Record Collection N° 248: Pet Shop Boys “Release” (Parlophone/ EMI, 2002)

Neil Tennant und Chris Lowe alias Pet Shop Boys sind auf ihrem achten Album Release in brillanter, wenn auch nachdenklicherer, noch melancholischerer Form.

Wenn man dem österreichischen Maler Arnulf Rainer Glauben schenken darf, lügt jeder, der behauptet, das Altwerden wäre irgendwie ja doch schön, oder derjenige sei nicht mehr ganz bei Trost. Neil Tennant, Sänger, Songautor und Pop-Art-Künstler der Pet Shop Boys, ist Jahrgang 1954, und die Ahnung, dass die Mitte seines Lebens schon überschritten sein dürfte, und somit der unbeschwertere, aufregendere Teil seines Lebens hinter ihm liegen könnte, schien ihm anno 2002, als die Pet Shop Boys am 1. April ihr achtes Studioalbum Release veröffentlichten, schon auf der Seele zu lasten. Dass Tennant im Popgeschäft, in der Popmusikszene tätig ist, macht seine Situation und auch die von Keyboarder Chris Lowe, Jahrgang 1959, nicht leichter. Im Pop ist das Jugend-Diktat noch einmal so erdrückend wie im Rest der dem Traum von der ewigen Jugend hinterherhechelnden Gesellschaft.

Aber Neil Tennant war schon Anfang Dreißig, als die Pet Shop Boys ihren ersten Hit Westend Girls kreierten. Und er war bei Veröffentlichung von Release schon ein weithin respektierter, feinsinniger englischer Gentleman und ein Popstar zugleich, und er ist es jetzt mit 68 nach wie vor. Mit Release stellten sich Tennant und Lowe meiner bescheidenen Meinung nach dieser widersprüchlichen Situation mit Bravour. Es gab bei Erscheinen der Platte aber auch durchwachsene Kritiken, vor allem in England ist Release bei vielen Kritikern durchgefallen.

Tennant und Lowe verzichteten bei der Produktion von Release auf Glitzer, Glamour und extravagante Kostüme, und auch auf allzu laut stampfende Disco-Beats. Sie trugen auf Fotos abgewetzte Jeans und Sweater, sie ließen für das Video zur herrlichen Single Home And Dry die Ratten auf Londoner U-Bahn-Gleisen filmen, sie schulterten plakativ Akustikgitarren und transformierten ihre Gedanken, ihre Empfindungen in schwermelancholische, oft betörend melodiöse, fragil instrumentierte Gitarren-Popsongs, in vielen Stücken spielt Johnny Marr (vormals The Smiths) delikate Gitarrenmelodien und -riffs, mit durchwegs zart blubbernden Synthesizern und ebenso weichen elektronischen Beats.

Das Resultat ihrer Kreativität ist so strahlend wie bewegend, so überwältigend schön wie überraschend gefühlsbetont. Die Pet Shop Boys heucheln aber auf Release keine falsche Authentizität, sie offenbaren sich nicht in Tagebuch-Texten, Neil Tennants Songlyrik ist wie immer pointierte, brillante Pop-Poesie, Verse, die man auch ohne Musik mit Genuss lesen kann, aber auch einfach dazu tanzen. So wie Jeans und Sweater nur eine weitere Kostümierung der Pet Shop Boys gewesen sein könnten, so sind auch die Songs von Release mit ausgefuchster Kunstfertigkeit gemacht. Man kann Zeilen wie „I want to live before I die“ (im großartigen London) oder „we all have a dream of a place where we belong” (im versponnenen Home) sowohl im Kontext der feingewobenen Song-Geschichten als auch in Bezug auf die persönlichen emotionalen Befindlichkeiten von Tennant und Lowe  interpretieren, und den hymnischen Chorus von I Get Along als allerbesten Stadionrock-Singalong genießen, aber auch als private Durchhalteparole. Überhaupt sind diese wunderherrlichen Refrains, die berührenden, bittersüßen Herzschmerzmelodien und Neil Tennants zauberhafte Elektronik-Stimme zum Niederknien schön. Man höre sich bloß einmal E-Mail oder You Choose oder auch Here an. Pop als Kunst und vice versa.  

Pet Shop Boys Release, Parlophone/ EMI, 2002

(Erstveröffentlicht in: now! N° 07, April 2002, komplett überarbeitet und dabei quasi neu geschrieben im Oktober 2022)

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Record Collection N° 160: The Killers “Day & Age” (Island Records, 2008)

Zurück in die Zukunft: Als The Killers ihren New-Wave-Disco-Sound in eine neue Dimension beamten.

Vielleicht war die Idee, auf dem zweiten Killers-Album Sam’s Town, den hinreißenden Pop ihres Debütalbums mit Bruce Springsteen, Western-Mythen und staubigem Highway-Rock’n’Roll zu kreuzen, nicht ganz so gut, wie anfangs geglaubt, trotz klasse Hymnen wie When You Were Young oder Read My Mind. Aus der Distanz betrachtet war das 2004 veröffentlichte Debütalbum Hot Fuss doch die bessere Platte, mit stärkeren Songs wie Mr. Brightside und Smile Like You Mean It und einem elektrisierenden Sound zwischen britischem New Wave und Indie-Disco.

Mit dem dritten Album Day & Age machten The Killers einen Schritt zurück und zwei Schritte nach vorn. Es gibt kaum Durchhänger, vom eher zähen Finale, dem an The Cure angelehnten Goodnight, Travel Well, und ein, zwei nicht ganz so tollen Songs mittendrin einmal abgesehen. Mit ihrem Produzenten Stuart Price (Zoot Woman, Madonna), der schon einen Remix von Mr. Brightside für die Band fertigte und auch zwei Songs auf der Raritäten-Kollektion Sawdust produzierte, beamten sie den New-Wave-Disco-Sound ihres Debüts in eine neue Dimension.

Auf Day & Age, ihrem komplettesten Album, glitzert, funkelt, glöckelt und klingelt alles wie in einem riesigen Glücksspielautomaten oder einer gigantischen Musicbox. Schon die ersten drei Songs sind absolute Gewinner: Losing Touch groovt zwischen den Roxy Music der späten 1970er Jahre und den ABC der frühen 1980er. Die glamouröse Hitsingle Human mit der vielbelächelten, aber lässigen Refrainzeile „Are we human or are we dancer”, bekommt man schon nach einmal Hören nicht mehr aus dem System, weil sie sich mit ihrer wehmütigen Disco-Melodie, die die Pet Shop Boys nicht schöner hinbekommen hätten, gleich unlöschbar auf die Festplatte gespeichert hat. Spaceman ist ein lässiger Glamrock-Kracher. Joy Ride reanimiert den weißen Soul-Boy-Funk der 1980er, während A Dustland Fairytale in den Bombast-Rock von Sam’s Town zurückfällt, mit einem spannenden Electro-Pop-Groove allerdings. This Is Your Life hat etwas vom Road To Nowhere-Pop der Talking Heads. I Can’t Stay schwingt die Hüften im Latin-Rhythmus, hat eine richtig hübsche Melodie und ein süffiges Saxophonsolo. Neon Tiger und The World We Live In feuerwerken noch mal lichterloh zwischen Pet Shop Boys, New Order und, ja, Bruce Springsteens Dancing In The Dark. Zusammengehalten wird alles vom gewaltigen, energiegeladenen Sound der Band und Brandon Flowers dramatischem Gesang. Wovon der Mann singt, ist nicht leicht zu sagen, aber er tut es voll Pathos und melancholischem Schmelz. Day & Age ist hundertprozentiger, glamouröser Indie-Pop.

(Erstveröffentlicht als Album des Monats in: now! N° 74, Dezember 2008/Jänner 2009, komplett überarbeitet im November 2020)

The Killers Day & Age, Island Records, 2008

© Day & Age Pics shot by Klaus Winninger

Record Collection N° 151: Kylie Minogue „Body Language” (Parlophone Records, 2003)

Als Kylie Minogue Madonnas Nachfolgerin als Königin des Pop werden wollte.

Als im November 2003 Kylie Minogue ihr neuntes Studioalbum Body Language veröffentliche, war das Pop-Sternchen Kylie längst zur stilsicheren 35-jährigen Pop-Ikone gereift, die sich nicht mehr krampfhaft bemühen musste, cool und glaubwürdig zu wirken, weil sie einfach cool und glaubwürdig war. Und eine würdige Nachfolgerin als Königin des Pop, falls Madonna einmal abtreten wollte, aber die wollte noch nicht. Kylie Minogue war damals aber auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, eine charismatische Entertainerin, die nach harten Lehrjahren genau wusste, wie sie sich mit Hilfe ihrer kreativen Berater optisch und musikalisch ins beste Licht setzen konnte.

Am Beginn der 1990er Jahre entfloh Kylie Minogue dem strengen Korsett der Hitfabrik von Stock, Aitken & Waterman, die sie erfolgreich und berühmt gemacht hatten. In der Folge zog die Popsängerin scheinbar magnetisch die richtigen Ratgeber und Freunde an: INXS-Sänger Michael Hutchence, Nick Cave, die Pet Shop Boys oder Robbie Williams, die sie mit guten Tipps, Songs und zunehmender Glaubwürdigkeit versorgten. Auf zwei reizvollen Alben, Kylie Minogue (1994) und Impossible Princess (1997) Alben, fusionierte Minogue Dance-Underground, Hitparaden-Pop und Indie-Rock. Wichtige Experimente und Erfahrungen, die ihr Comeback mit dem glamourösen Disco-Pop der Alben Light Years (2000) und Fever (2001) mit Mega-Hits wie Spinning Around und Can’t Get You Out Of My Head überhaupt erst ermöglichten. Fever verkaufte über sieben Millionen, umso riskanter Kylie Minogues Entscheidung, für ihr nächstes Album die Erfolgsformel nicht noch einmal kopieren zu wollen.

Einer der Haupteinflüsse für Body Language war Cupid & Psyche 1985, Scritti Polittis allerfeinst souliges Electro-Pop-Album, ein Pop-Meilenstein der 1980er. Minogues eigener neuer Sound war ein subtiler, poppiger, leicht unterkühlter Electro-Soul, der zwar nicht so eingängig war wie ihre letzten Platten, aber nachhaltig fasziniert. Die genial minimalistische Single Slow ist da nur die Spitze des Eisberges. Still Standing, Secret, Promises, Chocolate oder Obsession sind großartige, super funkige Popsongs, die von Kylie Minogue bezaubernd nonchalant gesungen werden. Eine Leichtigkeit, die auch die brillanten Dancefloor-Knaller Sweet Music, Red Blooded Woman und I Feel For You animiert. Für die zartbittere Ballade Someday holte Minogue gar Scritti-Politti-Sänger Green Gartside für einen Gastauftritt aus der Frühpension. Der Song handelt von einer zerbrochenen Liebe, die Wunden sind noch frisch, und die Sängerin schmachtet über einem kühlen Electro-Beat die Lyrics: „I want my records back, to get my heart on track …“  Wie genial ist das. Body Language ist eine von Kylie Minogues besten Platten, eine spannende Symbiose von Mainstream und Underground. Und ihr neuer Look für Body Language, ein rauer Brigitte-Bardot-rockt-Schick , ist auch nicht schlecht.

Kylie Minogue Body Language, Parlophone Records, 2003

(Erstveröffentlicht als Album des Monats in: now! N° 24, Dezember 2003/Jänner 2004, komplett überarbeitet im November 2020)

© Body Language Pics shot by Klaus Winninger

B-logbook: 08.08.2020: Lied des Lebens?

Das Süddeutsche Zeitung Magazin hat 29 Musikerinnen und Musiker gefragt, welche Lieder ihnen am meisten bedeuten. Weil ein Song nur wenige Minuten dauert, aber Leben verändern kann. Die Pet Shop Boys nennen Passion von The Flirts, produziert vom New Yorker Dancefloor-Produzenten Bobby O, der auch die erste Version ihres ersten Hits West End Girls aufgenommen hat. Alanis Morissette Graceland von Paul Simon. Dirk von Lowtzow (Tocotronic) Flexible Flyer von Hüsker Dü. Nicolas Godin (Air) Sign O´ The Time von Prince. Moby Heroes von David Bowie. Rufus Wainwright Sweet Dreams von den Eurythmics. Tina Turner Let’s Stay Together von Al Green. Sven Väth Computerwelt von Kraftwerk. H.P. Baxter (Scooter) Children Of The Revolution von T. Rex. Brian Eno What Goes On von Velvet Underground. Suzanne Vega Suzanne von Leonard Cohen. Der britische Geiger Daniel Hope Message In A Bottle von The Police. Patti Smith 1983 (A Merman I Should Turn To Be) von Jimi Hendrix. Dieter Meier (Yello) All Blues von Miles Davis. Und noch 15 mehr.

Die meisten erzählen auch eine interessante Geschichte dazu. Guter Lesestoff für einen Tag am See. Am Sofa geht auch.

Record Collection N° 51: Tracey Thorn „Record” (Unmade Road/Caroline International, 2018)

Tracey Thorn‘s album Record is a ravishing feminist manifesto for femininity and a brilliant pop record too.

In her column Off The Record in the politically left wing British weekly The New Statesman Tracey Thorn wrote about the female soul singer Sade Adu. She claimed that Sade doesn’t sound like any other female singer. You could maintain the same about Tracey Thorn herself. Her unique and deeply moving vocals have been the greatest asset of Everything But The Girl.

In 1982 Tracey Thorn released her first solo album A Distant Shore, a collection of punky folk rock songs. Also that year she founded the pop duo Everything But The Girl with her boyfriend Ben Watt, a multi-talented musician, singer, songwriter, DJ, novelist and record label owner. Today Watt’s her husband and the father of her three children. They met when both were students at Hull University.

Just like Sade or The Style Council in the mid-1980s Everything But The Girl fascinated a hip young audience with their mix of jazz, soul and pop. In 1994 they scored a worldwide hit with Missing – though in a dance remix from US DJ Todd Terry. But at the end of the 1990s Everything But The Girl quit their successful career, that had endured even a life-threatening illness of Ben Watt. The reason why they stopped was simple: Tracey Thorn had enough of being a pop star. A strong, self-confident woman, since always. An astute person, a strong voice in any case.

Since her temporary retreat into private life Tracey Thorn has written three highly praised autobiographical books: Bedsit Disco Queen (2013), Naked At The Albert Hall (2015) and Another Planet. A Teenager In Suburbia. Besides writing her books, Tracey Thorn recorded three more solo albums. After Out of the Woods (2007) followed Love And Its Opposite (2010) and Tinsel and Lights in 2012, the latter a delicate Christmas album.

For her fifth solo album Record Tracey Thorn returns to the disco. Basses, guitars, keyboards are booming, bubbling, jingling, ringing, tinkling, cheeping, bleeping and sparkling just like they do on electro-pop records from New Order, Daft Punk or The Pet Shop Boys. Tracey Thorn’s voice appears to be even stronger, more compelling, more dynamic, better than ever. The lyrics do have a great literary finesse, you can read them with gusto without the music and they are no way inferior to the powerful melodies, the rousing grooves and her wonderful voice. The lyrics talk about the life of an adult woman, rather more than less autobiographical. They talk, so Thorn, about the crucial milestones in the life of a woman, which usually do not appear in the lyrics of pop songs.

Tracey Thorn characterizes the nine enthralling new songs as “feminist bangers”. In the opener Queen, she kicks off full of hope and she lets her female song persona break out from daily life: „I’m on fire / A head full of desire …“ Even so she confesses at the same time, that also as a fifty-something she doesn’t always know, which way to go – or if maybe everything’s already okay just like it is.

The songs on Record are about the complicated growing up of a nonconformist, not especially girlie-like outsider (Air). About the importance of the guitar for the self-confidence of the teenager girl (Guitar). The songs are about taking the pill every morning to avoid getting babies, and then all of sudden desperately wanting to have babies: „I didn’t want my babies,” she sings in Babies, „until I wanted babies / And when I wanted babies / Nothing else would do but babies / Babies, babies.“ Go, a yearning ballad expresses the feelings a mother has when the grown up children leave their parental home, and she confesses that this is hard to take and that it hurts deeply. In Face, an abandoned woman stalks her Ex awkwardly on the internet.

But in Sister, an over 8 minutes long funky disco stomper, everything’s pro female power and contra misogyny: „I am my mother now / I am my sister / And I fight like a girl.” At the end Thorn’s deadpan humour flashes: the breakout, the new start the singer imagines in Queen at the beginning of Record ends finally in the disco on the dancefloor: „Where I’d like to be / Is on a dancefloor with some drinks inside of me”.

Each of Tracey Thorn’s solo records so far has been good. But Record is her strongest, best, most important solo album to date.

Tracey Thorn Record, Unmade Road/Caroline International, 2018

Tracey Thorn: „Record”

Turntable / Plattenspieler N° 19: Tracey Thorns „Record” ist ein hinreißendes feministisches Manifest für die Weiblichkeit.

Tracey Thorn hat über die englische Soul-Sängerin Sade Adu in ihrer immer lesenswerten Kolumne Off The Record im englischen Politwochenblatt New Statesman geschrieben, Sade würde wie keine andere Sängerin klingen. Das kann man auch von Tracey Thorn behaupten. Ihr einzigartiger, tief berührender Gesang war wohl der größte Trumpf, den Everything But The Girl ausspielen konnten.

Tracey Thorn gründete das Pop-Duo Everything But The Girl 1982 mit ihrem Lebenspartner Ben Watts, einem Musiker, Sänger, Songschreiber, DJ, Romanautor; heute ihr Ehemann und Vater ihrer drei Kinder. Die beiden lernten sich als Studenten an der Uni in Hull kennen. 1982 erschien auch Thorns erste Soloplatte A Distant Shore, mit punky Folkrockliedern. Wie auch Sade oder The Style Council faszinierten Everything But The Girl in den 1980ern ein hippes, junges Publikum mit ihrer Mischung aus Jazz, Soul und Pop. 1994 landeten Tracey Thorn und Ben Watt mit dem Song „Missing“ einen Welthit – in einer tanzbaren Remix-Version von Todd Terry.

Ende der 1990er beendeten Everything But The Girl aber ihre erfolgreiche Karriere, die selbst eine lebensbedrohliche Erkrankung von Ben Watt verkraftet hatte. Der Grund für das Aus: Tracey Thorn wollte nicht mehr. Punkt. Starke, selbstbewusste, kluge Frau, immer schon. Kluger Kopf, starke Stimme sowieso.

Seit ihrem vorübergehenden Rückzug ins Privatleben hat Tracey Thorn mit Bedsit Disco Queen und Naked At The Albert Hall zwei vielgelobte, höchst lesenswerte autobiografische Bücher geschrieben; ein drittes erscheint im Frühjahr 2019. Und sie hat drei weitere Soloalben aufgenommen. Auf Out of the Woods (2007) folgten Love and Its Opposite (2010) und Tinsel and Lights (2012), eine Weihnachtsplatte der besonderen Art.

Auf ihrem fünften Soloalbum Record kehrt Tracey Thorn 2018 rein musikalisch in die Disco zurück. Die Bässe, Gitarren und Keyboards wummern, blubbern, klingeln, klimpern, glitzern wie bei New Order, Daft Punk, den Pet Shop Boys. Ihre Singstimme wirkt noch stärker, überzeugender, energiegeladener, besser denn je. Ihre Songtexte haben große literarische Finesse, man kann sie mit Genuss auch lesen, und sie stehen den starken Melodien, den mitreißenden Grooves, ihrer wundervollen Stimme nicht nach. Verhandelt wird das erwachsene Frauenleben, eher mehr als weniger autobiografisch. Es geht, so Tracey Thorn selbst erklärend, um die Meilensteine im Leben einer Frau, die für gewöhnlich nicht in Popsongtexten vorkommen.

Gleich in Queen, dem ersten der packenden neun Songs, die sie selbst als „feminist bangers“ charakterisiert, legt Tracey Thorn hoffnungsvoll los und lässt ihr Song-Ich quasi aus dem Alltag ausbrechen: „I’m on fire / A head full of desire …“ Auch wenn sie zugleich eingesteht, auch als Überfünfzigjährige nicht immer zu wissen, wo’s lang geht und ob vielleicht eh alles so passt, wie’s grad ist. Es geht um das schwierige Aufwachsen als unangepasste, nicht besonders girlie-hafte Außenseiterin (Air), und um die Wichtigkeit einer Gitarre für das Teenagergirl-Selbstbewusstsein (Guitar). Es geht darum, jeden Morgen die Pille zu nehmen, um nur ja keine Kinder zu kriegen, dann aber doch plötzlich unbedingt Kinder zu wollen: „I didn’t want my babies,” singt die Sängerin in Babies, „until I wanted babies / And when I wanted babies / Nothing else would do but babies / Babies, babies.“ Und es geht in der sehnsuchtsvollen Ballade Go um Gefühle des Loslassenmüssens, wenn die erwachsen gewordenen Kinder das Elternhaus verlassen und das einem schwer fällt und weh tut. Während in Face noch eine Verlassene ihrem Ex enttäuscht im Internet hinterher surft, dreht sich in Sister, einem über acht Minuten langen funky Disco-Stomper, alles um Frauenpower, gegen Frauenfeindlichkeit über Generationen hinweg: „I am my mother now / I am my sister / And I fight like a girl.” Aber am Schluss lässt Tracey Thorn noch ihren trockenen Humor aufblitzen. Der in Queen angekündigte Auf- und Ausbruch endet letztlich in der Disco am Dancefloor: „Where I’d like to be / Is on a dancefloor with some drinks inside of me.”

Tracey Thorns Soloalben waren alle gut. Aber Record ist vielleicht ihre bisher stärkste, beste, wichtigste Platte.

Tracey Thorn Record, Unmade Road/Caroline International, 2018

Re-vo-lu-tion: 25 LPs, die 2016 auf dem Plattenspieler rotierten

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Vinyl keeps on keeping on. 2016 habe ich erneut mehr Musik auf Vinyl gehört als im Jahr davor. Es gingen sich nicht alle interessanten Novitäten auf LP aus, die meisten allerliebsten Lieblingsplatten 2016 aber schon. Popincourt und Dexys, French Boutik, Jane Birkin & Serge Gainsbourg und die Rolling Stones, Jochen Distelmeyer, Udo Lindenberg und Marius Müller-Westernhagen, Ben Watt und Bob Dylan, sie alle drehten sich 2016 oft auf meinem Plattenspieler.

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  1. Popincourt A New Dimension to Modern Love (2016)
  2. French Boutik Front Pop (2016)
  3. Jane Birkin & Serge Gainsbourg Jane Birkin & Serge Gainsbourg (1969)
  4. Jochen Distelmeyer Songs From The Bottom Vol.1 (2016)
  5. Dexys Let the Record Show: Dexys Do Irish and Country Soul (2016)
  6. Udo Lindenberg Stärker als die Zeit (2016)
  7. The Rolling Stones Blue & Lonesome (2016)
  8. Ben Watt Fever Dream (2016)
  9. Marius Müller-Westernhagen MTV Unplugged (2016)
  10. Marius Müller-Westernhagen Hottentottenmusik (2011)
  11. David Bowie Changesbowie (1990)
  12. ABC Labour of Love II (2016)
  13. The Last Shadow Puppets Everything You’ve Come To Expect (2016)
  14. Otis Redding Lonely & Blue (2013)
  15. Bob Dylan Fallen Angels (2016)
  16. Neil Young Harvest Moon (1992)
  17. Karl Blau Introducing (2016)
  18. Norah Jones Come Away With Me (2004)
  19. Ray LaMontagne Supernova (2014)
  20. Nada Surf You Know Who You Are (2016)
  21. Pet Shop Boys Super (2016)
  22. Charles Bradley Changes (2016)
  23. Aretha Franklin Aretha’s Gold (1969)
  24. Various Artists Guardians Of The Galaxy Awesome Mix Vol.1 (Original Soundtrack, 2014)
  25. Various Artists Trojan Beatles Reggae (2015)

My records of the year: Meine 44 Lieblingsplatten 2016

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Also, jetzt mal doch wieder eine richtige Alben des Jahres-Liste, mache ich gern in diesem Seuchen-Jahr, in dem die Musik aber richtig gut war. Ausnahmsweise mal wieder mit – höchst subjektiver! – Reihung. Meine fünf Lieblingsplatten 2016 sind diese dreizehn. Die weiteren einunddreißig Nennungen sind alphabetisch gelistet.

  1. PopincourtA New Dimension to Modern Love

From Paris with Love: Keine Platte vermochte mich 2016 mehr zu berühren, mehr zu begeistern als das Debütalbum der Pariser Pop-Combo Popincourt mit einem unglaublich bezaubernden Mix aus Blue Note Jazz, Sixties Beat und britischem 1980er Indie-Pop. Mastermind, Sänger, Songschreiber und Multiinstrumentalist Olivier Popincourt  singt seine beseelten, wohltuenden, wunderhübsch melodiösen Songs wie „The First Flower of Spring“, „The Things That Last“ oder das funkelnde Titellied mit einem wunderbaren Schmelz in der Stimme, und seine Lyrics in Englisch, mit einem leichten, sehr charmanten französischen Akzent, dass einem das Herz  übergeht.

  1. French BoutikFront Pop

The new French Beat from Paris: Wer Ja zu Popincourt sagt, sollte auch nicht Nein zu French Boutik sagen. Eine hinreißende Combo, die nicht nur dem Beat, Soul und Mod-Feeling  der 1960er huldigt, sondern auch dem Spirit des Punk und der New Wave der 1970er und 1980er.  Wie Popincourt zelebrieren auch French Boutik eine sympathische, an Paul Wellers 1980er Band The Style Council erinnernde, pro-europäische Internationalität. Sie singen meist in Französisch und covern erfrischend fetzig Françoise Hardys „Je Ne Suis La Pour Personne“, haben aber auch famose eigene Songs wie „Le Mac“ oder „Costard Italien“ oder die englisch gesungenen „Hitch A Ride“ und „The Rent“. Sängerin Gabriela Giacoman gastiert bei Popincourt, Olivier Popincourt bei French Boutik an der Hammond Orgel. Absolutely French!

  1. Jochen DistelmeyerSongs From The Bottom Vol. 1

Der frühere Sänger und Songschreiber der Hamburger Indierock-Combo Blumfeld singt auf „Songs From The Bottom Vol. 1“ statt Deutsch nun alles in Englisch, mit seiner irgendwie immer stoisch ungerührten, aber dann doch anrührenden Stimme, allein zur Gitarrenbegleitung und ein wenig Orgel und Klavier. Ein höchst obskurer, aber doch wunderbar stimmiger Coverversionen-Cocktail. Mit grandios interpretierten Songs von Lana Del Rey, Britney Spears, Nick Lowe, The Verve, The Byrds, Joni Mitchell oder Al Green. Eine so überraschende wie beglückende Offenbarung.

  1. DexysLet the Record Show: Dexys Do Irish and Country Soul

Kevin Rowland arbeitet weiter an seiner Vision der Dexys. Top gestylt, mit trefflich ausgewählten, top instrumentierten, von Rowland fantastisch gut gesungenen Coverversionen wunderbar melodiöser und hochemotionaler älterer Songs, die nicht immer irisch oder Country sind, sondern einfach Pop. Zu einigen gibt es brillante, durchgestylte Videos, wie man sie schon lange nicht mehr gesehen hat.

  1. Udo LindenbergStärker als die Zeit

Drei in einer Reihe: Nach den supersupernen Alben Stark Wie Zwei (2008) und MTV Unplugged (2013) setzt Dr. Feeel Good die allerbeste Zeit seiner Karriere ungebremst fort, stärker und besser denn je. Was für eine coole Socke!

  1. The Rolling StonesBlue & Lonesome

Reif fürs Altersheim? In Würde altern? Wiederbelebt? Ihr bestes Album seit Jahren? Geschenkt. Die Rolling Stones spielen doch seit Jahren in prächtiger Kondition kraftvolle Konzerte mit ihren größten Hits. Diese zwölf hochoktanigen Coverversionen alter Bluessongs, die sie in drei Tagen in einem Londoner Studio aufgenommen haben, sind so elektrisierend, scharf und relevant wie nur was.

  1. Michael KiwanukaLove and Hate

Beyoncè? Kanye West? Rihanna? Drake? Alle nicht meine Tasse Tee. Meine liebsten Rhythm & Blues- und Soul-Longplayer des Jahres sind zum einen die strictly old school Scheiben der viel zu früh verstorbenen Sharon Jones und von Charles Bradley. Zum anderen Michael Kiwanukas zweites Album, das noch mal um Klassen besser ist als sein über Gebühr gelobtes 2012er Debütalbum Home Again. Kiwanuka mixt Otis Redding, Jimi Hendrix, Marvin Gaye und auch Pink Floyd zu seinem eigenständigen, zeitgemäßen, modernen Soul.

  1. Leonard CohenYou Want it Darker

Zu viele Tote in diesem Musikjahr, aber sind es das nicht immer, und werden es leider nicht immer mehr? Anders als im Fall von David Bowies Blackstar, das ich 2016 kaum mal hören wollte bzw. einfach nicht hören konnte, geht es mir mit Leonard Cohens finalem Album besser, ich höre es gern und oft, als Feier seiner Poesie und seines erfüllten Lebens.

  1. Ben WattFever Dream

Auf seinem dritten Soloalbum, dem zweiten kurz aufeinanderfolgenden, verzaubert der Ex-Everything But The Girl-Musiker erneut mit seinen tief berührenden, empfindsamen Folkrock-Songs, die das Wunder bewirken, sich in durchgeknallten, horriblen Zeiten wie den unseren, Momente lang wieder wie ein richtiger Mensch zu fühlen. Eine guttuende Atempause in der allgegenwärtigen zerstörerischen Beschleunigung.

  1. Mathilde Santing Both Sides Now: Matilde Santing Sings Joni Mitchell

Ehrlich, ohne Twitter hätte ich wohl das superbe neue Album dieser wunderbaren holländischen Sängerin verpasst, die ich seit ihrer 1982er Debüt-EP Introducing überaus schätze. Zuletzt von meinem persönlichen Radar verschwunden, zelebriert Mathilde Santing hier zwölf der größten Songs von Joni Mitchell, live aufgenommen im North Sea Jazz Club in Amsterdam. Unwiderstehlich schön. Und zurzeit nur via Mathilde Santings Website https://mathildesanting.com erhältlich.

  1. Marius Müller-WesternhagenMTV Unplugged

Wie bei Udo Lindenberg bin ich auch zu Marius Müller-Westernhagen wieder zurückgekehrt durch die neuen faszinanten Schriften von Benjamin von Stuckrad-Barre. MTV Unplugged ist auf vier LPs eine piekfein inszenierte, instrumentierte und gesungene Best-of-Werkschau von hoher Qualität, mit viel Emotion, Seele und großer Wirkung.

  1. The BeatlesLive at the Hollywood Bowl

Schon die Erstauflage dieser hinreißenden Konzertplatte, die 1964 und 1965 bei zwei Konzerten in der legendären Hollywood Bowl in Los Angeles mitgeschnitten wurde, überraschte mit ihrem Mix, der die super Performance der Fab Four vom Beatlemania-Gekreische befreite. Die Neuauflage mit vier Bonustracks setzt noch einmal einen drauf.

  1. Bruce Springsteen and the E Street BandLive at the TD Garden, Boston, MA, February 4th 2016 / Bruce Springsteen – Chapter and Verse

Nie hatten die Songs von Bruce Springsteens grandiosem Doppelalbum The River mehr Wirkung, nie machten sie als Ganzes mehr Sinn, nie klangen sie besser als bei den US-Konzerten der The River-Tournee. In Boston etwa, Anfang Februar 2016, sind der Boss und die E Street Band auf dem Gipfel ihrer Mission angekommen, dokumentiert auf drei unverzichtbaren CDs. Und Chapter and Verse, die erste wirklich geglückte Compilation von Springsteens Schaffen, begleitet seine großartige Autobiografie Born to Run.

 

Nennungen ehrenhalber:

 ABCLexicon of Love II

AirTwentyears

Karl BlauIntroducing Karl Blau

Bon Iver22, A Million

David BowieBlackstar

Charles BradleyChanges

Billy Bragg & Joe HenryShine a Light: Field Recordings from the Great American Railroad

Eric ClaptonI Still Do

David CrosbyLighthouse

Betty DavisThe Columbia Years 1968-1969

DionNew York Is My Home

Bob DylanFallen Angels

The Last Shadow PuppetsEverything You’ve Come to Expect

Mayer HawthorneMan About Town

Norah JonesDay Breaks

Sharon JonesOriginal Motion Picture Soundtrack: Miss Sharon Jones!

The MonkeesGood Times!

Van MorrisonKeep Me Singing

NenaOld School

The PretendersAlone

Nada SurfYou Know Who You Are

Pet Shop BoysSuper

SantanaSantana IV

Paul SimonStranger to Stranger

Kandace SpringsSoul Eyes

Sting57th & 9th

Teenage FanclubHere

WaldeckGran Paradiso

WilcoSchmilco

YelloToy

 

Ich lebe: Wir sind, was wir sein wollen

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Attenzione

Gib Acht

Auf dich

Entspann mal

Denk nach

Mach einen Schritt zur Seite

Atme, denke, fühle

Höchste Zeit, sich wieder wie ein Mensch zu fühlen

Veränderung

Lass uns mit Udo Lindenberg und Barack Obama nach Utopia fahren

Mit Alexander Van der Bellen und Christian Kern in ein neues, besseres Österreich

Mal gucken, was da los ist, ne

Lass uns mit den Pet Shop Boys Richtung Happiness tanzen

Ein langer Weg

Aber der eine, den wir wagen sollten

Damit nicht alles wie bei Helmut Dietl endet

Wie erwartet, nur schlimmer

Sondern wie bei der Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band

It’s getting better all the time

Veränderung

Jetzt