und rühmte die Verdienste der schärfsten aller englischen Pubrock-Bands, nämlich Dr. Feelgood. „Und vom Vornamen des Dr. Feelgood-Gitarristen hat die Band, von der wir gleich einen Song spielen, ihren Namen: Wilco. Wisst ihr vielleicht, wie der Gitarrist der Pubrock-Band heißt?“ „Natürlich“, schrie ich Richtung Bühne. „Wilko Johnson!“ Distelmeyer kringelte sich amüsiert: „Das gibt es nicht! Das hat auf dieser Tournee noch niemand gewusst!” Jetzt schon.

Nach den Zugaben ersuchte ich den jungen Security-Mann vor der Rockhouse-Garderobe, er möge doch bitte nachfragen, ob Jochen Distelmeyer nicht vielleicht mein Exemplar von Otis für mich signieren möchte. Ein paar Minuten später war Distelmeyer da, fragte nach meinem Namen und einem speziellen Wunsch für die Signatur: „Äh, vielleicht etwas mit Wilko Johnson?“ „Du warst das?“, fragte er amüsiert.  „Ja, das war ich.“ Also er schrieb mir Folgendes in sein Buch:  Hey Klaus! Wilco J!   –   X   –   Jochen Distelmeyer   –   25.5.2016. Dass man Wilko Johnson eigentlich mit K schreibt und die amerikanische Indie-Rock-Band Wilco mit C, spielt jetzt keine Rolle.

Werbung

Das now!-Archiv: now! N° 03, November 2001

Die dritte Ausgabe des österreichischen Musik- und Pop-Kultur-Magazins now! vom November 2001.  

Am Cover: Britney Spears. 100% now! Empfehlung: Starsailor. Album des Monats: Pulp We Love Life. Interviews & Storys: Britney Spears, Lenny Kravitz, Natalie Imbruglia, Michael Jackson, Alicia Keys, Enrique Iglesias, Sum 41, Die Falschen Freunde, Sylvester Stallone, Afroman, Playgroup, Echophonic, Eve, Kelis, Robbie Williams, Ozzy Osbourne, Green Day, Bush, Shelby Lynne, Louie Austen, Cranberries, Ethan & Joel Coen, Ash. Moderne Klassiker: The The Soul Mining. Sam Rami The Evil Dead – Tanz der Teufel. Talk now! Fragebogen: Kim Frank/ Echt.

now! wurde im now! Media Verlag, den ich mit drei Freunden, Hans, Bernie und Joe,  gegründet hatte, publiziert. Als Herausgeber und Chefredakteur fungierte meine Wenigkeit. In den kommenden zehn Jahren sollten noch 97 weitere Ausgaben von now! erscheinen.

Record Collection N° 34: Jochen Distelmeyer „Songs From The Bottom Vol. 1“ (Four Music, 2016)

Wenn Songs, die eigentlich gar nicht zusammengehören, plötzlich voll zueinander passen.

Blumfeld? Klar doch! Im Gegensatz zur sonstigen Hamburger Schule und dem für mich unhörbaren bundesdeutschen Diskurs-Rock Marke Tocotronic habe ich diese Hamburger Indie-Rockband mit dem wunderbaren Sänger und Songschreiber Jochen Distelmeyer gemocht und oft gehört. Nicht unbedingt die ersten sperrigeren, noch kopflastigeren Alben der frühen 1990er Jahre, auf denen deutschsprachige Dichter-Texte und angestrengtes, anstrengendes Dauerdenken die Melodien und die Musik noch zu sehr übertrumpften. Andererseits, was soll man von einer Band, die sich nach einer literarischen Figur von Franz Kafka benannte, denn erwarten?

Umso öfter am Plattenteller dafür die nachfolgenden Alben wie Old Nobody (1999) oder Testament der Angst (2001), wo Distelmeyer und Blumfeld mit wiedererkennbaren, poppigeren Melodien und Arrangements und gefühligeren, wohl auch Udo-Jürgens-tauglichen Lyrics aufwarteten. Und mit richtig schönen, empfindsamen Liedern wie Tausend Tränen tief, Graue Wolken oder Wellen der Liebe. Wofür sie von der Diskurs-Rock-Fraktion der deutschen Musikkritik naturgemäß knallhart verrissen wurden.

Aber ehrlich, die letzten Blumfeld-Platten nach der 2003er LP Jenseits von jedem habe ich genauso überhört wie Jochen Distelmeyers erstes Soloalbum Heavy, das er 2009 veröffentlichte, nachdem sich Blumfeld zwei Jahre zuvor getrennt hatten. Auch seinen ersten Roman Otis, 2015 erschienen, habe ich nur zum Teil gelesen und dann aufgehört, weil er mir zu verschwurbelt und mühsam war. Also mehr Diskurs-Rock als Tausend Tränen tief.

Mit Jochen Distelmeyers zweite Soloalbum Songs From The Bottom Vol. 1 sind wir uns wieder über den Weg gelaufen und schließlich ganz schön nahe gekommen. Die Platte hat mich voll geflasht. Distelmeyer singt auf Songs From The Bottom Vol. 1 alle Songs in Englisch, weil ja alle englischsprachige Originale. Nun wirkt ja seine Stimme immer herzlich ungerührt und unnahbar, vermag aber die Melodien und Lyrics allein schwebend über Gitarrenbegleitung und ein wenig Orgel und Klavier zu tragen und rüberzubringen und einen voll zu berühren.

Ein spezielles Plus auch: der obskure, aber wunderbar zusammenpassende Mix der neu interpretierten Songs. Es gibt Pop-Hits wie Video Games von Lana Del Rey, I Could Be The One von Avicii und Toxic von Britney Spears. Famosen Singer-Songwriter-Stoff von Joni Mitchel (Just Like This Train) und Kris Kristofferson (This Old Road). Unterschiedlichsten Britpop von Aztec Camera (On The Avenue), Radiohead (Pyramid Song), The Verve (Bitter Sweet Symphony) und Nick Lowe (I Read A Lot), dem geheimen Paten des Britpop. Kalifornischen Sixties Beat von den Byrds (Turn Turn Turn). Seventies Soul von Al Green (Let’s Stay Together). Und als wunderbares Finale schön Schräges  vom britischen Besonderling Ivor Cutler (Beautiful Cosmos).

Die Songs From The Bottom Vol. 1 verdanken ihre Entstehung Jochen Distelmeyers Lesungen für Otis, wo er zwischendurch immer einige dieser Lieder anstimmte, die er beim Schreiben des Romans hörte, oder die für ihn mit der dem Buch zugrunde liegenden Odyssee-Thematik zu tun haben. Am Ende der Lesungen wurde Distelmeyer von Fans oft darauf angesprochen, ob er diese Songs denn schon veröffentlicht hätte. Hatte er nicht. Jetzt hat er es gemacht. Und das ist gut so. Da diese herrliche Liedersammlung Songs From The Bottom Vol. 1 betitelt ist, darf man auf eine Fortsetzung hoffen.

Jochen Distelmeyer Songs From The Bottom Vol. 1, Four Music, 2016

Per Gessle: „Ich bin ein Typ für lang andauernde Beziehungen!“

Talk Show/Interviews 08: Per Gessle.

Im Gespräch mit dem schwedischen Sänger, Songschreiber, Musiker Per Gessle über seine Solokarriere. Mit Sängerin Marie Frederikkson bildete Gessle ab 1986 das megaerfolgreiche Pop-Erfolgsduo Roxette.

Ich war eigentlich lange kein großer Freund der schwedischen Popfabrikanten Roxette. Wahrscheinlich allein schon deswegen nicht, weil sie mir als damals überzeugtem Indie-Fan einfach nicht cool genug und auch viel zu sehr im Hitparaden-Mainstream unterwegs waren. Und ich mir nicht eingestehen wollte, dass Per Gessle und Marie Fredriksson ihr Pophandwerk wirklich gut beherrschten. Auch wenn ich einige ihrer Radiohits wie „The Look“ oder „It Must Have Been Love“ gut leiden konnte, schimpfte ich Roxette in einer Kritik einmal als „Eurythmics für Arme“ oder so ähnlich, sehr zum Ärger ihrer Plattenfirma. Spätestens mit seinem superben 2005er Solodoppelalbum „Son Of A Plumber“, das erst im Frühjahr 2006 außerhalb Schwedens veröffentlicht wurde, stieg Per Gessle aber nicht nur als kunstfertiger Songschreiber und raffinierter Popfeinschmied in meiner Achtung, ich lernte ihn auch als so sympathischen wie gescheiten Gesprächspartner zu schätzen. Drei Jahre nachdem wir uns erstmals in Wien zu einem intensiven Gespräch getroffen hatten, führte ich am Telefon ein nicht minder interessantes Gespräch mit Gessle, der sich anno 2009 mit seinem neuen Langspieler „Party Crasher“ gerade sein eigenes 1980er-Revival gezimmert hatte, bevor er schließlich erfolgreich mit Marie Fredriksson Roxette reformieren sollte.

Klaus Winninger: Ihr letzter, sehr ambitionierter Longplayer „Son Of A Plumber“ ließ einen neuen Per Gessle hören, weit weg von Roxette. Ihr neues Album „Party Crasher“ ist wieder eine ganz andere Platte geworden.

Per Gessle: Völlig anders, ja. Ich war nach „Son Of A Plumber“ enttäuscht, dass international überhaupt nichts mit dem Album geschehen ist. Ich hatte mir sehr viel erwartet und wollte mit der Platte unbedingt auf Tournee gehen. Aber es verging ein Monat nach dem anderen, ohne dass meine  Plattenfirma etwas dafür getan hätte. Also ging ich zurück ins Studio und habe noch eine weitere Platte in diesem Stil gemacht, „En Händig Man“, die ich Schwedisch gesungen habe und die in Schweden ein Riesenerfolg wurde, weshalb ich im Sommer 2007 hier auch eine große Tournee gespielt habe. Danach war ich ziemlich müde und verordnete mir selbst, dass ich eine Zeitlang gar nichts mehr machen darf. Doch plötzlich wollte ich wieder Songs schreiben – allerdings in einem  anderen Stil, und auch der Prozess des Songschreibens sollte sich ändern. Ich habe angefangen mit Drumloops und Bassläufen zu arbeiten und statt dazusitzen und mit einer Gitarre oder dem Klavier an Melodien zu tüfteln, habe ich mit dem Groove begonnen. So sind sehr schnell die ersten Songs wie „Silly Really“ und „Stuck Here With Me“ entstanden. Im Jänner 2008 sind wir damit ins Studio gegangen und bei den Aufnahmen haben wir uns immer weiter vom Sound von „Son Of A Plumber“ wegbewegt, obwohl man meine Art Songs zu schreiben immer noch klar erkennt, denn letztlich geht es auch hier wieder vor allem um Melodien.

KW: Die Veränderung war also ein bewusster, vorab geplanter Schritt?

Per Gessle: Absolut. Es ist lustig, ich bin ja jetzt schon dreißig Jahre im Musikgeschäft, und ich glaube, über eine so lange Zeit ist es ein großer Vorteil, wenn man dazu fähig ist, sich zu verändern. Wenn man also zuerst ein Album wie „Son Of A Plumber“ machen kann und danach so etwas wie „Party Crasher“. Wobei ich gerade hier in Schweden dafür sehr stark kritisiert worden bin, weil man meint, dass jemand, wenn er etwas gut kann, am besten auch dabei bleiben sollte. So wie AC/DC – man soll die ganze Zeit über immer exakt gleich klingen. Aber von der Warte eines Songschreibers aus betrachtet, ist das doch sehr langweilig. Du trittst nur noch auf der Stelle und schreibst ein und denselben Song immer und immer wieder. Als Songschreiber ist es für mich entscheidend, dass ich immer wieder eine neue Herausforderung finde.

KW: Man könnte über „Party Crasher“ auch sagen, dass Per Gessle jetzt das vielleicht beste Roxette-Album überhaupt produziert hat, ohne dass der Bandname am Cover steht und Marie Frederiksson als Sängerin mit dabei war.

Per Gessle: (Lacht) Ich verstehe, was Sie meinen. Wenn man „Party Crasher“ mit irgendetwas vergleichen kann, dann muss man zu Roxette zurückgehen. Natürlich gibt es da Ähnlichkeiten, schließlich war ich Songschreiber und Teilzeitsänger der Band. Im Studio sind mir diese Ähnlichkeiten aber gar nicht so sehr bewusst geworden, erst als die fertige Platte gehört habe, dämmerte es. Vor allem im Vergleich mit den letzten Alben von Roxette, wo ich selbst ja immer mehr Gesangsparts übernommen habe.

KW: Belastet Sie es als Künstler, der sich weiter verändern und weiterentwickeln will, nicht manchmal, dass alles Neue, das Sie schaffen, immer mit Ihren früheren Werken verglichen wird?

Per Gessle: Das ist unvermeidlich. Vor allem wenn man mit etwas so viel Erfolg hatte wie ich mit Roxette. In Schweden bin ich heute mit meinen schwedischen Alben als Solokünstler nicht weniger erfolgreich als mit Roxette. Aber im Rest der Welt werde ich vor allem als Teil von Roxette gesehen und immer auch an den alten Hits gemessen. Es bleibt mir nicht erspart, dass es immer einige Leute geben wird, die sagen, 1986 war er aber viel besser! (Amüsiert sich geradezu köstlich) Als Künstler muss ich so etwas aber vergessen und einfach mit meiner Arbeit weitermachen. Wenn ich Songs schreibe, bemühe ich mich, interessiert zu bleiben. Wenn ich im Studio bin, möchte ich die bestmögliche Produktion zustande bringen. Ich will, dass die Songs fantastisch klingen, das ist mein Ziel. Manchmal funktioniert es, manchmal nicht. Aber ich versuche die ganze Zeit über, mein Bestes zu geben.

KW: Versuchen Sie im kreativen Prozess quasi auch zu verdrängen, was Sie zuvor schon geschaffen haben? Ist so ein aktives Vergessen überhaupt möglich?

Per Gessle: (Lacht wieder) Das war einer der Gründe, dass ich ursprünglich nicht den Namen Per Gessle verwendet habe, als wir das Album „Son Of A Plumber“ gemacht haben, das ja auch unter dem Künstlernamen Son Of A Plumber veröffentlicht wurde. Einer meiner Produzentenpartner meinte, wenn ich das Album unter einem anderen Namen mache, könnten wir vortäuschen, dass es sich um ein Debütalbum handelt. Und wenn es sich um Debüt handelt, dann könnten wir auch alle Regeln brechen. Zum Beispiel auch gleich ein Doppelalbum zu machen, was wir dann auch getan haben. „Son Of A Plumber“ war eigentlich ein Debütalbum von einem neuen Künstler namens Son Of A Plumber. Daher musste ich die neuen Songs beim Schreiben und den Aufnahmen auch nicht mit „The Look“ oder „Listen To Your Heart“ vergleichen. Das war wirklich befreiend. Natürlich kann man das nicht die ganze Zeit über machen, und es ist überhaupt nur ganz schwer möglich, aber ich versuche immer soweit wie möglich zu vergessen, was ich schon alles gemacht habe.

KW: Wie war nun Ihr Ansatz beim Schreiben der Songs für den neuen Longplayer?

Per Gessle: Ich wollte eine topmoderne Platte machen, die Produktion sollte voll auf der Höhe der Zeit sein. Dieser moderne Sound war auch die besondere Herausforderung für meine beiden Produzentenkollegen Clarence und Christoffer. Clarence ist ja schon seit dem ersten Album von Roxette an meiner Seite und Christoffer seit den 1990ern, aber keiner der beiden hat vor „Party Crasher“ je eine richtige Dance-Platte aufge-nommen. Eine Produktion wie „Stuck Here With Me“ klingt in meinen Ohren jedenfalls total modern und voll nach dem Jahr 2009. Es hat uns Spaß gemacht, im Studio herumzuprobieren und so zu tun, als wären wir wieder 25 Jahre alt.

KW: Sie arbeiten nicht nur mit den Produzenten Clarence Öfwerman und Christoffer Lundqvist schon sehr lange zusammen, auch die Sängerin Helena Josefsson kennen wir schon vom Album „Son Of A Plumber“. Sind Sie, obwohl jetzt offiziell ein Solokünstler, nicht doch lieber ein Teamspieler?

Per Gessle: Ich mag das so. Egal, in welchen Bereich meines Lebens man schaut, ich bin einfach ein Typ für lang andauernde Beziehungen, auch im Privaten. Mit meiner Plattenfirma EMI arbeite ich seit 1979 zusammen, mit meinem Finanzmanager seit 1980, mit meinem künstlerischen Manager seit 1986, und mit meiner Frau bin ich schon seit 1984 verheiratet. Marie Fredriksson habe ich auch schon lange vor Roxette in den 1970ern kennengelernt. Vielleicht ist ja gerade das Gute an mir, dass ich das Talent habe, genau jene Leute zu finden, mit denen eine lange Zusammenarbeit klappt. Clarence und Christoffer machen ja auch Produktionen mit anderen Musikern, und da sind oft Sachen darunter, die ich überhaupt nicht gut finde, jedenfalls sind sie nicht nach meinem Geschmack. Aber wir bringen gegenseitig beim Anderen etwas Gutes zum Vorschein, und das ist für jede Beziehung, auch im privaten Bereich, etwas Entscheidendes. Ich brauche Leute, die mich ein bisschen besser machen, als ich es eigentlich bin, und umgekehrt kann ich das auch bei anderen Leuten bewirken. Und wenn es funktioniert, gewinnt jeder.

KW: Das mag in der heutigen schnelllebigen Zeit für viele altmodisch wirken, für mich klingt es nur gut und vernünftig.

Per Gessle: Es ist altmodisch. Heute ist es ja so, dass an jedem neuen Album eine ganze Reihe von Produzenten und Songschreibern arbeitet. Und für das nächste Album muss gleich wieder das gesamte Team ausgewechselt werden. Die Musikindustrie ist eine unbeständige, unstete Branche geworden. Es wieder so wie in den 1950ern, in der Zeit bevor man ganze Alben aufzunehmen begann, und es nur um einzelne Songs ging, die Hits werden sollten, und alles nur ein einziger hektischer Mischmasch war. Aber mir geht es um Langlebigkeit und Ausdauer, um eine kontinuierliche Entwicklung. Darum freue ich mich jetzt auch auf meine Tournee, weil ich mit diesen Leuten einfach gerne zusammen bin. Wir haben schon so viel Spaß, wenn wir im Studio arbeiten. Jeder genießt es, wenn wir zusammen sind. Es ist ein Riesenglück, dass das so ist.

KW: Helena Josefssons starke, soulige Stimme hat auch auf „Party Crasher“ eine tragende Rolle – mitunter fast so wie früher Marie Fredriksson bei Roxette.

Per Gessle: So habe ich das am liebsten. Das ist wie bei Roxette. Als wir in den 1980ern anfingen, war die Grundidee, dass ich die Songs schreibe, und Marie diese Songs singt. Dann haben wir das geändert. Marie hat einige Songs geschrieben, ich habe einige Songs gesungen. Wenn es um Stimmen geht, finde ich es wunderbar, wenn man verschiedene Farben zusammenmischen kann. Einige meiner Lieblingsbands haben mehrere Sänger, so wie die Beatles oder Fleetwood Mac, die vielleicht ein noch besseres Beispiel dafür sind mit den starken Stimmen von Stevie Nicks, Christine McVie und Lindsay Buckingham. Mit verschiedenen Sängern hat man bei den Songs und bei der Produktion viel mehr Möglichkeiten offen. Für „Party Crasher“ war Helena praktisch von Beginn an mit dabei, als ich die Songs ihr, Clarence und Christoffer zum ersten Mal vorgespielt habe. Sie ist nicht nur einmal kurz ins Studio gekommen, um ihren Gesangspart einzusingen. Sie war den ganzen Schaffensprozess über in alles involviert. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum sie gar so viel singt auf der Platte. Es gab ehrlich gesagt sogar einen Punkt, wo ich mir dachte, jetzt singt sie aber schon zu viel. Darum ist sie auch in den letzten Songs, die ich aufgenommen habe, „The Party Pleaser“ und „Gut Feeling“, überhaupt nicht mehr mit dabei. Ich musste da noch schnell einen Kontrapunkt setzen. (Lacht)

KW: Sie sollen in letzter Minute auch noch einige Songs auf dem fast fertigen Album ausgetauscht haben. Warum das? Ein unstillbarer Hang zum Perfektionismus?

Per Gessle: Das Album war mir plötzlich zu langsam vom Tempo her, es waren zu viele Balladen, die sich alle aus den anfänglichen Grooves heraus entwickelt hatten. Ich habe also einige langsamere Songs heruntergenommen und noch „The Party Pleaser“ und „Gut Feeling“ geschrieben, um mehr Tempo und Energie hineinzupacken. Vielleicht ist das auch nur eine Geschmacksfrage, aber es ist auch kein unüblicher Prozess, wenn man eine Platte macht. Man versucht immer bis zum Schluss, die richtige Temperatur hinzubekommen.

KW: Und beim Schreiben einzelner Songs, wie arbeiten Sie da?

Per Gessle: Anders als die meisten in der Pop-Branche heute. Es gibt heute ja kaum noch Songschreiber, die alleine arbeiten. Bei den Britney Spears und Kelly Clarksons dieser Welt sind ja große Songschreiberteams am Werk. Wenn man in diesem Stil arbeitet, muss zwangsläufig jede Persönlichkeit verloren gehen. So etwas funktioniert für mich nicht. Man fühlt doch selbst am besten im Bauch, wenn ein Song gut ist. Ich habe so viele Ideen für Songs herumschwirren, ob auf Papier oder auf Aufnahmegeräten, an denen ich immer wieder einmal arbeite und dann wieder liegen lasse, weil nichts Gutes herauskommen will. Und ein anderes Mal wird plötzlich etwas daraus. Obwohl ich schon zugeben muss, dass ich früher praktisch die ganze Zeit über neue Songs geschrieben habe. Heute schreibe ich eigentlich nur noch, wenn ich an einem neuen Projekt arbeite. Als bei „Party Crasher“ klar war, dass die Ausgangsbasis die Grooves sein sollen, habe ich ziemlich schnell 16, 17 neue Songs geschrieben, von denen wir die meisten auch aufgenommen haben. Seit dem letzten Sommer habe ich aber noch kein einziges neues Lied gemacht.

KW: Ihre Musikerkarriere läuft jetzt schon an die dreißig Jahre. Sie selbst sind im Jänner fünfzig Jahre alt geworden. Welche Zwischenbilanz können Sie  ziehen? Von außen betrachtet sieht man ein zufriedenes, erfülltes Leben und einen überhaupt nicht abgehobenen, stark verwurzelten Menschen und Musiker. Täuscht dieser Eindruck?

Per Gessle: Ich hatte sehr viel Glück in meiner Karriere, es ist alles wunderbar gelaufen, und ich versuche daher bescheiden zu bleiben. Ich nehme auch nicht alles als garantiert hin für die Zukunft. Ich bin einfach stolz auf meinen Katalog an Songs aus all den Jahren. Überall auf der Welt gibt es Leute, die sich immer noch „It Must Have Been Love“ und „Listen To Your Heart“ anhören oder welches meiner Lieder auch immer. Ich denke da aber nicht zu viel darüber nach, ich möchte meine Arbeit weiterführen, ich will nicht an der Vergangenheit festkleben. Ich habe auch schon wieder neue Pläne für die Zeit nach der kommenden Tournee, die jetzt im April startet.

KW: Wie wird die Tournee laufen?

Per Gessle: Es wird eine kleine Club-Tournee, wir beginnen am 16. April in Finnland und spielen Konzerte in 14 europäischen Städten. Ich habe mir diese Tournee quasi selbst zum 50. Geburtstag geschenkt. Passend zum neuen internationalen Album „Party Crasher“ möchte ich die größten Hits unter meinen englischsprachigen Songs spielen. Ich werde daher auch viele Songs von Roxette bringen, aber auch Stücke von den Soloplatten „Son Of A Plumber“, „The World According To Gessle“ und natürlich „Party Crasher“. Es gibt ja viele  Songs wie „Listen To Your Heart“, die ich bei Roxette für Marie geschrieben und bis jetzt noch nie gesungen habe, jedenfalls nicht auf der Bühne und meist überhaupt nur auf den ersten Demobändern. Jetzt werde ich sie endlich einmal selbst live singen, und es wird eine gitarrengetriebene Powerpopshow werden mit vielen guten alten und neuen Stücken.

KW: Hat es für Sie in all den Jahren eine echte Alternative zum Musikerdasein gegeben?

Per Gessle: Nein. (Lacht) Wenn ich dazu gezwungen gewesen wäre, hätte es mich schon irgendwo hin verschlagen. Aber einen richtigen Plan B hat es nie gegeben. Ich hatte meinen ersten Hit im Frühjahr 1980, als ich gerade 21 Jahre alt geworden bin. Dann haben wir [mit seiner ersten Band Gyllene Tider] unser erstes Album veröffentlicht, das ein großer Erfolg wurde, und wir sind gleich auf Tournee gegangen und haben über 130 Konzerte gespielt in einem Jahr. Und so ist es weiter gelaufen, es gab für mich daher nie einen Grund, mir eine Alternative zu überlegen oder irgendetwas zu verändern. Ich konnte machen, was ich am meisten liebe. Mein Vater war von Beruf ja Installateur, daher auch der Name „Son Of A Plumber“. (Lacht) Ich selbst wollte als Schüler gerne Architekt werden und habe auch zu studieren begonnen, aber es nie zu Ende gebracht. Ich habe also gar keinen richtigen Beruf erlernt.

KW: Würden Sie heute, wenn Sie noch einmal zwanzig Jahre jung wären, wieder Musiker werden? In einer Zeit, in der die Musikindustrie zusammenkracht, und man als Musiker sich seinen Lebensunterhalt noch viel schwerer verdienen muss als früher, als es noch nicht die Möglichkeit gab, im Internet jedes Musikstück herunter zu laden, ohne dafür die Plattenfirmen und Musiker bezahlen zu müssen.

Per Gessle: Nein, ich glaube nicht. Heute ist Pop- oder Rockmusik für einen 20-Jährigen auch gar nicht mehr so interessant und lebensnotwendig, wie sie es damals für mich war. Ich sehe das ja bei meinem 11-jährigen Sohn. Wenn ich seine musikalischen Ambitionen und seinen musikalischen Geschmack mit mir als 11-Jährigem vergleiche, dann sind das zwei verschiedene Welten. Heute haben die Kids so viele verschiedene Möglichkeiten, um Spaß zu haben, vom Computer und der Playstation bis was auch immer. Für mich gab es nur die Musik und nur die Musik allein. Ich habe mein ganzes Leben mit der Musik identifiziert. Ich brauchte die Musik, wenn ich glücklich war, und ich brauchte sie, wenn ich traurig war. Wenn ich mich verliebt habe und auch wieder, wenn eine Liebe zerbrochen ist. Die Musik war immer da für mich. Aber die Leute halten das heute nicht mehr so. Das ist nicht unbedingt etwas Schlechtes, die Zeiten haben sich nur stark verändert. Vielleicht würde ich heute als 20-Jähriger auch viel lieber etwas Kreatives mit dem Computer machen als Musiker zu werden.

Per Gessle Party Crasher, EMI, 2009

(Veröffentlicht in: now! ° 77, April 2009, komplett überarbeitet im Jänner 2020)

Jochen Distelmeyer: „Songs From The Bottom Vol. 1” (Four Music, 2016)

jochen-distelmeyer-cover-songs-from-the-bottom-vol-1

Lieblingsplatten 2016 #3: Jochen Distelmeyer Songs From The Bottom Vol. 1

Blumfeld? Also diese eine, ganz spezielle Hamburger Indie-Rockband um den Sänger und Songschreiber Jochen Distelmeyer habe ich, anders als der bei sonstigen Hamburger Schule und unhörbarem bundesdeutschen Diskurs-Rock Marke Tocotronic, gemocht und sehr gerne und oft gehört. Nicht unbedingt die ersten sperrigeren, noch kopflastigeren Alben der frühen 1990er-Jahre, auf denen deutschsprachige Dichter-Texte und angestrengtes, anstrengendes Denken für meinen Geschmack die Musik zu sehr übertrumpften. Andererseits, was soll man von einer Band, die sich nach einer literarischen Figur von Franz Kafka benannte, denn erwarten?

jochen-distelmyer-innersleeve-pic-sven-sindtUmso öfter waren in meinem Stereo dafür nachfolgende Alben wie Old Nobody (1999) oder Testament der Angst (2001) im Einsatz, wo Distelmeyer und Blumfeld mit wiedererkennbaren, poppigeren Melodien und Arrangements und gefühligeren, wohl auch Udo-Jürgens-würdigen Lyrics aufwarteten und mit wunderschönen, bewegenden Liedern wie „Tausend Tränen tief“, „Graue Wolken“ oder „Wellen der Liebe“. Wofür sie von den üblichen Verdächtigen, also obergescheiten Diskurs-Rock-Musikmedien, über die Jahre zunehmend genüsslicher verrissen wurden. Die letzten Blumfeld-Platten nach der 2003er LP Jenseits von Jedem habe ich schließlich genauso überhört wie Distelmeyers erstes Soloalbum Heavy, das er 2009 veröffentlichte, nachdem sich Blumfeld zwei Jahre zuvor getrennt hatten. Auch seinen ersten Roman Otis, 2015 erschienen, habe ich noch nicht ausgelesen, obwohl ich wirklich viel lese, und nicht nur Zeitschriften, sondern auch Bücher, also den echten, wahren Stoff. Mit Jochen Distelmeyers vor kurzem veröffentlichter zweiter Soloplatte Songs From The Bottom Vol. 1 sind Distelmeyer und ich uns quasi wieder über den Weg gelaufen und dabei ganz schön nahe gekommen.

jochen-distelmeyer-cover-songs-from-the-bottom-vol-1-backDer bis jetzt eigentlich immer in deutscher Sprache brillierende Jochen Distelmeyer singt auf Songs From The Bottom Vol. 1 alles in Englisch, mit seiner irgendwie immer stoisch ungerührten, aber zugleich sehr berührenden, unterkühlt leidenschaftlichen Stimme, allein zur Gitarrenbegleitung und ein wenig Orgel und Klavier, einen höchst obskuren, aber doch wunderbar stimmigen Mix von Coverversionen. Neben Pop-Hits wie „Video Games“ von Lana Del Rey, „I Could Be The One“ von Avici oder „Toxic“ von Britney Spears, schenkt er seine Stimme so unterschiedlichen Stücken wie „On The Avenue“ (Aztec Camera), „Pyramid Song“ (Radiohead), „Turn Turn Turn“ (The Byrds), „Just Like This Rain“ (Joni Mitchel), „This Old Road“ (Kris Kristofferson), „Beautiful Cosmos“ (Ivor Cutler) oder „Bitter Sweet Symphony“ von The Verve. Brillant sind sie alle. Meine momentanen Favoriten: Al Greens hymnischer 1970er-Soul-Klassiker „Let’s Stay Together“ und „I Read A Lot“, genau, von der britischen Pubrock-, Punk- und New Wave-Legende Nick Lowe, einem Songschreiber, Musiker und Produzenten (Elvis Costello) allererster Güte.

Die Songs From The Bottom Vol. 1 verdanken ihre Entstehung Jochen Distelmeyers Lese-Tournee  für Otis, wo er zwischendurch immer wieder mal einige dieser Lieder anstimmte, die er beim Schreiben des Romans hörte, oder die für ihn mit der dem Buch zugrunde liegenden Odyssee-Thematik zu tun haben. Am Ende der Lesungen wurde Distelmeyer von Fans oft darauf angesprochen, ob er diese Songs denn schon veröffentlicht hätte. Hatte er nicht. Jetzt hat er. Und das ist gut so. Da diese faszinierende Liedersammlung Songs From The Bottom Vol. 1 betitelt ist, darf man auf eine Fortsetzung hoffen. Ich jedenfalls würde die Songs From The Bottom Vol. 2 herzlich begrüßen, am besten bald. Jochen Distelmeyers Songs From The Bottom Vol. 1 eine so überraschende wie beglückende Offenbarung.

Jochen Distelmeyer, Songs From The Bottom Vol. 1, Four Music, 2016

My records of the year: Meine 44 Lieblingsplatten 2016

popincourt-cover-a-new-dimension-to-modern-lovefrench-boutik-cover-front-pop-lpjochen-distelmeyer-cover-songs-from-the-bottom-vol-1udo-lindenberg-cover-staerker-als-die-zeitthe-rolling-stones-cover-blue-and-lonesomedexys-cover-let-the-record-show-frontmarius-mueller-westernhagen-cover-mtv-unpluggedbruce-springsteen-cover-live-boston-2016the-beatles-cover-live-at-the-hollywood-bowl

Also, jetzt mal doch wieder eine richtige Alben des Jahres-Liste, mache ich gern in diesem Seuchen-Jahr, in dem die Musik aber richtig gut war. Ausnahmsweise mal wieder mit – höchst subjektiver! – Reihung. Meine fünf Lieblingsplatten 2016 sind diese dreizehn. Die weiteren einunddreißig Nennungen sind alphabetisch gelistet.

  1. PopincourtA New Dimension to Modern Love

From Paris with Love: Keine Platte vermochte mich 2016 mehr zu berühren, mehr zu begeistern als das Debütalbum der Pariser Pop-Combo Popincourt mit einem unglaublich bezaubernden Mix aus Blue Note Jazz, Sixties Beat und britischem 1980er Indie-Pop. Mastermind, Sänger, Songschreiber und Multiinstrumentalist Olivier Popincourt  singt seine beseelten, wohltuenden, wunderhübsch melodiösen Songs wie „The First Flower of Spring“, „The Things That Last“ oder das funkelnde Titellied mit einem wunderbaren Schmelz in der Stimme, und seine Lyrics in Englisch, mit einem leichten, sehr charmanten französischen Akzent, dass einem das Herz  übergeht.

  1. French BoutikFront Pop

The new French Beat from Paris: Wer Ja zu Popincourt sagt, sollte auch nicht Nein zu French Boutik sagen. Eine hinreißende Combo, die nicht nur dem Beat, Soul und Mod-Feeling  der 1960er huldigt, sondern auch dem Spirit des Punk und der New Wave der 1970er und 1980er.  Wie Popincourt zelebrieren auch French Boutik eine sympathische, an Paul Wellers 1980er Band The Style Council erinnernde, pro-europäische Internationalität. Sie singen meist in Französisch und covern erfrischend fetzig Françoise Hardys „Je Ne Suis La Pour Personne“, haben aber auch famose eigene Songs wie „Le Mac“ oder „Costard Italien“ oder die englisch gesungenen „Hitch A Ride“ und „The Rent“. Sängerin Gabriela Giacoman gastiert bei Popincourt, Olivier Popincourt bei French Boutik an der Hammond Orgel. Absolutely French!

  1. Jochen DistelmeyerSongs From The Bottom Vol. 1

Der frühere Sänger und Songschreiber der Hamburger Indierock-Combo Blumfeld singt auf „Songs From The Bottom Vol. 1“ statt Deutsch nun alles in Englisch, mit seiner irgendwie immer stoisch ungerührten, aber dann doch anrührenden Stimme, allein zur Gitarrenbegleitung und ein wenig Orgel und Klavier. Ein höchst obskurer, aber doch wunderbar stimmiger Coverversionen-Cocktail. Mit grandios interpretierten Songs von Lana Del Rey, Britney Spears, Nick Lowe, The Verve, The Byrds, Joni Mitchell oder Al Green. Eine so überraschende wie beglückende Offenbarung.

  1. DexysLet the Record Show: Dexys Do Irish and Country Soul

Kevin Rowland arbeitet weiter an seiner Vision der Dexys. Top gestylt, mit trefflich ausgewählten, top instrumentierten, von Rowland fantastisch gut gesungenen Coverversionen wunderbar melodiöser und hochemotionaler älterer Songs, die nicht immer irisch oder Country sind, sondern einfach Pop. Zu einigen gibt es brillante, durchgestylte Videos, wie man sie schon lange nicht mehr gesehen hat.

  1. Udo LindenbergStärker als die Zeit

Drei in einer Reihe: Nach den supersupernen Alben Stark Wie Zwei (2008) und MTV Unplugged (2013) setzt Dr. Feeel Good die allerbeste Zeit seiner Karriere ungebremst fort, stärker und besser denn je. Was für eine coole Socke!

  1. The Rolling StonesBlue & Lonesome

Reif fürs Altersheim? In Würde altern? Wiederbelebt? Ihr bestes Album seit Jahren? Geschenkt. Die Rolling Stones spielen doch seit Jahren in prächtiger Kondition kraftvolle Konzerte mit ihren größten Hits. Diese zwölf hochoktanigen Coverversionen alter Bluessongs, die sie in drei Tagen in einem Londoner Studio aufgenommen haben, sind so elektrisierend, scharf und relevant wie nur was.

  1. Michael KiwanukaLove and Hate

Beyoncè? Kanye West? Rihanna? Drake? Alle nicht meine Tasse Tee. Meine liebsten Rhythm & Blues- und Soul-Longplayer des Jahres sind zum einen die strictly old school Scheiben der viel zu früh verstorbenen Sharon Jones und von Charles Bradley. Zum anderen Michael Kiwanukas zweites Album, das noch mal um Klassen besser ist als sein über Gebühr gelobtes 2012er Debütalbum Home Again. Kiwanuka mixt Otis Redding, Jimi Hendrix, Marvin Gaye und auch Pink Floyd zu seinem eigenständigen, zeitgemäßen, modernen Soul.

  1. Leonard CohenYou Want it Darker

Zu viele Tote in diesem Musikjahr, aber sind es das nicht immer, und werden es leider nicht immer mehr? Anders als im Fall von David Bowies Blackstar, das ich 2016 kaum mal hören wollte bzw. einfach nicht hören konnte, geht es mir mit Leonard Cohens finalem Album besser, ich höre es gern und oft, als Feier seiner Poesie und seines erfüllten Lebens.

  1. Ben WattFever Dream

Auf seinem dritten Soloalbum, dem zweiten kurz aufeinanderfolgenden, verzaubert der Ex-Everything But The Girl-Musiker erneut mit seinen tief berührenden, empfindsamen Folkrock-Songs, die das Wunder bewirken, sich in durchgeknallten, horriblen Zeiten wie den unseren, Momente lang wieder wie ein richtiger Mensch zu fühlen. Eine guttuende Atempause in der allgegenwärtigen zerstörerischen Beschleunigung.

  1. Mathilde Santing Both Sides Now: Matilde Santing Sings Joni Mitchell

Ehrlich, ohne Twitter hätte ich wohl das superbe neue Album dieser wunderbaren holländischen Sängerin verpasst, die ich seit ihrer 1982er Debüt-EP Introducing überaus schätze. Zuletzt von meinem persönlichen Radar verschwunden, zelebriert Mathilde Santing hier zwölf der größten Songs von Joni Mitchell, live aufgenommen im North Sea Jazz Club in Amsterdam. Unwiderstehlich schön. Und zurzeit nur via Mathilde Santings Website https://mathildesanting.com erhältlich.

  1. Marius Müller-WesternhagenMTV Unplugged

Wie bei Udo Lindenberg bin ich auch zu Marius Müller-Westernhagen wieder zurückgekehrt durch die neuen faszinanten Schriften von Benjamin von Stuckrad-Barre. MTV Unplugged ist auf vier LPs eine piekfein inszenierte, instrumentierte und gesungene Best-of-Werkschau von hoher Qualität, mit viel Emotion, Seele und großer Wirkung.

  1. The BeatlesLive at the Hollywood Bowl

Schon die Erstauflage dieser hinreißenden Konzertplatte, die 1964 und 1965 bei zwei Konzerten in der legendären Hollywood Bowl in Los Angeles mitgeschnitten wurde, überraschte mit ihrem Mix, der die super Performance der Fab Four vom Beatlemania-Gekreische befreite. Die Neuauflage mit vier Bonustracks setzt noch einmal einen drauf.

  1. Bruce Springsteen and the E Street BandLive at the TD Garden, Boston, MA, February 4th 2016 / Bruce Springsteen – Chapter and Verse

Nie hatten die Songs von Bruce Springsteens grandiosem Doppelalbum The River mehr Wirkung, nie machten sie als Ganzes mehr Sinn, nie klangen sie besser als bei den US-Konzerten der The River-Tournee. In Boston etwa, Anfang Februar 2016, sind der Boss und die E Street Band auf dem Gipfel ihrer Mission angekommen, dokumentiert auf drei unverzichtbaren CDs. Und Chapter and Verse, die erste wirklich geglückte Compilation von Springsteens Schaffen, begleitet seine großartige Autobiografie Born to Run.

 

Nennungen ehrenhalber:

 ABCLexicon of Love II

AirTwentyears

Karl BlauIntroducing Karl Blau

Bon Iver22, A Million

David BowieBlackstar

Charles BradleyChanges

Billy Bragg & Joe HenryShine a Light: Field Recordings from the Great American Railroad

Eric ClaptonI Still Do

David CrosbyLighthouse

Betty DavisThe Columbia Years 1968-1969

DionNew York Is My Home

Bob DylanFallen Angels

The Last Shadow PuppetsEverything You’ve Come to Expect

Mayer HawthorneMan About Town

Norah JonesDay Breaks

Sharon JonesOriginal Motion Picture Soundtrack: Miss Sharon Jones!

The MonkeesGood Times!

Van MorrisonKeep Me Singing

NenaOld School

The PretendersAlone

Nada SurfYou Know Who You Are

Pet Shop BoysSuper

SantanaSantana IV

Paul SimonStranger to Stranger

Kandace SpringsSoul Eyes

Sting57th & 9th

Teenage FanclubHere

WaldeckGran Paradiso

WilcoSchmilco

YelloToy

 

B-Logbook: 20.05.2015: Giorgio Moroder revisited

giorgio_moroder_cover_deja-vuAus gegebenem Anlass, weil der famose Giorgio Moroder gerade beim wie immer peinlich neugierig erregten Markus Lanz („Donna Summer?“, „Stöhnen?“, „80 Orgasmen im Studio vor dem Mikrophon?“) im ZDF lässig herumsympathelt und schöne Schnurren aus seinem langen, höchst erfolgreichen Musikerleben erzählt: Da kommt mir mein Text in diesem Blog vom 24. Mai 2013 wieder in den Sinn. Eine kleine nostalgische Hommage an den jetzt schon 75-jährigen Disco- und Electro-Pop-Pionier und Großmeister,  auf die ich hiermit noch einmal hingewiesen haben möchte.

Meister Moroder tut sich so nonchalant wie souverän den Markus Lanz an und sorgt so für eine wunderbare Fernsehstunde, weil er diesen Juni nach seinem 2013er Gastauftritt bei Daft Punk selbst sein neues Album „Deja-Vu“ mit Gaststimmen wie KylieMinogue, Britney Spears oder Charli XCX veröffentlicht, für das er nach dem Daft-Punk-Abenteuer seinen Ruhestand wohl für länger unterbrach. Soeben hat Giorgio Moroder bei Lanz ausgerechnet „Looky, Looky“, den Song, um den es in meinem Blog-Text geht, angesungen. Schön. „Ich sprenge alle Ketten“ von Ricky Shane stammt übrigens auch von Giorgio Moroder, erzählt er Lanz, und „Mendocino“ von Michael Holm habe er damals auch produziert. Super Typ. Großer Könner vor dem Herrn sowieso. Und weil wir grad in der Matura-Zeit sind: Giovanni Giorgio, den wir seit der Daft-Punk-Platte ja einfach Giorgio nennen dürfen, hat anno dazumal einen Tag vor seinen Maturaprüfungen, sagt er, die Schule geschmissen, um Musiker zu werden. Voll auf Risiko gespielt. Ist aber gut gegangen, Giorgio. Und wie. Respekt.