Mayer Hawthorne: „Ich bin ein Sonderling, aber einer, der viel Spaß hat!“

Talk Show/Interviews 09: Mayer Hawthorne, Soul-Sänger, DJ, Beat-Produzent.

 Mayer Hawthorne startete als HipHop-DJ und Beat-Produzent. Aber mit seinem ersten Album „A Strange Arrangement“  fabrizierte der knapp Dreißigjährige, der wie ein um Jahre jüngerer Computer-Nerd oder Sixties Mod aussieht, ein brillantes, modernes Soul-Album. Der Musiker, der aus Ann Arbor nahe der Motown-Stadt Detroit stammt und heute in Los Angeles lebt, heißt eigentlich Andrew Mayer Cohen. Aber er wollte einen Künstlernamen, mit dem man auch in einem Pornofilm mitspielen könnte, sagt er.

Klaus Winninger: Sie haben als HipHop-DJ und HipHop-Produzent in der Musikszene angefangen, jetzt machen Sie quasi modernen Neo-Soul. Ist Ihnen der HipHop mit all seinen Klischees zu langweilig geworden?

Mayer Hawthorne: Nein, überhaupt nicht. Ich habe mich ja selbst immer bemüht, guten HipHop zu machen. Und Mayer Hawthorne war erst einmal auch nur ein Nebenprojekt für einen Song. Aber dadurch habe ich in Los Angeles Peanut Butter Wolf kennengelernt, den Chef von Stones Throw Records. Er war mehr an meiner Soul-Musik interessiert als an meinen HipHop-Beats. Als ich den Vertrag mit ihm unterschrieben habe, hätte ich nicht daran gedacht, gleich ein ganzes Soul-Album aufzunehmen. Ich wollte weiter HipHop machen.

KW: Aber ist HipHop nicht durch die Bank heute stinklangweilig? Überhaupt nicht mehr innovativ?

Mayer Hawthorne: Was immer man tut, man muss versuchen, dabei innovativ zu bleiben. Auch wenn man klassischen Soul macht.

KW: Auf dem Cover der Promo-CD Ihres Debütalbums A Strange Arrangement sagen Sie: „Es ist alter Soul. Aber es ist neu.“ Können Sie uns diesen Gegensatz erklären?

Mayer Hawthorne: Als ich angefangen habe, an der Platte zu arbeiten, wollte ich, dass sie ein zeitloses, klassisches Feeling hat. Zugleich war es mir wichtig, etwas Neues zu machen. Ich will ja eine neue Generation von Kids damit ansprechen, die nicht mit dem Motown Soul aufgewachsen sind. Und daher ist es wichtig, dass sie fühlen, dass das eine neue zeitgemäße Musik ist, die ihnen etwas zu sagen hat. Dass es ihre Musik ist und nicht die Musik ihrer Eltern. Und weil ich aus einer HipHop-DJ und HipHop-Produzenten-Perspektive heraus an meiner Musik arbeite, gibt es auch eine Menge moderner Einflüsse auf dem Album. Es ist eine Soul-Platte für Leute, die auch HipHop lieben.

KW: Hat es Sie Überwindung gekostet, als Sänger, Songschreiber und Musiker so sehr in den Vordergrund zu treten? Als HipHop-Produzent können Sie ja mehr im Hintergrund agieren.

Mayer Hawthorne: Das war eine große Herausforderung für mich. Ich musste dafür auch total umdenken, auch was mein musikalisches Handwerkszeug und die Art der Produktion anlangt. Auch dass ich jetzt auch singe, ist nicht so leicht für mich. Ich musste dafür ja erst einmal lernen, wie ich meine Stimme als Instrument einsetzen kann. Und ich lerne gerade als Sänger jeden Tag wieder etwas dazu.

KW: Sie spielen auf A Strange Arrangement ja nicht nur die meisten Instrumente selbst, Sie singen neben der Lead-Stimme auch noch die Background Vocals. Warum alles im Alleingang? Sind sie nicht teamtauglich?

Mayer Hawthorne: Wenn ich einen Song schreibe, höre ich üblicherweise schon den ganzen Song in meinem Kopf. Ich höre das Schlagzeug, den Bass, das Klavierpart, die Gesangsharmonien, die Streicher etc. – also ist es für mich am bequemsten, alles gleich selbst zu spielen und zu singen, bevor ich lange einem anderen Musiker erklären muss, wie ich es haben will.

KW: Wie ist es gekommen, dass Sie so ein musikalisches Multitalent sind?

Mayer Hawthorne: Mein Vater spielt Bassgitarre in einer Band in Detroit, auch heute noch. Meine Mutter spielt Klavier. Und die beiden haben mir einiges beigebracht. Ich hatte sogar Schlagzeug- und Klavierunterricht, als ich klein war. Aber ich habe das nicht sonderlich gemocht. Ich habe mir das meiste dann lieber selbst beigebracht und auf den Instrumenten  einfach mal herumprobiert.

KW: Sie sind also in einem total musikbegeisterten Umfeld groß geworden?

Mayer Hawthorne: Klar, bei uns zu Hause haben wir immer irgendwelche Platten angehört. Meine Eltern haben mir viel neue Musik nähergebracht, da hatte ich großes Glück.

KW: Als Sie älter wurden und pubertierten, haben Sie da nicht auch einmal gegen die Musik Ihrer Eltern zu rebellieren begonnen?

Mayer Hawthorne: Das passierte, ja. Als ich Anfang der 1990er auf die High School ging und anfing, HipHop zu hören. LL Cool J, Public Enemy, NWA und Ice Cube. Das war richtig rebellische Musik für mich, das war meine Musik, sie gehörte mir und nicht meinen Eltern. Aber insgeheim habe ich auch die Musik meiner alten Leute weiter gemocht.

KW: Waren Alternative Rock oder Grunge nie ein Thema für Sie? Das ist doch typischer amerikanischer Teenager-Rock-Sound.

Mayer Hawthorne: Ich habe früher auch viel Heavy Metal gehört. Iron Maiden, Ministry und Helmet. Die Smashing Pumpkins sind immer noch eine meiner Lieblingsbands.

KW: Sonderlich beeinflusst hat das Ihre eigene Musik aber nicht, oder?

Mayer Hawthorne: Ich glaube schon, dass man das ein wenig auch auf meinem Album hören kann. Das deutlichste Beispiel ist vielleicht das klagende Gitarrensolo in Green Eyed Love – so  etwas hört man auf einem normalen Soul-Album sicher nicht.

KW: Da Sie auf Strange Arrangements fast alles selbst musizieren und singen, ist es umso rätselhafter, dass Sie sich dafür einen Künstlernamen zugelegt haben. Warum haben Sie die Platte nicht unter Ihrem richtigen Namen Andrew Mayer Cohen veröffentlicht?

Mayer Hawthorne: Als ich angefangen habe, die ersten Demos für Mayer Hawthorne aufzunehmen, hab ich das wie gesagt nur so nebenbei gemacht und es als Spaß und Zeitvertreib betrachtet. Es war nichts Wichtiges für mich. Also habe ich mir einen Spaßnamen ausgedacht, mit dem ich auch in einem Pornofilm mitmachen könnte. Mayer ist mein zweiter Vorname und Hawthorne ist die Straße, in der ich aufgewachsen bin. Meine Eltern leben noch dort.

KW: Aus dem Spaß ist inzwischen Ernst geworden. Mayer Hawthorne ist  ein Erfolg. Wie wird es mit ihm weitergehen? Was sind Ihre Pläne für ihn?

Mayer Hawthorne: Stimmt, es ist eine richtige Karriere geworden. Aber ich möchte auch weiter meinen Spaß damit haben. Ich nehme zwar meine Musik sehr ernst, aber mich selbst als Person weit weniger. Wenn ich mit Mayer Hawthorne einmal an einem Punkt ankomme, an dem es mir keinen Spaß mehr macht, dann muss ich etwas anderes anfangen. Momentan schreibe ich aber schon Songs für ein neues Mayer-Hawthorne-Album. Und ich habe auch einige neue Tracks für Snoop Dogg und für Ghostface Killah produziert.

KW: Mayer Hawthorne ist ein Künstlername. Ist der Typ vorne auf der Plattenhülle, diese Mischung aus Computer-Nerd und Sixties-Mod eine Kunstfigur oder echt? Ist das der wahre Andrew Mayer Cohen?

Mayer Hawthorne: (Lacht) Das bin wirklich ich. Ich habe schon in der Schule viel mit Computern gearbeitet und Informatik studiert. Ich bin auch im wahren Leben ein Sonderling. Aber einer, der viel Spaß hat.

(Veröffentlicht in: now! N° 82, November 2009, komplett überarbeitet im April 2020)

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Eli Paperboy Reed: „Come And Get It!”

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Groovy, Baby! Soul-Dynamit! 100% Retro!

Da lässt aber jetzt einer seinen inneren James Brown, Wilson Pickett, Otis Redding raus. Und wie. Auch wenn er ein milchgesichtiger Mittzwanziger aus der Gegend von Boston, USA ist. Vom Auftakt, dem heißen Soul Stomper Young Girl, im Original von Frank Lynch, einem nicht gerade weltberühmten Soul-Sänger aus Eli Paperboy Reeds Heimatstadt Boston, bis zum passend betitelten Explosion, hundertprozentiges Soul-Dynamit, groovt und funkt es auf Come And Get It! ohne Ende.

Stimmt, der nach Lehr- und Wanderjahren in Chicago und im Mississippi Delta heute in Brooklyn lebende Musiker sieht mit seinem bubenhaften Gesicht aus, als wäre er die Unschuld in Person. Früher Sängerknabe vielleicht. Aber auch Weiße können massig Soul in der Stimme haben. Schlag nach bei Steve Winwood, Van Morrison, Rod Stewart, Steve Mariott, Paul Weller und wie die alle heißen.

Stimmt, Eli Paperboy Reeds Sound ist so sehr retro, dass selbst Mayer Hawthornes 2009 Debütalbum wie Soul aus der Zukunft wirkt. Wenn Eli Paperboy Reed seine Stimmbänder strapaziert, erinnert er an alte Soul-Veteranen. Und seine famose, siebenköpfige Band spielt  ihren hochoktanigen Soul so wie früher James Browns Band, Booker T. & The MGs oder heute die Dap-Kings, die Band von Sharon Jones, ohne in den Kurven viel zu bremsen.

Die meisten der zwölf Songs auf Come And Get It! sind funky Hochtempostücke. Selbst die Balladen wie Help Me oder Just Like Me haben Kraft. Schmalzt ein Stück wie Pick A Number mal knieweich, heizt die nächste Nummer gleich wieder voll ein. Produziert hat mit Mike Elizondo, ein vom HipHop kommender Allround-Sound-Designer, auch schon für Eminem, Pink oder Gwen Stefan tätig. Heutiger tönt Come And Get It! deshalb nicht. Muss es auch nicht. Eli Paperboy Reed kann was.

Eli Paperboy Reed Come And Get It! Capitol, 2010

(now! N° 85, April 2010, zuletzt überarbeitet im Jänner 2019)

Mayer Hawthorne: „A Strange Arrangement”

 

 

 

 

 

 

 

Neo oder kein Neo, der Mann hat jedenfalls Soul.

Mayer Hawthorne heißt eigentlich Andrew Mayer Cohen. Er wurde vor knapp 30 Jahren in Ann Arbor, Michigan, geboren, unweit der Motor-Soul-City Detroit. Er sieht aus wie ein Klon aus modischem Sixties-Mod und hornbebrilltem Computer-Nerd. Wenn die Geschichte stimmt, begann er neben seiner Tätigkeit als DJ („DJ Haircut“) und HipHop-Produzent nur so zum Spaß süße kleine Soul-Lieder zu singen. Er spielt dazu alle Instrumente von Bass und Gitarre bis zu den Keyboards selbst, singt zu seiner Leadstimme gleich auch noch die Background Vocals ein und frisiert seinen klassizistischen Neo-Soul mit sanft-modernen Breakbeats auf.

Peanut Butter Wolf, der Boss der gehobenen HipHop-Schmiede Stones Throw Records in Los Angeles, war von dessen Soul-Schmeichler Just Ain’t Gonna Work Out so sehr angetan, dass er ihn gleich als rotfarbene, herzförmige Vinyl-Single veröffentlichte. Und er nahm den smarten Mayer Hawthorne, der jetzt nach L.A. umgezogen sind,  gleich auch für ein komplettes Album unter Vertrag.

Und da ist es auch schon. Ein Glückspaket. Eine wundervolle, unwiderstehliche Packung. Wir hören erstens: Süßeste Soul-Balladen mit einem Schuss Doo-Wop, so zwischen Smokey Robinson, Curtis Mayfield oder Al Green. Und zweitens: Direkt in die Beine und frisch ins Gemüt fahrende Motown-Soul-Stomper. Zu Ersteren gehören das schon erwähnte Just Ain’t Gonna Work Out sowie die in Superzeitlupe schmachtenden Maybe So, Maybe No, I Wish It Would Rain oder Green Eyed Love. Zu den Zweiten: das herrliche Your Easy Lovin’ Ain’t Pleasin’ Nothin’, aber auch die ebenso mitreißenden One Track Mind und Love Is Alright, die in den 1960er Jahren sicher Motown-Gesangsgruppen wie den Temptations oder den Four Tops gut gestanden hätten. Das fetzig groovende aThe Ills klingt überhaupt wie ein verschollener alter Hit von Curtis Mayfield.

Kein Wunder, dass da schnell Vorwürfe bei der Hand sind, Mayer Hawthorne sei nur eine Kopie, kein Original. Jamie Lidell, Duffy und anderen Neo-Soul-Leuten ist es nicht besser ergangen. Aber für eine platte Kopie klingt A Strange Arrangement zu frisch, zu heutig, zu inspiriert. Es macht enorm viel Freude, wenn sich Jungspunde wie Mayer Hawthorne am alten Soul versuchen. Der Mann hat Talent, Geschmack, Stil. Keine große, aber eine charmante, coole Stimme. Und richtig gute Songs. Von wie vielen aktuell angesagten Hitparadenschmarotzern kann man das schon behaupten? Neo oder kein Neo, Mayer Hawthorne hat Soul. Und er weiß was damit anzufangen.

Mayer Hawthorne A Strange Arrangement, Stones Throw Records, 2009

(now! N° 81, Oktober 2009, zuletzt überarbeitet im Dezember 2018)

My records of the year: Meine 44 Lieblingsplatten 2016

popincourt-cover-a-new-dimension-to-modern-lovefrench-boutik-cover-front-pop-lpjochen-distelmeyer-cover-songs-from-the-bottom-vol-1udo-lindenberg-cover-staerker-als-die-zeitthe-rolling-stones-cover-blue-and-lonesomedexys-cover-let-the-record-show-frontmarius-mueller-westernhagen-cover-mtv-unpluggedbruce-springsteen-cover-live-boston-2016the-beatles-cover-live-at-the-hollywood-bowl

Also, jetzt mal doch wieder eine richtige Alben des Jahres-Liste, mache ich gern in diesem Seuchen-Jahr, in dem die Musik aber richtig gut war. Ausnahmsweise mal wieder mit – höchst subjektiver! – Reihung. Meine fünf Lieblingsplatten 2016 sind diese dreizehn. Die weiteren einunddreißig Nennungen sind alphabetisch gelistet.

  1. PopincourtA New Dimension to Modern Love

From Paris with Love: Keine Platte vermochte mich 2016 mehr zu berühren, mehr zu begeistern als das Debütalbum der Pariser Pop-Combo Popincourt mit einem unglaublich bezaubernden Mix aus Blue Note Jazz, Sixties Beat und britischem 1980er Indie-Pop. Mastermind, Sänger, Songschreiber und Multiinstrumentalist Olivier Popincourt  singt seine beseelten, wohltuenden, wunderhübsch melodiösen Songs wie „The First Flower of Spring“, „The Things That Last“ oder das funkelnde Titellied mit einem wunderbaren Schmelz in der Stimme, und seine Lyrics in Englisch, mit einem leichten, sehr charmanten französischen Akzent, dass einem das Herz  übergeht.

  1. French BoutikFront Pop

The new French Beat from Paris: Wer Ja zu Popincourt sagt, sollte auch nicht Nein zu French Boutik sagen. Eine hinreißende Combo, die nicht nur dem Beat, Soul und Mod-Feeling  der 1960er huldigt, sondern auch dem Spirit des Punk und der New Wave der 1970er und 1980er.  Wie Popincourt zelebrieren auch French Boutik eine sympathische, an Paul Wellers 1980er Band The Style Council erinnernde, pro-europäische Internationalität. Sie singen meist in Französisch und covern erfrischend fetzig Françoise Hardys „Je Ne Suis La Pour Personne“, haben aber auch famose eigene Songs wie „Le Mac“ oder „Costard Italien“ oder die englisch gesungenen „Hitch A Ride“ und „The Rent“. Sängerin Gabriela Giacoman gastiert bei Popincourt, Olivier Popincourt bei French Boutik an der Hammond Orgel. Absolutely French!

  1. Jochen DistelmeyerSongs From The Bottom Vol. 1

Der frühere Sänger und Songschreiber der Hamburger Indierock-Combo Blumfeld singt auf „Songs From The Bottom Vol. 1“ statt Deutsch nun alles in Englisch, mit seiner irgendwie immer stoisch ungerührten, aber dann doch anrührenden Stimme, allein zur Gitarrenbegleitung und ein wenig Orgel und Klavier. Ein höchst obskurer, aber doch wunderbar stimmiger Coverversionen-Cocktail. Mit grandios interpretierten Songs von Lana Del Rey, Britney Spears, Nick Lowe, The Verve, The Byrds, Joni Mitchell oder Al Green. Eine so überraschende wie beglückende Offenbarung.

  1. DexysLet the Record Show: Dexys Do Irish and Country Soul

Kevin Rowland arbeitet weiter an seiner Vision der Dexys. Top gestylt, mit trefflich ausgewählten, top instrumentierten, von Rowland fantastisch gut gesungenen Coverversionen wunderbar melodiöser und hochemotionaler älterer Songs, die nicht immer irisch oder Country sind, sondern einfach Pop. Zu einigen gibt es brillante, durchgestylte Videos, wie man sie schon lange nicht mehr gesehen hat.

  1. Udo LindenbergStärker als die Zeit

Drei in einer Reihe: Nach den supersupernen Alben Stark Wie Zwei (2008) und MTV Unplugged (2013) setzt Dr. Feeel Good die allerbeste Zeit seiner Karriere ungebremst fort, stärker und besser denn je. Was für eine coole Socke!

  1. The Rolling StonesBlue & Lonesome

Reif fürs Altersheim? In Würde altern? Wiederbelebt? Ihr bestes Album seit Jahren? Geschenkt. Die Rolling Stones spielen doch seit Jahren in prächtiger Kondition kraftvolle Konzerte mit ihren größten Hits. Diese zwölf hochoktanigen Coverversionen alter Bluessongs, die sie in drei Tagen in einem Londoner Studio aufgenommen haben, sind so elektrisierend, scharf und relevant wie nur was.

  1. Michael KiwanukaLove and Hate

Beyoncè? Kanye West? Rihanna? Drake? Alle nicht meine Tasse Tee. Meine liebsten Rhythm & Blues- und Soul-Longplayer des Jahres sind zum einen die strictly old school Scheiben der viel zu früh verstorbenen Sharon Jones und von Charles Bradley. Zum anderen Michael Kiwanukas zweites Album, das noch mal um Klassen besser ist als sein über Gebühr gelobtes 2012er Debütalbum Home Again. Kiwanuka mixt Otis Redding, Jimi Hendrix, Marvin Gaye und auch Pink Floyd zu seinem eigenständigen, zeitgemäßen, modernen Soul.

  1. Leonard CohenYou Want it Darker

Zu viele Tote in diesem Musikjahr, aber sind es das nicht immer, und werden es leider nicht immer mehr? Anders als im Fall von David Bowies Blackstar, das ich 2016 kaum mal hören wollte bzw. einfach nicht hören konnte, geht es mir mit Leonard Cohens finalem Album besser, ich höre es gern und oft, als Feier seiner Poesie und seines erfüllten Lebens.

  1. Ben WattFever Dream

Auf seinem dritten Soloalbum, dem zweiten kurz aufeinanderfolgenden, verzaubert der Ex-Everything But The Girl-Musiker erneut mit seinen tief berührenden, empfindsamen Folkrock-Songs, die das Wunder bewirken, sich in durchgeknallten, horriblen Zeiten wie den unseren, Momente lang wieder wie ein richtiger Mensch zu fühlen. Eine guttuende Atempause in der allgegenwärtigen zerstörerischen Beschleunigung.

  1. Mathilde Santing Both Sides Now: Matilde Santing Sings Joni Mitchell

Ehrlich, ohne Twitter hätte ich wohl das superbe neue Album dieser wunderbaren holländischen Sängerin verpasst, die ich seit ihrer 1982er Debüt-EP Introducing überaus schätze. Zuletzt von meinem persönlichen Radar verschwunden, zelebriert Mathilde Santing hier zwölf der größten Songs von Joni Mitchell, live aufgenommen im North Sea Jazz Club in Amsterdam. Unwiderstehlich schön. Und zurzeit nur via Mathilde Santings Website https://mathildesanting.com erhältlich.

  1. Marius Müller-WesternhagenMTV Unplugged

Wie bei Udo Lindenberg bin ich auch zu Marius Müller-Westernhagen wieder zurückgekehrt durch die neuen faszinanten Schriften von Benjamin von Stuckrad-Barre. MTV Unplugged ist auf vier LPs eine piekfein inszenierte, instrumentierte und gesungene Best-of-Werkschau von hoher Qualität, mit viel Emotion, Seele und großer Wirkung.

  1. The BeatlesLive at the Hollywood Bowl

Schon die Erstauflage dieser hinreißenden Konzertplatte, die 1964 und 1965 bei zwei Konzerten in der legendären Hollywood Bowl in Los Angeles mitgeschnitten wurde, überraschte mit ihrem Mix, der die super Performance der Fab Four vom Beatlemania-Gekreische befreite. Die Neuauflage mit vier Bonustracks setzt noch einmal einen drauf.

  1. Bruce Springsteen and the E Street BandLive at the TD Garden, Boston, MA, February 4th 2016 / Bruce Springsteen – Chapter and Verse

Nie hatten die Songs von Bruce Springsteens grandiosem Doppelalbum The River mehr Wirkung, nie machten sie als Ganzes mehr Sinn, nie klangen sie besser als bei den US-Konzerten der The River-Tournee. In Boston etwa, Anfang Februar 2016, sind der Boss und die E Street Band auf dem Gipfel ihrer Mission angekommen, dokumentiert auf drei unverzichtbaren CDs. Und Chapter and Verse, die erste wirklich geglückte Compilation von Springsteens Schaffen, begleitet seine großartige Autobiografie Born to Run.

 

Nennungen ehrenhalber:

 ABCLexicon of Love II

AirTwentyears

Karl BlauIntroducing Karl Blau

Bon Iver22, A Million

David BowieBlackstar

Charles BradleyChanges

Billy Bragg & Joe HenryShine a Light: Field Recordings from the Great American Railroad

Eric ClaptonI Still Do

David CrosbyLighthouse

Betty DavisThe Columbia Years 1968-1969

DionNew York Is My Home

Bob DylanFallen Angels

The Last Shadow PuppetsEverything You’ve Come to Expect

Mayer HawthorneMan About Town

Norah JonesDay Breaks

Sharon JonesOriginal Motion Picture Soundtrack: Miss Sharon Jones!

The MonkeesGood Times!

Van MorrisonKeep Me Singing

NenaOld School

The PretendersAlone

Nada SurfYou Know Who You Are

Pet Shop BoysSuper

SantanaSantana IV

Paul SimonStranger to Stranger

Kandace SpringsSoul Eyes

Sting57th & 9th

Teenage FanclubHere

WaldeckGran Paradiso

WilcoSchmilco

YelloToy

 

Ist Lo-Fi das neue Hi-Fi?

mayer_hawthorne_cover_soul_with_a_hole_vol1Hat Lo-Fi Soul? So gerne ich meine liebsten Alben auch auf Vinyl höre, so sehr ich das Hören von Vinylplatten zelebriere und genieße – ein besonderer Klangsnob war ich nie und schon gar kein High-End-Fanatiker. Derart hoch entwickelte Klangdimensionen blieben allein schon pekuniär meist außer Reichweite. Und ich habe mein – wohl auch so des Öfteren überstrapaziertes – Musikbudget eigentlich immer lieber in neue Platten und neue CDs investiert denn in sündteure Anlagen, von der leichtfertigen Akquisition eines Laufwerks von Linn vor vielen Jahren einmal abgesehen. Doch ich schaue mir auf Facebook gern die Bilder von antiken Stereoanlagen und Plattenspielern an, wie sie einschlägige Fachgruppen wie „Audio Classics“, „Som Vintage“ oder die „Analogue Audio Association Austria“ posten. Sind ja auch wirklich schön die Dinger. Und tönen sicher auch famos. Andererseits bin ich mit Berry Gordy, dem legendären Boss der besonders in den 1960ern und 1970ern fantastisch erfolgreichen Detroiter Soulfabrik Motown Records, einer Meinung, dass ein guter Song – gut arrangiert, gut gespielt, gut gesungen, im Studio mit den Mikros entsprechend aufgenommen – auch noch auf dem billigsten tragbaren Plastikradio okay klingt und seine Wirkung hat. Genauso aus Laptoplautsprechern mit absoluter Lo-Fi-Qualität oder stinknormalen Kopfhörern am iPod. Letztlich funktioniert meine Liaison mit der Musik über Platten, über Alben, über Songs.

mayer_hawthorne_soul_with_a_hole_posterSo richtig bewusst gemacht hat mir das dieser Tage wieder Soulmann Mayer Hawthorne mit seinem superben einstündigen Mix „Soul With A Hole Vol.1“, den man via Soundcloud downloaden kann. Mit mageren 160 kBit/s MP3 Datenrate übrigens – wo mir sonst die 256 kBit/s der Kaufdownloads bei iTunes als mickrig erscheinen und ich eigene CDs inzwischen nur noch mit 320 kBit/s für den iPod umwandle, weil ich glaube, dass so alles besser klingt. Aber nicht nur das. Hawthorne hat die 24 köstlichen Sixties Soul Raritäten von „Soul With A Hole“ ausschließlich mit den alten 45er Vinylsingles zusammengemixt, also mitsamt dem Knistern, Knacksen und Grammeln, wie man es eben von abgespielten Vinylplatten gewöhnt ist. Und siehe da. Nichts höre ich zurzeit öfter und lieber als Mayer Hawthornes knisternden, definitiven Lo-Fi-Sound. Egal, ob am Laptop, mit iPod-Kopfhörern oder via iPod-Dock auf der Leider-nein-High-End-Anlage im Wohnzimmer. Für mich geht die Seele der Musik auch in diesem Lo-Fi-Mix nicht verloren. Was dazu wohl Neil Young sagen würde, der gegen den nicht nur von ihm so empfundenen Verlust der Essenz der Musik in MP3s ein neues digitales High-Resolution-Klangsystem namens „Pono“ entwickeln lässt? Ein Downloadservice mit High-End-Qualität, das viel besser sein soll als die MP3-Qualität bei iTunes & Konkurrenten und die Musik digital endlich so wiedergeben soll wie sie im Studio bei den Aufnahmen original geklungen hat. Young will der Musik so ihre Seele zurückgeben. Aber ob Musik Seele hat oder keine, ist nicht nur eine Frage der Soundqualität. Mayer Hawthornes neuer Old School Soulmix und nicht zuletzt auch viele Platten von Neil Young sind ein trefflicher Beweis dafür. Aber was rede ich hier, für die ganz Jungen, die ihre Musik am häufigsten auf Mobil- und Smartphones hören, ist ein iPod vielleicht schon wieder so altmodisch wie eine Hi-Fi-Stereoanlage. Vintage Audio quasi.