Frank Sinatra (1915 – 1998): Die Stimme des 20. Jahrhunderts

Francis Albert Sinatra, kurz Frank genannt, wurde am 12. Dezember 1915 geboren, am 14. Mai 1998 hörte sein Herz auf zu schlagen. Seine Stimme, seine Songs, sein Mythos werden auch über seinen 108. Geburtstag hinaus weiterleben.

So könnte es gewesen sein: Im Anfang war das Wort, das irgendwann einmal Fleisch geworden ist. Aber als es darum ging, dem Wort eine Stimme zu geben, drängte sich Frank Sinatra, ein kleiner, schlaksiger Italo-Amerikaner rücksichtslos in die erste Reihe und reifte über die Jahre zum Sänger von beinah mythischem Zuschnitt, zur Inkarnation des Sängers schlechthin. Der Sänger, der da vorne ganz allein im zerknitterten Anzug im Scheinwerferlicht am Bühnenrand steht und sich die Seele aus dem Leibe singt, das ist Frank Sinatra. Und er wird es bis in alle Ewigkeit bleiben, auch wenn am 15. Mai 1998 sein Herz nicht mehr länger schlagen wollte.

Seit Orpheus vermochte kein Sänger mehr Gefühle so wahrhaftig vermitteln wie Frank Sinatra. Kein anderer sang so bewegend von höchstem Glück und tiefstem Schmerz, von romantischen Wonnen und zerbrochenen Lieben. Sinatra mag vielleicht nicht der allergrößte Stimmvirtuose gewesen sein. Was aber seine mal butterweich gefühlvolle, mal messerscharf coole Phrasierung, seine klare, immer verständliche Diktion, sein Gefühl für Melodien, sein rhythmisches Sensorium, seine großartige Atemtechnik, sein Einfühlungsvermögen, seine Überzeugungskraft anlangte, da war Frank Sinatra unerreicht. Er verstand es wie kein anderer, mit seinem Gesang in seinen Liedern eine Geschichte zu erzählen. Und er verfeinerte diese Fähigkeit kontinuierlich, kompensierte mit den Jahren die schwindende stimmliche Kraft mit wachsender künstlerischer und menschlicher Reife.

Frank Sinatra hatte es nie nötig, eigene Lieder zu schreiben, er machte alle Lieder, die er sang, zu seinen eigenen. Man glaubte und glaubt ihm jedes Wort, wenn man ihn singen hört. Weil Sinatra selbst jedes Wort glaubte, wenn er sang. Er wollte, dass sein Publikum jedes Wort fühlt und genauso hat er es auch gesungen, ohne irgendwelche manierierten Tricks, ohne jede Heuchelei. Im Idealfall ist Frank Sinatra so sehr mit seinem Gesang, mit dem von ihm vorgetragenen Lied verschmolzen, dass man nicht mehr unterscheiden kann, wo der Künstler aufhört und der Mensch anfängt, wo die Kunst endet und die Realität beginnt. Ganz egal, ob es sich um eine seiner tieftraurigen Balladen, einen seiner alkoholvernebelten Saloon Songs, eines seiner beglückenden Liebeslieder oder eines der vielen aufgekratzten Swingstücke handelt, die einen das Leben und die Welt immer wieder aufs Neue zu lieben lehren.

„Richtiges Singen heißt Schauspielen“, bekannte Frank Sinatra einmal in einem Interview, „ich bin immer vollkommen in den Song involviert. Ich kann gar nicht anders. Wenn eine zerbrochene Liebe beklagt wird, dann tut mir in den Eingeweiden alles weh. Ich schreie die Einsamkeit, den Schmerz einfach raus. Als 18-karätiger Manisch-Depressiver kann ich das ganz gut. Was immer der Schreiber mit einem Song sagen will, ich war schon dort. Ich weiß, worum es geht.“

So war es wirklich: Francis Albert Sinatra wurde am 12. Dezember 1915 in Hoboken, New Jersey geboren, auf der anderen Seite des Flusses lag Manhattan, lockte das verheißungsvolle New York. Seine Eltern waren sizilianische Emigranten. Der Vater Marty war Feuerwehrmann, Mutter Dolly, die Frank abgöttisch liebte, war Hebamme und Gerüchten zufolge auch Engelmacherin und mit den örtlichen Mafiosi recht gut bekannt. Bei der Geburt starb der kleine Frank beinahe. Die Narben in seinem Gesicht stammten von der Zange, mit der ihn der Arzt mehr tot als lebendig auf die Welt zerrte. So einer musste ja ein Kämpfer werden, meinen seine Biographen und seine Tochter Nancy: „Die unglaublichen Schmerzen, das verzweifelte Ringen um Luft, dieser Kampf ums Überleben von der ersten Sekunde an – das hat Vaters Charakter grundlegend geprägt und ist immer seine wichtigste Antriebskraft geblieben.“

Der kleine Frank überlebte und wuchs als Einzelkind in Hoboken auf. Ein kleingewachsener, dürrer Arbeiterklassejunge mit großen Ohren. Ein schüchterner Einzelgänger, ein Underdog, der mit Gesetz und Polizei öfter in Konflikt kam, wie andere in der Verwandtschaft auch. Mit 16 ging er von der Schule ab, ganze 47 Tage hatte es ihn auf der High School gehalten, und er versuchte sich an einer Reihe von Jobs: als Zeitungsausträger, Liftboy, Sportreporter, Taxifahrer, singender Kellner. Das Singen nahm er ernst, der Besuch eines Konzertes von Bing Crosby gab seinem Leben eine entscheidende Wende, seither war er überzeugt, so etwas wie Bing Crosby auch zu können. Außerdem pilgerte er regelmäßig in die Jazzclubs in der 52. Straße, wo Billie Holiday, die er verehrte, regelmäßig auftrat. Franks erste Gesangsversuche fielen aber kläglich aus.

Frank Sinatra nahm also wie besessen Gesangs- und Sprechunterricht. Mit Erfolg. Nachdem er zunächst mit dem Vokalquartett Hoboken Four durch die Gegend tingelte, engagierte ihn der gerade immens erfolgreiche Orchester-Chef Harry James im Juni 1939 als Vokalisten für seine Big Band. Knappe sechs Monate später wechselte Frank Sinatra ins Orchester von Tommy Dorsey, wo er seine wichtigsten Lehrjahre absolvierte. „Anfang 1940 begann ich bei Dorsey, meinen eigenen Stil zu entwickeln“, erinnerte sich Sinatra später und meinte, dass er seine phänomenale Atemtechnik und die nicht zuletzt daraus resultierenden Phrasierungsmöglichkeiten dem Vorbild des Posaunisten Tommy Dorsey verdankte. Sinatra ging regelmäßig schwimmen, tauchte lange Strecken und memorierte dabei Songtexte und lernte, so wie Dorsey unmerklich Luft zu holen. „So konnte ich bald sechs, oft auch acht Takte lang singen, ohne groß zu atmen. Das gab der Melodie einen fließenden, ungebrochenen Charakter. Schon allein dadurch klang ich anders.“

Frankieboy: Im September 1942 verließ Frank Sinatra das Orchester von Tommy Dorsey und versuchte als erster Tanzorchester-Sänger eine Solokarriere. Er nahm Dorseys genialen Arrangeur Axel Stohrdal mit, der die nächsten zehn Jahre seine Stimme in wunderschön romantische Streicherarrangements bettete, und unterschrieb einen Plattenvertrag für die Firma Columbia Records. Mit seinen ersten Soloplatten, einer eigenen Radioshow und einigen Hollywoodfilmen wurde Frankieboy, wie ihn seine Fans nannten, schnell zum ersten richtigen Popstar, zum Teenageridol und Freudenspender einer ganzen Mädchengeneration. 1943 berichtete die Zeitschrift Life: „Jeden Samstagnachmittag ist der Gehsteig vor dem CBS-Schauspielhaus an der Kreuzung Broadway/53. Straße, wo Frankieboy für seine Radioshow probt, vollgestopft mit Mädchen, die kreischen und schluchzen. Seine Stimme richtet etwas Ungewöhnliches mit ihnen an. Im Riobamba, dem Nachtclub, in dem Sinatra gerade auftritt, meinte vor kurzem ein Gast, dass das, was Sinatras Gesang den Mädchen antue, höchst unmoralisch sei. Aber, so fügte er nach einem Blick auf das Meer ekstatischer Gesichter hinzu, es scheint ihnen Spaß zu machen.“

Amerika stand Kopf. In den zugeknöpften 1940er Jahren war die samtig sanfte Stimme von Frankieboy ein Aphrodisiakum, das den amerikanischen Teenagergören samt Müttern und allen einsamen Soldatenbräuten Zutritt zu einem mysteriösen erotischen Universum verschaffte. Wo Frank Sinatras Lieder von romantischen Träumen, flüchtigen Küssen, purer Liebe redeten, verhießen sie in Wahrheit Sex, Lust, Orgasmen. Frankieboy, der nette dünne Jüngling, war ein gefährlicher Tramp. Kein Wunder, dass FBI und CIA sich für ihn interessierten, und die Regenbogenpresse ihn geißelte und sich genüsslich an seinem folgenden kommerziellen und künstlerischen Absturz weidete.

Frankieboy am Boden: Wie wir heute wissen, zürnen die Götter irgendwann einmal jedem Teenageridol. Frankieboy bekam das wohl als erster, ohne jede Vorwarnung, zu spüren. Elvis flüchtete sich später in die US-Armee, die Beatles ließen sich Bärte wachsen und fuhren nach Indien zu einem Guru auf Sommerfrische. Aber Frank Sinatra? Er verkaufte plötzlich keine Platten mehr, und seine Hollywoodfilme wollte auch niemand mehr sehen. Anfang der 1950er Jahre stand er plötzlich ohne Platten- und Filmvertrag da. Zu allem Pech war seine Stimme nach einer Stimmbänderblutung lädiert. In gefährliche Turbulenzen geriet auch sein Privatleben. Seine erste Ehe mit Nancy, der Mutter seiner drei Kinder, Tina, Nancy und Frank Jr., war gescheitert, weil Sinatra immer wieder Affären hatte, mit unbekannten Nachtclubtänzerinnen genauso wie mit den schönsten Frauen Hollywoods. Seine zweite Ehe mit der Schauspielerin Ava Gardner, der großen tragischen Liebe seines Lebens, zerbrach ebenfalls und soll ihn sogar in einen Selbstmordversuch getrieben haben. Das bigotte, konservative Mittelstandsamerika atmete erleichtert auf: Schließlich hatte Sinatra, der Emporkömmling, nie so recht die Tischmanieren der feinen Gesellschaft angenommen, auch wenn er noch so sehr um ihre Anerkennung buhlte. Allein, er prügelte sich zu oft, soff ganze Tage und Nächte mit seinen Freunden, dem sogenannten Rat Pack durch, suchte die Nähe von Mafiabossen, schlief mit viel zu vielen zu schönen Frauen. Und zu allem Überdruss machte er sich auch noch bei jeder Gelegenheit für die Rechte der unterdrückten Schwarzen und für andere liberale Ideen stark, die im damaligen Klima praktisch als kommunistisch galten. Dass Sinatra jetzt am Boden war, gönnte ihm die große Mehrheit der Amerikaner.

Das Comeback: Frank Sinatra dachte aber nicht daran aufzugeben, jedenfalls nicht lange. Der Mann hatte ein Herz wie Löwe, und mehr Mumm in den Knochen als Arnold Schwarzenegger, Sylvester Stallone und Bruce Willis zusammen. Er spielte 1953 für eine minimale Gage den Soldaten Angelo Maggio im Hollywoodkriegsdrama Verdammt in alle Ewigkeit, bekam dafür einen Oscar und einen neuen Plattenvertrag mit Capitol Records, wo er – erwachsen geworden – sein einziges echtes Comeback schaffte. Auch seine Stimme war gereift. Merklich tiefer geworden, war sie vom Tonumfang zwar nicht mehr ganz so brillant und flexibel, wirkte aber noch eindringlicher und gefühlvoller als früher.

In den Capitol-Jahren passte für Frank Sinatra einfach alles. Er arbeitete mit den besten Songschreibern und Arrangeuren zusammen, und mit den genialen Orchesterchefs Nelson Riddle, Billy May und Gordon Jenkins. Mit ihnen erfand er ein neues Medium: die Langspielplatte. Zwar hatte Sinatra schon 1945 mit Axel Stohrdahl mit The Voice eine Art Album aufgenommen, doch jetzt produzierte er bei Capitol Records in knapp neun Jahren an die zwanzig Konzeptalben, deren Songs jedes Mal eine bestimmte Grundstimmung, ein übergeordnetes Thema zum Inhalt hatten. Während allein schon die schönen Plattenhüllen einzigartig sind, werfen einen die großartige Musik und Sinatras wunderbarer Gesang einfach um. Grandiose Alben wie In The Wee Small Hours oder Only The Lonely reihten eine traurige Ballade an die andere, und porträtierten The Voice als einsamen Wolf, als an der Liebe und am Leben Leidenden. In Song For Swinging Lovers und Nice ‘N’ Easy zelebrierte er den lebenslustigen, erfahrenen Liebhaber. In Come Fly With Me und Come Swing With Me gab er weltgewandten, beschwingten Lebemann.

Die Frauen – sie liebten und begehrten Frank Sinatra einmal mehr. Und die Männer? Sie bewunderten ihn jetzt erst recht. Und mal ehrlich, wer wäre nicht gern einmal so wie Sinatra gewesen? Zumal er auch modisch einen erstklassigen Stil hatte. Mit seinen scharfen Anzügen, seinen Krawatten und Hüten und seiner ganzen weltmännischen Art war er der Inbegriff der Coolness, das Inbild des modernen Nachkriegsmannes. Ein runderneuerter Erwachsener, der reif geworden worden war, ohne verknöchert zu werden, und der sich auch im fortgeschrittenen Alter die richtige Haltung, sein Herz und die nötige Lässigkeit bewahrte.

Ol’ Blue Eyes: Danach musste Frank Sinatra niemandem mehr etwas beweisen. Er hatte alles erreicht. Er gründete Anfang der 1960er Jahre seine eigene Plattenfirma Reprise Records, wo er der Chairman Of The Board war, und produzierte weiterhin ein Album nach dem anderen, mit jetzt öfter auftretenden Formschwankungen. Er förderte die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten und wandte sich dennoch aus Trotz den konservativen Republikanern zu, als sich Kennedy wegen seines Lebenswandels und seiner angeblichen Kontakte zur Mafia von ihm distanzierte. Er sang mit Strangers In The Night und That’s Life weitere Welthits und versuchte sich an neuen Popliedern, die nicht immer für ihn passten.  Frank Sinatra wollte als Sänger nicht von der Bühne abtreten, dabei sein, dran zu bleiben war für ihn alles. Er wollte nicht wahrhaben, dass die Welt und die Musik inzwischen völlig anders waren als in jener Zeit, aus der er stammte. Ol’ Blue Eyes, wie er sich mittlerweile selbst scherzhaft nannte, wollte immer noch dazu gehören und gehört werden. Sein beherztes Streben war, wie bei allen Helden, ein wenig tragisch, ein wenig lächerlich, aber auch bewundernswert. Und wenn er einen guten Tag, einen guten Song, ein gutes Orchester erwischte, war er immer noch großartig. Als 1968 weltweit die Studenten gegen den Vietnamkrieg demonstrierten, forderte er mit seinem Seelenbruder Dean Martin in einer Bar in Las Vegas mit einem selbstgemalten Schild „Freie Mädchen für alle“. Als  sich 1969 die Hippie-Generation in Woodstock zusammenkauerte, verweigerte The Voice die Teilnahme und konterte seelenruhig mit „My Way“. Was sollten ihm denn die paar Hippies schon vormachen? Vom Leben wusste er doch selbst mehr als genug.

Der lange Abschied: 1971 dankte Frank Sinatra überraschend ab, und sang auf der Bühne die letzte Zeile „’Scuse me while I disappear…“ und verschwand im Dunklen. Zwei Jahre später hatte er Golfspielen, Pokernächte und Martinischlürfen satt und kehrte mit neuer Platte und einer Reihe von Konzerten zurück: Ol’ Blue Eyes is back, hieß es nun. In seinen letzten beiden Dekaden wechselten allerletzte Tourneen, Abschiedskonzerte und immer seltener werdende Plattenproduktionen einander ab. Auch seine letzten beiden Duets-Alben, auf denen er mit jungen Popstars noch einmal seine alten Klassiker sang, entsprangen seinem unbedingten Willen, nicht aufgeben zu wollen. Sie waren ein letztes Aufbäumen, machten aber schmerzlich bewusst, dass selbst ein göttlicher Sänger wie Ol’ Blue Eyes einmal den Weg alles Fleisches würde gehen müssen. Aber davor sang der Alte in einem Duett mit U2-Sänger Bono den Jungen noch einmal in Grund und Boden. Während sich jener aufplusterte wie ein geiler Gockel, der seit Monaten keine Henne mehr gesehen hat, war Frank Sinatra souverän, cool, abgeklärt und bewegend wie eh und je.

Eines seiner letzten Konzerte sang The Voice am 5. Juni 1993 in Stuttgart: Seine Stimme war schon zittrig und brüchig, und weil er sie sich nicht mehr merken konnte, musste er die Songtexte er vom Teleprompter ablesen. Als er aber Lieder wie die tieftraurige Ballade One For My Baby anstimmte, rührte er nicht nur den im Publikum befindlichen Autor dieser Zeilen zu Tränen. Der alte Frank war schlicht und einfach großartig, sein Charisma, seine Stimme, sein Sexappeal, seine Überzeugungskraft, sie wirkten noch immer. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie alle ihren 1000. Geburtstag erleben“, scherzte er zum Abschied, „und die letzte Stimme, die Sie vor ihrem Tod hören, soll dann die meine sein.“ Das Lachen blieb einem im Hals stecken.  Frank Sinatra ist nicht freiwillig von der Bühne und dieser Welt abgetreten. Dafür hat er das Leben, die Frauen, das Singen zu sehr geliebt. Ist die Welt nach seinem Abgang dieselbe geblieben? Nein. Mit Frank Sinatra hat sich das 20. Jahrhundert verabschiedet.

Basiert auf einem im Juni 1998 anlässlich des Ablebens von Frank Sinatra veröffentlichten Essay, komplett überarbeitet und erweitert im Dezember 2023

© Cover pics snapped by the author.

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