Neil Diamond: Live In Concert – Cooler als erlaubt

Wegen seiner angegriffenen Gesundheit kann Neil Diamond, der am 24. Jänner seinen 83. Geburtstag feiern konnte, nicht mehr live auftreten oder gar auf Tournee gehen. Was bleibt ist die Erinnerung an seine großartigen Konzerte wie am 27. Mai 2008, wo Neil Diamond in der ausverkauften, vollauf begeisterten Münchner Olympiahalle seine brillanten Qualitäten als Sänger und Entertainer zelebrierte.

Es brauchte nur wenige Minuten, bis Neil Diamond seine Fans in der vollen Münchner Olympiahalle auf die richtige Betriebstemperatur brachte. Ein einziger Song genügte: Diamond spielte zum Auftakt One More Bite Of The Apple seines gerade neuen Albums Home Before Dark, das Kultproduzent Rick Rubin betreut hatte. Man verstand sofort, was den damals 67-jährigen Sänger und Songschreiber mit der grundtraurigen Baritonstimme auch nach fünfzig erfolgreichen Karrierejahren weiter angetrieben hat.

Das Singen, die Songschreiberei, die Bühne, sie ließen Neil Diamond nicht los. Er wollte es noch einmal wissen und suchte eine neue kreative Herausforderung, obwohl er es längst viel gemütlicher hätte haben können in seiner pompösen Villa in Los Angeles, wohin der in Brooklyn, New York, als Sohn einer jüdischen Familie geborene Musiker schon in den 1970ern übersiedelt war, und wo ihn die gepflegte Fadesse geplagt haben dürfte. „Did it once / You can do it once more yeah“, beschwor Diamond seine Muse in One More Bite Of The Apple. Er wollte sich selbst beweisen, dass er sein Songschreiberhandwerk immer noch meisterhaft beherrschte, das er in den 1950ern und 1960ern im Brill Building, dieser legendären New Yorker Popfabrik, erlernt hatte. Und doch musste Neil Diamond lange um seine Anerkennung als großer amerikanischer Songschreiber ringen, weil ihn die hochgestochene Popkritik und Popgeschichtsschreibung als Schlagerlieferanten denunzierte. Verstehen muss man das nicht.

Mit One More Bite Of The Apple begann Neil Diamond also am 27. Mai 2008 seine Live-Show. Die schwarze Akustikgitarre geschultert, durchschritt der Entertainer das Spalier seiner mit vier Backgroundsängerinnen verstärkten elfköpfigen Veteranenband, um am Bühnenrand sein musikalisches Glaubensbekenntnis zu erneuern. Seine Band war eine bunte Mischung aus dem Buena Vista Social Club und einer Showband aus Las Vegas. Diamond sah in seinen engen, schwarzen Jeans, dem schwarzem Westernhemd und dem mit Goldfäden durchwirktem dunklen Sakko verdammt cool aus. Die Bühne gehörte ihm. Sein Charisma unwiderstehlich, sein Gesang grandios, man spürte und glaubte ihm jede Zeile. Dass er ein routinierter, sympathischer Entertainer ist, demonstrierte eine technische Panne nach dem dritten Song. Die drahtlosen Ohrhörer, mit denen der Sänger seine Stimme hätte hören sollen, funktionierten plötzlich nicht mehr. Als ein Roadie minutenlang an Diamond herumnestelte, um das Problem zu beheben, überbrückte dieser die Peinlichkeit mit lässigem Geplauder, das ihn dem Publikum noch näher brachte: „Don’t leave! You will be entertained this evening one way or another!“ – Es folgen, gleich zwei Versionen von „Sweet Caroline“ hintereinander, einmal spontan ohne, einmal mit funktionierenden Ohrhörern gesungen. „Did I do it good?“ Was für eine Frage, Mr. Diamond!

Die Halle tobte. Neil Diamond hatte schon in diesem Moment gewonnen. Seine allerbestens aufspielende Band sowie die superbe Setlist, die immer wieder mit alten, durch funky Latin-Rhythmen aufgepeppten Hits wie I’m A Believer oder Cherry, Cherry auflockert wurde, tat das Übrige. Dann folgten mehrere Songs des 1976 von Robbie Robertson (The Band) produzierten Klassikers Beautiful Noise, einem der besten Alben des Sängers. Diamond war damals auch beim Abschiedskonzert von The Band auf der Bühne, und somit auch im von Martin Scorsese gedrehten Konzertfilm The Last Waltz. Bob Dylan soll damals Neil Diamond hinter der Bühne bösartig verhöhnt haben. Aber selbst ein Bob Dylan kann irren. Weshalb Rick Rubin nach seinen Produktionen für Country-Altstar Johnny Cashauch Neil Diamond rehabilitieren wollte. Home Before Dark, nach dem 2005er Werk 12 Songs schon die zweite Zusammenarbeit der beiden, hievte den Sänger mit seinen jetzt in spartanische Arrangements gekleideten Songs zum ersten Mal in seiner Laufbahn gleichzeitig auf den ersten Platz der Albumscharts auf beiden Seiten des Atlantiks.

Auch in seinen neuen Liedern ging es Neil Diamond um seine Hauptthemen – um Sehnsucht, Einsamkeit, Hunger nach Liebe und zwischenmenschlicher Nähe, um einen Sinn im Leben. Den tiefschürfenden Titelsong von Home Before Dark sang er im Münchner Konzert nach zwei zartbitteren Songs aus seinem alten Kinofilm The Jazz Singer allein zur Akustikgitarre am Barhocker. Es folgten die wehmütigen Sehnsuchtsballaden Brooklyn Roads, I Am… I Said und Solitary Man – alles größte Singer/Songwriter-Kunst. Daran konnten auch die etwas kitschig inszenierten You Don’t Bring Me Flowers und Song Sung Blue nicht rütteln. Rick Rubin wusste nur zu gut, warum er ein Jahr lang Nachrichten auf Diamonds Anrufbeantworter hinterlassen hatte, um mit ihm arbeiten zu können. Neil Diamond gebührt größter Respekt.

Neil Diamond, Olympiahalle München, 27. Mai 2008 – Die Setlist:

One More Bite Of The Apple / Holly Holy / Street Life / Sweet Caroline (spontan ohne Monitorkopfhörer)  / Sweet Caroline / Beautiful Noise / Lady Oh / If You Know What I Mean / Cherry, Cherry / Thank The Lord For The Night Time / Hello Again / Love On The Rocks / Home Before Dark / Don’t Go There / Pretty Amazing Grace / Crunchy Granola Suite / Done Too Soon / Brooklyn Roads / I Am… I Said / Solitary Man / I’m A Believer / You Don’t Bring Me Flowers / Song Sung Blue / Man Of God / Hell Yeah / Cracklin’ Rosie / Brother Love’s Travelling Salvation Show

 (Erstveröffentlicht in: now! N° 69, Juni 2008, im Jänner 2024 komplett überarbeitet)

Record Collection N° 240: Neil Diamond “The Bang Years 1966-1968” (Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011)

Als Neil Diamond beim Songschreiben seine Muse gefunden hat: The Bang Years 1966-1968 bietet einen Überblick über Neil Diamonds frühes, großartiges Schaffen in den 1960ern – ein wundervoller Mix aus lebensfrohem Pop und schwermütigen Balladen.

The Bang Years 1966-1968 dokumentiert ein faszinierendes frühes Kapitel des im Jänner 1941 in Brooklyn, New York geborenen Sängers und bietet einen Überblick über Neil Diamonds Schaffen in den 1960ern. Mit den 23 hier gesammelten Songs und den ehrlichen autobiografischen Liner Notes von Neil Diamond entsteht ein bewegendes, lebendiges Porträt eines aufstrebenden, endlich etwas reißen wollenden, hungrigen Sängers und Songschreibers, der seinem Talent vertraut, und mit seinen Songs seiner inneren Leere zu Leibe rückt.

Mit 16 bekam Neil Diamond, der Sohn einer polnisch-russischen Einwandererfamilie jüdischen Glaubens, zum Geburtstag eine Gitarre geschenkt. Er wollte Sänger werden und seine eigenen Lieder schreiben. Nach Jahren des Scheiterns versuchte er, das Songschreiberhandwerk im legendären New Yorker Brill Building zu erlernen, einer Hitfabrik, wo professionelle Songschreiber-Teams wie Jerry Leiber und Mike Stoller, Carole King und Gerry Goffin oder Ellie Greenwich und Jeff Barry am laufenden Band wunderbare Pophits komponierten und produzierten. Leider und Stoller etwa Jailhouse Rock oder King Creole für Elvis Presley, King und Goffin Will You Still Love Me Tomorrow von den Shirelles oder The Loco-Motion für Little Eva, Greenwich und Barry Be My Baby oder Baby, I Love Youfür die Ronettes. Ein ähnlich großer Wurf gelang Neil Diamond im Brill Building, wo Ellie Greenwich ihm die Türen geöffnet hatte und Leiber und Stoller ihn als bezahlten Songschreiber unter Vertrag nahmen, aber nicht. Noch nicht.

Mitte der 1960er stand Neil Diamond daher das Wasser bis zum Hals. Als herzlich erfolgloser Möchtegernsänger und Auftragssongschreiber kämpfte er ums künstlerische und finanzielle Überleben. Er war frustriert, weil der Erfolg auf sich warten ließ, er aber schon eine kleine Familie zu ernähren hatte und der Schritt, schlussendlich in einem „normalen“ Job versauern zu müssen, bedrohlich näher rückte.

Nach dem Rauswurf aus dem Brill Building,weil ihm keine Hitkompositionen gelangen, ging Neil Diamond plötzlich der Knopf auf. „Ich setzte mich hin und machte, was ich immer machte, wenn ich glücklich und begeistert war. Ich schrieb Songs, aber dieses Mal nicht einfach Songs, sondern Lieder, die meine echten Gefühle ausdrückten. Es war, als ob ich mein Inneres anzapfte“, notiert Diamond in seinen Liner Notes von The Bang Years. Und er nutzte die Kontakte, die er im Brill Building geknüpft hatte. Ellie Greenwich, der er anvertraut hatte, dass er eigentlich seine eigenen Songs schreiben und singen wollte, empfahl ihn an Atlantic Records weiter, wo er für den von den Atlantic-Bossen gegründeten Ableger Bang Records unter Vertrag genommen wurde.

Die 23 Songs auf The Bang Years, die Neil Diamond 1966 und 1967 für Bang Records aufgenommen hat, wurden großteils von Ellie Greenwich und Jeff Barry produziert, finden sich fast alle auf seinen ersten beiden Alben, und sind hier im originalen Mono-Sound zu hören – ein grandioser Mix aus lebensfrohem, ausgelassenem Pop und üppigen, schwermütigen, aber auch genießerisch schwelgenden Balladen.

Schon Diamonds erste Single Solitary Man, eine Art mürrisch-melancholischer Country-Ballade, knackte im Frühjahr 1966 die US-Charts. „Mein Leben hatte sich damit für immer verändert“, meint Diamond. Mit dem überschäumenden, liebestrunkenen, mit einem Latin Groove gepfefferten Gute-Laune-Song Cherry, Cherry, einem Drei-Akkord-Rock’n’Roll-Wunder, gelang Neil Diamond dann der erste eigene Top-Ten-Hit, während The Monkees mit seinem Knaller I’m A Believer einen Nummer-1-Hit hatten. Solitary Man und Cherry, Cherry stammen von Diamonds 1966er Debütalbum The Feel Of Neil Diamond. Auf beide Songs und etliche andere von The Bang Years wollte Diamond zu Recht in seinen Konzerten nie verzichten.

Auf Cherry, Cherry folgen die theatralische Ballade Girl, You’ll Be A Woman Soon, sein 2. Top-Ten-Hit in den USA, von seinem zweiten Album Just For You (1968), das Jahre später Urge Overkill grandios coverten für den Soundtrack von Quentin Tarantinos Kultfilm Pulp Fiction. Das schwungvolle, schon im später typischen Neil-Diamond-Stil scheinbar schwebende Kentucky Woman, seine letzte Single für Bang Records, vom Oktober 1967, das ein Jahr später von Deep Purple gecovert wurde. Der Rhythm and Blues-Groover Thank The Lord For The Night Time und der stramme Rocker You Got To Me. Neil Diamonds eigene mitreißende Version von I’m A Believer und Red Red Wine, das 1969 ein großer jamaikanischer Reggae-Hit für Tony Tribe war, in den 1980ern in England nochmal für UB 40. Der knackige aufgekratzte, pure Pop von The Boat That I Row, den 1967 die schottische Sängerin Lulu zum Hit machte. Im hymnischen Do It vermag man schon den künftigen Neil Diamond zu hören, beim majestätischen The Long Way Home und dem klingelnden Folkrocker I’ve Got The Feeling (Oh No No) ist es nicht anders. Someday Baby hat den düsteren Beat von Velvet Underground.

Zwischendrin eingestreut sind einige energiegeladene Coverversionen, die von Neil Diamonds Einflüssen künden und alle von seinem 1966er Debütalbum stammen, das zweiteJust For You brachte nur noch selbstverfasste Songs. New Orleans (Gary U.S. Bonds), Monday, Monday (The Mamas and The Papas), Red Rubber Ball (Paul Simon), La Bamba (Ritchie Valens), Hankie Panky (Tommy James and the Shondells, geschrieben von Ellie Greenwich und Jeff Barry).  

Am Ende machen sich Shilo, Diamonds erste große Powerballade, die er mit seiner starken Baritonstimme, festem Einzelgänger-Blick und mächtigen Koteletten grandios präsentiert, und das bluesige The Time Is Now, die B-Seite von Kentucky Woman, schon auf den ernsten, grüblenden Singer-Songwriter-Pfad, den Neil Diamond nach den wenigen Jahren bei Bang Records, wo er wegen künstlerischer und finanzieller Differenzen das Weite suchte, beschritten hat.

Neil Diamond The Bang Years 1966-1968, Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011

© Bang Years Pic by the author.

Chuck Berry und die magische Macht des Rock & Roll

Wie ich anno 1976 oder 1977 bei einem Konzert von Rock & Roll-Legende Chuck Berry in der Linzer Sporthalle Zeuge der überwältigenden Kraft und Magie des Rock & Roll wurde.

Chuck Berry (1926-2017) ist nicht nur der Erfinder der besten Gitarrenriffs des Rock & Roll, die bis heute Gitarristen in aller Welt inspirieren und nachspielen. Er ist auch der Schöpfer genialer Songklassiker wie Johnny B. Goode, Sweet Little Sixteen, Roll Over Beethoven, Little Queenie oder Rock & Roll Music. Ich lernte diese erst durch die Beatles und die Rolling Stones kennen, und machte mich, voll am Haken, auf die Suche nach den Originalen und ihrem legendären Urheber.

Was die Musik anlangt, so hat Chuck Berry diese Songs zum größeren Teil wahrscheinlich im Duo mit seinem Pianisten Johnnie Johnson geschrieben, der dafür aber nie eine Nennung als Co-Autor, noch Tantiemen bekommen hat, weshalb er Chuck Berry sogar mal verklagte, seine Klage ist aber wegen Verjährung abgelehnt worden. Mit den fabelhaften Songlyrics hat Chuck Berry aber ganz allein seine eigene Teenager-Rock´n‘Roll-Welt erschaffen. Der ungeklärte Streit mit Johnson kann aber Chuck Berrys Rang als Rock & Roll-Pionier nicht zu schmälern. Schließlich wären ohne seine Gitarrenriffs und seine Songtexte weder die Beatles noch die Rolling Stones zu dem geworden, was sie geworden sind. Und wohl auch die frühen Beach Boys nicht, oder The Who, die Kinks, T. Rex und sogar Bruce Springsteen.  Denn, wer war denn der erste, der am liebsten über Autos und Mädchen, Mädchen und Autos Lieder schrieb und sang? Chuck Berry, genau.

Weil die Beatles auf ihren ersten Alben so mitreißende Versionen von Chuck Berrys Krachern wie Rock’n’Roll Music oder Roll Over Beethoven spielten, kaufte ich mir gleich nach Beatles For Sale Chuck Berrys Hitsammlung Original Oldies und wenig später auch noch die beiden Fortsetzungen. Damit war ich für ein Konzert des großen Rock & Roll-Meisters bestens präpariertund enterte als aufgeregter Jungspund, es muss so 1976 oder 1977 gewesen sein, die Sporthalle in der Stahlstadt Linz.

Dort wurde ich Augen- und Ohrenzeuge der welterschütternden Kraft des Rock’n’Roll. Zur wohl über zwanzig Minuten ausgedehnten Schlussnummer Johnny B. Goode holte der von einer angemieteten europäischen Begleitcombo unterstützte Chuck Berry zwanzig, dreißig Leute auf die Bühne. Darunter glücklicherweise auch ich. Während wir dort oben zu seinen unendlich wiederholten, allerlegendärsten Gitarrenakkorden ausgelassen tanzten, glitt der Riff-Meister mit seiner funkelnden roten Stromgitarre im einst von ihm kreierten Duckwalk (vulgo Entenwatschelgang) charismatisch über die dichtgefüllte Bühne.

Und so geschah es. Ich erinnere mich noch deutlich daran, plastisch. Eine für einen in Liebesdingen noch unbedarften Teenager reizvoll kurvige Frau mit langem, blondem Haar fing an, beim Tanzen ihre stramm sitzende weiße Bluse aufzuknöpfen, um dann Chuck Berry, begeistert von seiner Musik, ihre Brüste entgegenzuschütteln. Wie war ich in diesem Moment doch fasziniert von der magischen Kraft des Rock & Roll, von seiner revolutionären, befreienden Wirkung. Das also meinte Chuck Berry, als er 1957 in School Days unvergessen deklamierte: „Hail! Hail! Rock & Roll!“

PS.: Dass ich damals im Konzert von Chuck Berry mit meinem besten FreundNorbert war, hatte ich ehrlich vergessen. Aber als wir uns nach fast vierzig Jahren wieder trafen und stundenlang redeten, kamen wir auch auf dieses legendäre Konzert. Ein auf die Bühne geeilter Saalordner habe der barbusigen Dancing Queen eine Decke übergeworfen, erinnerte sich Norbert. Und dass er mir das Cover von Original Oldies auf die Bühne reichte, um den Meister um sein Autogramm zu bitten. Und auch, dass ich nicht nur völlig überdreht auf der Bühne tanzte, sondern gleich auch noch ein schallendes Yeah in Chuck Berrys Mikrophon jauchzte. So voll „Roll over Beethoven and tell Tchaikovsky the news“ mäßig. 

Als Neil Young mir sein Album „Harvest Moon“ signierte

Neil Youngs wundervolles 1992er Album Harvest Moon, vom Meister persönlich signiert.

Es soll Musikjournalisten geben, die die Interviewzeit auch dafür verwenden, sich von den prominenten Gesprächspartnern Platten- und CD-Hüllen signieren zu lassen. Und man munkelt, dass dies nicht immer aus reiner Begeisterung geschehe, sondern mit den signierten Artefakten auch lukrativer Handel im Internet getrieben würde.

Meine Sache war das nie. Ich fand es peinlich. Genauso wie sich mit dem soeben interviewten Star fotografieren zu lassen. So finden sich nach zahllosen Interviews in meinem Archiv gerade mal zwei Fotos, auf denen ich mit prominenten Musikerinnen und Musikern zu sehen bin. Auf dem einen mit Sheryl Crow auf dem Balkon eines Hotels in München, auf dem anderen in Wien als fünfter Take That, nachdem Robbie Williams aus der Band geflogen war. Wenn ich mich recht erinnere, wollte mir Mark Owen nach dem Shooting meinen schicken, seine Einschätzung, schwarzen Mantel abkaufen. Von meinen Treffen mit David Bowie oder Bryan Ferry gibt es leider keine Bilder.

Auch nicht von meinem Interview mit Neil Young, das 1992 Hamburg stattfand, anlässlich der Veröffentlichung von Harvest Moon – einer Fortsetzung des sanften Folk- und Countryrock seiner Erfolgsplatte Harvest, die zwanzig Jahre davor erschienen war. Aber ehrlich, auch ich konnte damals nicht widerstehen, nach dem Gespräch den großen Neil Young darum zu bitten, das Cover von Harvest Moon, bis heute eine meiner Lieblingsplatten von ihm, zu signieren: To Klaus … Neil Young. Thank you, Mr. Young.

© Harvest Moon Foto by the author.

Radio Rock Revolution: About The Magic Of Rock & Roll

Radio Rock Revolution: When you still haven’t found what you’re looking for, there’s always rock & roll you can turn to.

Despite being harshly criticised on its release and being a massive box office flop, Richard Curtis’ hilarious pop movie The Boat That Rocked according to my gospel of pop music is one of the best music films ever about the magic of rock & roll. Yes, it has a imperfect story line and there are maybe too many ideas packed in one singular movie, but at its core it is real.

Radio Rock Revolution, as The Boat That Rocked was renamed in Austria and Germany, is set in 1966, the year of the grand British pop explosion. A time when legendary pirate radio stations like Radio Caroline or Radio London ruled the radio waves since the young ones in the United Kingdom listened to these pirate radios because they played the hottest modern pop music whereas the BBC still was stuck in the boring, outmoded traditional past without nearly any modern pop and rock music on air.

The movie plot circles around a fictitious pirate radio station aptly named Radio Rock and its illustrious crew of eccentric DJs like The Count, a wild American (fantastically played by Philip Seymour Hoffman), the brazen Doctor Dave (Nick Frost), the very shy and highly sentimental Simple Simon (Chris O’Dowd) and the massively popular, super cool Gavin Kavanagh (Rhys Ifans in his prime), who’s been lured out of retirement for this pirate radio extravaganza. Also, on board is seventeen years old young pup named Carl (Tom Sturridge), who has recently been expelled from school because he smoked pot and happens to be the godson of Radio Rock owner Quentin (the brilliant Bill Nighly).

In one pivotal scene, one of fine deleted scenes that didn’t make it into Richard Curtis’ final cut but should have been there, Carl sits on deck of the old, battered ship, that’s anchored in international waters offshore and the platform from which Radio Rock is broadcasting. Carl is listening to DJ Gavin (Rhys Ifans giving the coolest performance he can give), who answers his question why he picked up his DJ Job again.

„That, young pup, is a secret”, Gavin smiles amused and tells Carl an amazing story while the camera follows him to Guatemala: „Well, I went away to discover the meaning of life. I went to Africa, I traversed India, popped in on South America, I took drugs you could not dream of, made from the kidneys of animals you’ve never even heard of, but I still hadn’t found it. And then one day I was in this little bar in Guatemala with this chick who was so beautiful, I mean, it was impossible to talk to her, you just wanted to have sex with her all the time. Anyway, she went for a swim, and I just sat there, and I thought odd, I’ve got money, chicks, drugs, time on my hands, but I still haven’t found what I’m looking for. And then I noticed that old Guatemalan guy, face like an old shoe, and he walked across the room. And there in the corner, I hadn’t seen it before, there was this jukebox and he put in a coin and he pressed three buttons, and then… “

Boom! The opening beat from Charlie Watts’ drums sets in and The Rolling Stones’ glorious banger Get Off Of My Cloud blasts out of the jukebox. Gavin can’t help but starting to dance and then the old geezer and the young maid, fresh out of the sea, join him to dance, shaking their bodies wild and passionate, that by seeing them dance you feel again how wonderful life can be. When the song ends, the three exhausted dancers hug each other and the old man cries out loud ecstatically, like his life depends on it: “Rock & Roll!”

Then the camera makes a quick turn to the deserted deck of Radio Rock, where Gavin explains to Carl what happened next, a pleased smile on his lips: „I got a ticket home the next day. You see the thing that makes sense of this crazy world is rock & roll. And I was crazy to think that I could ever leave it all behind.”

Well, we do not need to over-analyse anything here. This may not be the whole truth, not the only meaning of life, but after all these years the gist of the matter still rings true to me. Because without the spirit, the power, the magic of rock & roll not only my life would have travelled a different road.

Radio Rock Revolution (The Boat That Rocked), Universal Pictures, 2009

David Bowie: „Ich bereue nichts!“

Talk Show/Interviews 02: David Bowie.

Am 8. Jänner 2024 wäre David Bowie, einer der größten, schillerndsten und facettenreichsten Pop- und Rockmusik-Künstler der Welt, 77 Jahre alt geworden. Im August 1999 hatte ich das Glück, Bowie zum ersten Mal interviewen zu können. Der Anlass für unser Gespräch war das im Oktober 1999 veröffentlichte Album „Hours …“. Ein paar Jahre später begegnete ich Bowie dann noch einmal, in Berlin. Es waren zwei Begegnungen mit einem Ausnahmekönner, der bei unseren Treffen ganz anders war wie erwartet, die sich eingeprägt haben.

Rückblende: Sommer 1999, 10. August, einen Tag vor der totalen Sonnenfinsternis über Mitteleuropa, die ich dann auf der Rückfahrt vom Münchner Flughafen nach Salzburg noch erwische, als das Flughafentaxi stehen bleibt, damit wir die Sonnenfinsternis bestaunen können. Was für ein Erlebnis, einen Tag nachdem ich David Bowie zum ersten Mal persönlich begegnet bin, in New York City, Manhattan, an einem warmen, sonnigen Augustmorgen auf der Fifth Avenue in den Büros seiner Plattenfirma Virgin Records. Dreißig Minuten sollte  das Gespräch  mit  David Bowie dauern, dreißig Minuten derentwegen ich extra acht Stunden lang über den Atlantik in die USA geflogen bin. Dreißig Minuten, in denen man nur einen kleinen Teil jener Fragen stellen kann, die man David Bowie unbedingt stellen möchte. Dem Mann, der in den 1970ern in die Rolle von Kunstfiguren wie Ziggy Stardust schlüpfte und mit Alben wie „Hunky Dory“, „Ziggy Stardust“, „Low“ und „Heroes“ die Popmusik revolutionierte. Anfang der 1980er Jahre wurde er mit dem Megaerfolg des Albums „Let’s Dance“ zum Superstar, fiel danach aber in eine kreative Krise. Erst im Laufe  der 1990er Jahre sollte David Bowie eine kreative Renaissance gelingen, seither ging es für Bowie künstlerisch nur noch bergauf. Der Anlass für unser Gespräch war das im Oktober 1999 veröffentlichte Album „Hours …“.

New York City, Manhattan, Fifth Avenue, in den Büros von Virgin Records. Im cool gestylten Besprechungsraum, eigentlich ein riesiges Loft, ist alles vorbereitet. Duftkerzen brennen, auf dem Tisch liegen eine neue Packung Zigaretten, ein Feuerzeug und ein Aschenbecher. Leicht verspätet schlendert David Bowie entspannt zur Tür herein, braungebrannt, fit und jugendlich wirkend, nicht einmal die grauen Bartstoppeln machen ihn älter. Den dunkelbraunen Pagenkopf vom Coverfoto des neuen Albums Hours hat er schon wieder blond gefärbt. Die größte Überraschung aber: David Bowie ist unglaublich charmant, freundlich, humorvoll und gesprächig. Keine Spur mehr von dem mürrischen, schüchternen, verschlossenen Menschen, der er einmal gewesen sein soll. Der David Bowie von 1999 scheint, vielleicht auch wegen seiner glücklichen Ehe mit dem somalischen Supermodel Iman, mit sich und der Welt soweit es halt geht im Reinen zu sein. Auch wenn die Songs von Hours die Probleme und Ängste seiner Generation thematisieren. „Mit Zwanzig glaubte ich alles zu wissen“, sagt er, „heute weiß ich, dass es keine Gewissheit und Sicherheit geben kann. Aber ich bin froh, dass es mich noch gibt und ich mein Dasein heute genießen kann.“

Klaus Winninger: In Ihrer Rede an der Universität von Berkeley, wo Sie das Ehrendoktorat bekommen haben, erwähnten Sie, dass John Lennon Ihr wahrscheinlich wichtigster Mentor war. Das überrascht, weil Lennon ein Künstler war, der wie kein anderer seine Gefühle in seinen Liedern offenbarte. Während Sie nicht gerade dafür bekannt sind, in Ihren Songs eine persönliche Beichte abzulegen.

David Bowie: Es war auch nicht dieser Aspekt, der mich an John faszinierte. Er war natürlich ein großartiger Songschreiber, aber was mich angesprochen hat, war mehr sein unabhängiger Geist, seine Weigerung sich einordnen zu lassen. Ich bewunderte die Art, wie er sich seinen Weg durch die Musik, durch sein Leben und seine Karriere bahnte. Er rannte nie der Herde nach. Sogar innerhalb der Rockwelt war er ein Rebell. Und dann war da diese andere Seite an ihm, seine Neigung, sich auch Dingen anzunehmen, die nichts mit Rockmusik zu tun hatten. Das habe ich als sehr stimulierend und lehrreich empfunden, denn ich war all dieser Rocktypen, die sich nur mit sich selbst und ihrer Musik beschäftigen, müde geworden. Einfach nur ein Rockmusiker zu sein, hat mich noch nie interessiert. John hatte ein viel weiteres Spektrum. Er war radikal loyal zu seiner Frau Yoko, er beschäftigte sich mit bildender Kunst, dem Theater und praktisch allem, was um ihn herum in seiner Kultur passierte.

KW: Sehen Sie sich selbst auch so?

David Bowie: Es ist nicht heute mehr so leicht, ganz allein seinen eigenen Weg zu gehen, weil die Herde (lacht) aufgeholt und  jene Arbeitsmethoden übernommen hat, die Leute wie John Lennon, Brian Eno oder ich bevorzugt haben. Früher waren wir die Ausnahme, am Ende des 20. Jahrhunderts ist es die Regel, auch von anderen Sachen als der Rockmusik selbst inspiriert zu sein und viele verschiedene Sachen und Stile zu vermischen. Außer in Amerika vielleicht. Die Amerikaner sind eine puristische Nation, die sehr an traditionellen Werten hängt. Wenn man hier neue, aufregende Musik hören will, muss man sich für Black Music interessieren, im weißen amerikanischen Rock gibt es kaum Aufregendes. Überall sonst befindet sich die Rockmusik in einem chaotischen, bruchstückhaften Stadium, und das empfinde ich als einen sehr gesunden Zustand.

KW: Aber es wird dadurch für Sie auch schwieriger sich von anderen abzuheben, oder?

David Bowie: Ich bin immer noch ich. Der Prozess, wie wir alle arbeiten, mag ähnlich sein, aber das Resultat meiner Bemühungen bin unverkennbar ich. Ich klinge wie David Bowie. Die Leute wissen, was sie von mir bekommen.

KW: Heute klingt aber nicht nur David Bowie wie David Bowie. Das tun öfter auch Blur oder Placebo oder Suede oder selbst Marilyn Manson. Schmeichelt Ihnen der Einfluss, den Sie auf die jüngere Musikergeneration haben, oder geht Ihnen diese Verehrung manchmal auch auf die Nerven?

David Bowie: Nein, allein schon deshalb nicht, weil ich ihre Musik nicht so oft höre. Ich drehe nie das Radio auf. Andererseits war es ja eine meiner Ambitionen, in der Rockmusik etwas zu verändern. Es tut gut, wenn man sieht, dass man wirklich etwas bewegt und jemanden beeinflusst hat. Und ich denke, manche meiner Ideen setzen sie sogar besser um als ich selbst. Placebo etwa sind großartig. Sie nehmen ja nicht nur meine Ideen, sondern auch die von Sonic Youth und anderen und mixen viele verschiedene Stile sehr clever zu einer eigenen Identität zusammen. Und sie haben eine dunkle Seite in ihren Songs, die ich sehr mag. Ich mag auch Suede sehr, Brett Anderson macht seine Sache als alter Romantiker sehr gut. Was Marilyn Manson anlangt, ich weiß nicht so recht, er ist ganz okay, aber ohne seinen Look bleibt nicht viel über. Rein musikalisch ist er ein Nichts im Vergleich zu seinem musikalischen Mentor Trent Raznor von Nine Inch Nails. Raznor ist ein exzellenter Songschreiber und Produzent, der immer besser wird, ihn wird es noch lange geben.

KW: Empfinden Sie ihre Vergangenheit bei der Arbeit an neuen Projekten mitunter als Hindernis, etwas Neues zu schaffen?

David Bowie: Nein, nie.

KW: Aber Sie zitieren seit dem Album Black Tie, White Noise häufiger Ihre alten Platten. Auch Ihr neues Album Hours hat starke Ähnlichkeiten mit den Songs und dem Sound von Hunky Dory oder bestimmten Passagen auf Young Americans und Scary Monsters.

David Bowie: Sie haben recht. Aber vergessen Sie nicht, ich habe mich bei meiner Arbeit bis zu einem gewissen Grad immer auf mich selbst bezogen. Ich schaffe es nicht, das alles völlig beiseite zu lassen, also taucht es in veränderter Form wieder auf und wird von mir neu kombiniert. Das inspiriert mich. Im letzten Jahr habe ich zum ersten Mal praktisch überhaupt keine andere Musik gehört als meine eigenen Platten. Ich wollte wissen, was daraus resultiert.

KW: Oft scheint es so, dass die Plattenfirma, bei der Sie gerade unter Vertrag sind, lieber Ihre alten Werke vermarktet als ein neues Album?

David Bowie: Den Eindruck habe ich nicht. Zurzeit etwa bekomme ich von Virgin Records die größtmögliche Unterstützung. Sie haben mich jetzt sogar weltweit unter Vertrag genommen, weil Sie an meine Arbeit glauben.

KW: Aber hatten Sie nicht schon des Öfteren Probleme mit Plattenfirmen, weil Ihre neuen Platten zu wenig verkaufen?

David Bowie: Solche Probleme hatte ich nie. (Lacht) Die Verkaufszahlen meiner Platten schwanken auch nicht sehr stark. Machen wir uns nichts vor, in kommerzieller Hinsicht waren meine Platten keine großen Erfolge. Ausgenommen Let’s Dance, Tonight und Never Let Me Down und die beiden Alben von Tin Machine. Und nicht alle davon gelten als große künstlerische Erfolge. Meine künstlerisch besten Platten haben sich weit nicht so gut verkauft wie Let’s Dance. Aber kommerzieller Erfolg interessiert mich nicht mehr, und er hat mir auch nicht wirklich gut getan.

 KW: Sie sind also nicht auf einen Hit aus und höhere Albumverkaufszahlen?

David Bowie: Nein, denn ich habe ein sehr stabiles, loyales Publikum. Die Reaktion auf meine Platten ist seit bald dreißig Jahren sehr ähnlich. Es gibt keine richtigen Flops, weil mir meine Fans seit vielen Jahren die Treue halten und fast überall hin folgen. Ich habe das Gefühl, dass ich praktisch tun kann, was ich will, und dass der harte Kern meiner Fans sich alles anhört, was ich produziere.

KW: Dass sich ein Künstler so frei entwickeln und entfalten kann, ist in der heutigen Musikindustrie aber nicht mehr üblich.

David Bowie: Ja, ich habe Glück gehabt. Ich bin froh, dass ich kein neuer junger Künstler mehr bin. Als ich anfing, unterstützte einen die Plattenfirma noch, so dass man sich über eine Reihe von Alben entwickeln konnte. Aber wenn du heute als Neuling von deinem ersten Album nicht genug verkaufst, dann ist deine Karriere auch schon wieder vorbei. Das ist grässlich.

KW: Glauben Sie, dass das Internet mit seinen neuen Vertriebsmöglichkeiten die Musikindustrie revolutionieren wird, weil es jungen Musikern ermöglicht, ohne Plattenfirma ein Publikum zu finden?

David Bowie: Es wird auf jeden Fall immer jemanden brauchen, der Werbung für sie macht. Denn wenn es eine Million neuer Künstler im Internet gibt, muss man sie erst einmal finden. Das Internet hat viele Vorteile – wenn die Leute von dir gehört haben und wissen, wo deine Website ist. (Lacht) Dann können Sie sich deine Musik herunterladen. Aber wenn jeder neue Musiker ins Internet geht, gibt es dort so viele Künstler, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht.

KW: Produziert die Musikindustrie nicht sowieso viel zu viele Platten?

David Bowie: Ja, natürlich. Eine Menge junger Talente wird völlig übersehen, weil man sie nie hören wird können. Das ist tragisch, aber es ist so. Wir haben heute eine gigantische Massenproduktion, weil Musik nur noch eine Karrieresache ist. Du kannst Banker werden oder Taxifahrer oder in einer Rockband spielen. Musik ist nicht mehr revolutionär. Das Internet selbst ist eine Revolution. Ein neues Transportmedium von Information, das völlig neue, aufregende Möglichkeiten eröffnet. Wäre ich heute 19 Jahre alt, würde ich lieber mit dem Internet arbeiten als Musik zu machen. Musik erzeugt und transportiert kaum noch revolutionäre Ideen.

KW: Beim Hören der Songs ihres neues Albums Hours … hatte ich den Eindruck, dass Sie darin zwar nicht ihr Herz ausschütten, aber mehr von sich preisgeben als auf früheren Platten?

David Bowie: Ja, das stimmt. Aber ich habe auch früher nie groß Geheimnisse gemacht über mein Leben. Ich habe es nur privat gehalten. Dieses Album war insofern schwierig zu schreiben, weil ich eine bestimmte Angst und einen Schmerz einfangen wollte, den viele Menschen meiner Generation fühlen. Ich selbst hatte aber (lacht) eine wirklich gute Zeit in den letzten zwölf Jahren. Mein Leben war fantastisch, weil ich meine Frau Iman kennengelernt habe, die richtige Person, mit der ich mein Leben teilen kann. Seit den späten 1980ern bin ich sehr glücklich. Und nicht nur privat, auch als Künstler ist seither alles ziemlich gut für mich gelaufen. Ich habe das Gefühl, dass alle Platten, die ich in den Neunzigern gemacht habe, meinen besten Fähigkeiten zum Zeitpunkt ihrer Produktion entsprechen.

KW: Das „Ich“ in den Songs meint also nicht unbedingt Sie? Und die  Person, die sich in Thursday’s Child in den Schlaf weint, sind Sie auch nicht selbst?

David Bowie: (Lacht) Nein, ich habe beim Schreiben der Songs mehr wie ein Schriftsteller gearbeitet. Ich musste mich bei Bekannten und Freunden umsehen und schildern, wie sie ihr Leben empfinden – als eine Serie von Fehlern, zerbrochenen Beziehungen, verpassten Gelegenheiten und Sachen, die sie lieber anders gemacht hätten. Ich selbst bereue nichts, was ich getan oder auch nicht getan habe in meinem Leben. Ich denke sowieso nicht viel über meine Vergangenheit nach und auch nicht über die Zukunft, ich halte mich lieber an die Gegenwart.

KW: Manche Textzeilen erinnern aber stark an Ereignisse oder Personen aus ihrem Leben?

David Bowie: Na ja, bei manchen Stellen habe ich schon auf bestimmte Dinge in meinem Leben zurückgegriffen. Aber da musste ich ziemlich weit zurückdenken, um solche Situationen zu finden und sie in einen Song einbauen zu können.

KW: Sie sagen, Sie wollten für Hours … Songs über Menschen ihres Alters schreiben. Das ist bei in die Jahre gekommenen Rockmusikern nicht gerade üblich. Mick Jagger schreibt immer noch Songs, die der Befindlichkeit eines viel Jüngeren entsprechen.

David Bowie: Interessanterweise mag mein Sohn dieses neue Album sehr, obwohl er gerade mal 27 Jahre ist. Es ist ihm viel lieber als z.B. 1. Outside, sagt er, weil die Songs eine Beziehung zu seinem Leben hätten. Das hat mich überrascht, aber wahrscheinlich geht es in den Songs auch um allgemeine menschliche Ängste und Bedürfnisse. Ich war jedenfalls froh, dass er Hours … nicht nur für die Platte eines alten Mannes hält. Vielleicht hat das umgekehrt damit zu tun, dass Menschen meines Alters oft so fühlen wie junge Leute. Obwohl man, wenn man selbst Zwanzig ist, kaum glauben kann, dass ältere Leute auch noch menschliche Wesen sind.

KW: Wie kommen Sie selbst mit dem Älterwerden klar?

David Bowie: Ich hoffe, ich gehe damit verantwortungsvoll um. (Lacht) Was immer das heißen mag. Es gibt da ein Wohlgefühl, das man einem jüngeren Menschen nur schwer beschreiben kann. Vor allem, wenn man wie ich Glück und Erfolg hatte und ein gewisses Werk geschaffen hat. Obwohl man mit dem Älterwerden auch realisiert, dass die Arbeit selbst gar nicht so wichtig ist. Was immer mehr an Bedeutung gewinnt, sind die Beziehungen zu anderen Menschen, deine Familie und die Art, wie du mit jedem einzelnen Tag zurechtkommst. Es ist wichtig,  wenn man ins Bett geht, sagen zu können, besser hätte ich an diesem Tag nicht leben können. Und je mehr du so bewusst in der Gegenwart lebst, desto geringer werden auch deine Ambitionen und Ego-Probleme.

KW: Was treibt Sie dann an, weiter Songs zu schreiben und Platten zu produzieren?

David Bowie: Ich nehme jeden Tag voll in mich auf. Deswegen gibt es immer  ein Thema für mich, über das ich nachdenken und schreiben kann. Ich interessiere mich einfach für die Leute um mich herum und die Kultur und die Gesellschaft, in der ich lebe. Ich habe mir eine kindliche Neugierde bewahrt und eine gewisse Naivität. Das hilft mir ungemein, mich immer wieder neu zu stimulieren. Wie könnte mir da nichts mehr einfallen?

Ende. Die dreißig Minuten plus vielleicht sechs, sieben Minuten Nachspielzeit sind um. „Warum haben Sie mich nicht gefragt, was aus meinem Projekt für die Salzburger Festspiele geworden ist“, fragt David Bowie, als wir uns verabschieden. Er scheint gut informiert über mich, der ich zum Interview aus Salzburg angereist bin. „Ach, es hätte noch so viele Fragen gegeben“, antworte ich. „Das stimmt“, grinst der Mann, der endlich auf dem Planeten Erde angekommen zu sein scheint.

(Veröffentlicht in: Libro Journal, Oktober 1999, komplett überarbeitet im Jänner 2024)

Frank Sinatra (1915 – 1998): Die Stimme des 20. Jahrhunderts

Francis Albert Sinatra, kurz Frank genannt, wurde am 12. Dezember 1915 geboren, am 14. Mai 1998 hörte sein Herz auf zu schlagen. Seine Stimme, seine Songs, sein Mythos werden auch über seinen 108. Geburtstag hinaus weiterleben.

So könnte es gewesen sein: Im Anfang war das Wort, das irgendwann einmal Fleisch geworden ist. Aber als es darum ging, dem Wort eine Stimme zu geben, drängte sich Frank Sinatra, ein kleiner, schlaksiger Italo-Amerikaner rücksichtslos in die erste Reihe und reifte über die Jahre zum Sänger von beinah mythischem Zuschnitt, zur Inkarnation des Sängers schlechthin. Der Sänger, der da vorne ganz allein im zerknitterten Anzug im Scheinwerferlicht am Bühnenrand steht und sich die Seele aus dem Leibe singt, das ist Frank Sinatra. Und er wird es bis in alle Ewigkeit bleiben, auch wenn am 15. Mai 1998 sein Herz nicht mehr länger schlagen wollte.

Seit Orpheus vermochte kein Sänger mehr Gefühle so wahrhaftig vermitteln wie Frank Sinatra. Kein anderer sang so bewegend von höchstem Glück und tiefstem Schmerz, von romantischen Wonnen und zerbrochenen Lieben. Sinatra mag vielleicht nicht der allergrößte Stimmvirtuose gewesen sein. Was aber seine mal butterweich gefühlvolle, mal messerscharf coole Phrasierung, seine klare, immer verständliche Diktion, sein Gefühl für Melodien, sein rhythmisches Sensorium, seine großartige Atemtechnik, sein Einfühlungsvermögen, seine Überzeugungskraft anlangte, da war Frank Sinatra unerreicht. Er verstand es wie kein anderer, mit seinem Gesang in seinen Liedern eine Geschichte zu erzählen. Und er verfeinerte diese Fähigkeit kontinuierlich, kompensierte mit den Jahren die schwindende stimmliche Kraft mit wachsender künstlerischer und menschlicher Reife.

Frank Sinatra hatte es nie nötig, eigene Lieder zu schreiben, er machte alle Lieder, die er sang, zu seinen eigenen. Man glaubte und glaubt ihm jedes Wort, wenn man ihn singen hört. Weil Sinatra selbst jedes Wort glaubte, wenn er sang. Er wollte, dass sein Publikum jedes Wort fühlt und genauso hat er es auch gesungen, ohne irgendwelche manierierten Tricks, ohne jede Heuchelei. Im Idealfall ist Frank Sinatra so sehr mit seinem Gesang, mit dem von ihm vorgetragenen Lied verschmolzen, dass man nicht mehr unterscheiden kann, wo der Künstler aufhört und der Mensch anfängt, wo die Kunst endet und die Realität beginnt. Ganz egal, ob es sich um eine seiner tieftraurigen Balladen, einen seiner alkoholvernebelten Saloon Songs, eines seiner beglückenden Liebeslieder oder eines der vielen aufgekratzten Swingstücke handelt, die einen das Leben und die Welt immer wieder aufs Neue zu lieben lehren.

„Richtiges Singen heißt Schauspielen“, bekannte Frank Sinatra einmal in einem Interview, „ich bin immer vollkommen in den Song involviert. Ich kann gar nicht anders. Wenn eine zerbrochene Liebe beklagt wird, dann tut mir in den Eingeweiden alles weh. Ich schreie die Einsamkeit, den Schmerz einfach raus. Als 18-karätiger Manisch-Depressiver kann ich das ganz gut. Was immer der Schreiber mit einem Song sagen will, ich war schon dort. Ich weiß, worum es geht.“

So war es wirklich: Francis Albert Sinatra wurde am 12. Dezember 1915 in Hoboken, New Jersey geboren, auf der anderen Seite des Flusses lag Manhattan, lockte das verheißungsvolle New York. Seine Eltern waren sizilianische Emigranten. Der Vater Marty war Feuerwehrmann, Mutter Dolly, die Frank abgöttisch liebte, war Hebamme und Gerüchten zufolge auch Engelmacherin und mit den örtlichen Mafiosi recht gut bekannt. Bei der Geburt starb der kleine Frank beinahe. Die Narben in seinem Gesicht stammten von der Zange, mit der ihn der Arzt mehr tot als lebendig auf die Welt zerrte. So einer musste ja ein Kämpfer werden, meinen seine Biographen und seine Tochter Nancy: „Die unglaublichen Schmerzen, das verzweifelte Ringen um Luft, dieser Kampf ums Überleben von der ersten Sekunde an – das hat Vaters Charakter grundlegend geprägt und ist immer seine wichtigste Antriebskraft geblieben.“

Der kleine Frank überlebte und wuchs als Einzelkind in Hoboken auf. Ein kleingewachsener, dürrer Arbeiterklassejunge mit großen Ohren. Ein schüchterner Einzelgänger, ein Underdog, der mit Gesetz und Polizei öfter in Konflikt kam, wie andere in der Verwandtschaft auch. Mit 16 ging er von der Schule ab, ganze 47 Tage hatte es ihn auf der High School gehalten, und er versuchte sich an einer Reihe von Jobs: als Zeitungsausträger, Liftboy, Sportreporter, Taxifahrer, singender Kellner. Das Singen nahm er ernst, der Besuch eines Konzertes von Bing Crosby gab seinem Leben eine entscheidende Wende, seither war er überzeugt, so etwas wie Bing Crosby auch zu können. Außerdem pilgerte er regelmäßig in die Jazzclubs in der 52. Straße, wo Billie Holiday, die er verehrte, regelmäßig auftrat. Franks erste Gesangsversuche fielen aber kläglich aus.

Frank Sinatra nahm also wie besessen Gesangs- und Sprechunterricht. Mit Erfolg. Nachdem er zunächst mit dem Vokalquartett Hoboken Four durch die Gegend tingelte, engagierte ihn der gerade immens erfolgreiche Orchester-Chef Harry James im Juni 1939 als Vokalisten für seine Big Band. Knappe sechs Monate später wechselte Frank Sinatra ins Orchester von Tommy Dorsey, wo er seine wichtigsten Lehrjahre absolvierte. „Anfang 1940 begann ich bei Dorsey, meinen eigenen Stil zu entwickeln“, erinnerte sich Sinatra später und meinte, dass er seine phänomenale Atemtechnik und die nicht zuletzt daraus resultierenden Phrasierungsmöglichkeiten dem Vorbild des Posaunisten Tommy Dorsey verdankte. Sinatra ging regelmäßig schwimmen, tauchte lange Strecken und memorierte dabei Songtexte und lernte, so wie Dorsey unmerklich Luft zu holen. „So konnte ich bald sechs, oft auch acht Takte lang singen, ohne groß zu atmen. Das gab der Melodie einen fließenden, ungebrochenen Charakter. Schon allein dadurch klang ich anders.“

Frankieboy: Im September 1942 verließ Frank Sinatra das Orchester von Tommy Dorsey und versuchte als erster Tanzorchester-Sänger eine Solokarriere. Er nahm Dorseys genialen Arrangeur Axel Stohrdal mit, der die nächsten zehn Jahre seine Stimme in wunderschön romantische Streicherarrangements bettete, und unterschrieb einen Plattenvertrag für die Firma Columbia Records. Mit seinen ersten Soloplatten, einer eigenen Radioshow und einigen Hollywoodfilmen wurde Frankieboy, wie ihn seine Fans nannten, schnell zum ersten richtigen Popstar, zum Teenageridol und Freudenspender einer ganzen Mädchengeneration. 1943 berichtete die Zeitschrift Life: „Jeden Samstagnachmittag ist der Gehsteig vor dem CBS-Schauspielhaus an der Kreuzung Broadway/53. Straße, wo Frankieboy für seine Radioshow probt, vollgestopft mit Mädchen, die kreischen und schluchzen. Seine Stimme richtet etwas Ungewöhnliches mit ihnen an. Im Riobamba, dem Nachtclub, in dem Sinatra gerade auftritt, meinte vor kurzem ein Gast, dass das, was Sinatras Gesang den Mädchen antue, höchst unmoralisch sei. Aber, so fügte er nach einem Blick auf das Meer ekstatischer Gesichter hinzu, es scheint ihnen Spaß zu machen.“

Amerika stand Kopf. In den zugeknöpften 1940er Jahren war die samtig sanfte Stimme von Frankieboy ein Aphrodisiakum, das den amerikanischen Teenagergören samt Müttern und allen einsamen Soldatenbräuten Zutritt zu einem mysteriösen erotischen Universum verschaffte. Wo Frank Sinatras Lieder von romantischen Träumen, flüchtigen Küssen, purer Liebe redeten, verhießen sie in Wahrheit Sex, Lust, Orgasmen. Frankieboy, der nette dünne Jüngling, war ein gefährlicher Tramp. Kein Wunder, dass FBI und CIA sich für ihn interessierten, und die Regenbogenpresse ihn geißelte und sich genüsslich an seinem folgenden kommerziellen und künstlerischen Absturz weidete.

Frankieboy am Boden: Wie wir heute wissen, zürnen die Götter irgendwann einmal jedem Teenageridol. Frankieboy bekam das wohl als erster, ohne jede Vorwarnung, zu spüren. Elvis flüchtete sich später in die US-Armee, die Beatles ließen sich Bärte wachsen und fuhren nach Indien zu einem Guru auf Sommerfrische. Aber Frank Sinatra? Er verkaufte plötzlich keine Platten mehr, und seine Hollywoodfilme wollte auch niemand mehr sehen. Anfang der 1950er Jahre stand er plötzlich ohne Platten- und Filmvertrag da. Zu allem Pech war seine Stimme nach einer Stimmbänderblutung lädiert. In gefährliche Turbulenzen geriet auch sein Privatleben. Seine erste Ehe mit Nancy, der Mutter seiner drei Kinder, Tina, Nancy und Frank Jr., war gescheitert, weil Sinatra immer wieder Affären hatte, mit unbekannten Nachtclubtänzerinnen genauso wie mit den schönsten Frauen Hollywoods. Seine zweite Ehe mit der Schauspielerin Ava Gardner, der großen tragischen Liebe seines Lebens, zerbrach ebenfalls und soll ihn sogar in einen Selbstmordversuch getrieben haben. Das bigotte, konservative Mittelstandsamerika atmete erleichtert auf: Schließlich hatte Sinatra, der Emporkömmling, nie so recht die Tischmanieren der feinen Gesellschaft angenommen, auch wenn er noch so sehr um ihre Anerkennung buhlte. Allein, er prügelte sich zu oft, soff ganze Tage und Nächte mit seinen Freunden, dem sogenannten Rat Pack durch, suchte die Nähe von Mafiabossen, schlief mit viel zu vielen zu schönen Frauen. Und zu allem Überdruss machte er sich auch noch bei jeder Gelegenheit für die Rechte der unterdrückten Schwarzen und für andere liberale Ideen stark, die im damaligen Klima praktisch als kommunistisch galten. Dass Sinatra jetzt am Boden war, gönnte ihm die große Mehrheit der Amerikaner.

Das Comeback: Frank Sinatra dachte aber nicht daran aufzugeben, jedenfalls nicht lange. Der Mann hatte ein Herz wie Löwe, und mehr Mumm in den Knochen als Arnold Schwarzenegger, Sylvester Stallone und Bruce Willis zusammen. Er spielte 1953 für eine minimale Gage den Soldaten Angelo Maggio im Hollywoodkriegsdrama Verdammt in alle Ewigkeit, bekam dafür einen Oscar und einen neuen Plattenvertrag mit Capitol Records, wo er – erwachsen geworden – sein einziges echtes Comeback schaffte. Auch seine Stimme war gereift. Merklich tiefer geworden, war sie vom Tonumfang zwar nicht mehr ganz so brillant und flexibel, wirkte aber noch eindringlicher und gefühlvoller als früher.

In den Capitol-Jahren passte für Frank Sinatra einfach alles. Er arbeitete mit den besten Songschreibern und Arrangeuren zusammen, und mit den genialen Orchesterchefs Nelson Riddle, Billy May und Gordon Jenkins. Mit ihnen erfand er ein neues Medium: die Langspielplatte. Zwar hatte Sinatra schon 1945 mit Axel Stohrdahl mit The Voice eine Art Album aufgenommen, doch jetzt produzierte er bei Capitol Records in knapp neun Jahren an die zwanzig Konzeptalben, deren Songs jedes Mal eine bestimmte Grundstimmung, ein übergeordnetes Thema zum Inhalt hatten. Während allein schon die schönen Plattenhüllen einzigartig sind, werfen einen die großartige Musik und Sinatras wunderbarer Gesang einfach um. Grandiose Alben wie In The Wee Small Hours oder Only The Lonely reihten eine traurige Ballade an die andere, und porträtierten The Voice als einsamen Wolf, als an der Liebe und am Leben Leidenden. In Song For Swinging Lovers und Nice ‘N’ Easy zelebrierte er den lebenslustigen, erfahrenen Liebhaber. In Come Fly With Me und Come Swing With Me gab er weltgewandten, beschwingten Lebemann.

Die Frauen – sie liebten und begehrten Frank Sinatra einmal mehr. Und die Männer? Sie bewunderten ihn jetzt erst recht. Und mal ehrlich, wer wäre nicht gern einmal so wie Sinatra gewesen? Zumal er auch modisch einen erstklassigen Stil hatte. Mit seinen scharfen Anzügen, seinen Krawatten und Hüten und seiner ganzen weltmännischen Art war er der Inbegriff der Coolness, das Inbild des modernen Nachkriegsmannes. Ein runderneuerter Erwachsener, der reif geworden worden war, ohne verknöchert zu werden, und der sich auch im fortgeschrittenen Alter die richtige Haltung, sein Herz und die nötige Lässigkeit bewahrte.

Ol’ Blue Eyes: Danach musste Frank Sinatra niemandem mehr etwas beweisen. Er hatte alles erreicht. Er gründete Anfang der 1960er Jahre seine eigene Plattenfirma Reprise Records, wo er der Chairman Of The Board war, und produzierte weiterhin ein Album nach dem anderen, mit jetzt öfter auftretenden Formschwankungen. Er förderte die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten und wandte sich dennoch aus Trotz den konservativen Republikanern zu, als sich Kennedy wegen seines Lebenswandels und seiner angeblichen Kontakte zur Mafia von ihm distanzierte. Er sang mit Strangers In The Night und That’s Life weitere Welthits und versuchte sich an neuen Popliedern, die nicht immer für ihn passten.  Frank Sinatra wollte als Sänger nicht von der Bühne abtreten, dabei sein, dran zu bleiben war für ihn alles. Er wollte nicht wahrhaben, dass die Welt und die Musik inzwischen völlig anders waren als in jener Zeit, aus der er stammte. Ol’ Blue Eyes, wie er sich mittlerweile selbst scherzhaft nannte, wollte immer noch dazu gehören und gehört werden. Sein beherztes Streben war, wie bei allen Helden, ein wenig tragisch, ein wenig lächerlich, aber auch bewundernswert. Und wenn er einen guten Tag, einen guten Song, ein gutes Orchester erwischte, war er immer noch großartig. Als 1968 weltweit die Studenten gegen den Vietnamkrieg demonstrierten, forderte er mit seinem Seelenbruder Dean Martin in einer Bar in Las Vegas mit einem selbstgemalten Schild „Freie Mädchen für alle“. Als  sich 1969 die Hippie-Generation in Woodstock zusammenkauerte, verweigerte The Voice die Teilnahme und konterte seelenruhig mit „My Way“. Was sollten ihm denn die paar Hippies schon vormachen? Vom Leben wusste er doch selbst mehr als genug.

Der lange Abschied: 1971 dankte Frank Sinatra überraschend ab, und sang auf der Bühne die letzte Zeile „’Scuse me while I disappear…“ und verschwand im Dunklen. Zwei Jahre später hatte er Golfspielen, Pokernächte und Martinischlürfen satt und kehrte mit neuer Platte und einer Reihe von Konzerten zurück: Ol’ Blue Eyes is back, hieß es nun. In seinen letzten beiden Dekaden wechselten allerletzte Tourneen, Abschiedskonzerte und immer seltener werdende Plattenproduktionen einander ab. Auch seine letzten beiden Duets-Alben, auf denen er mit jungen Popstars noch einmal seine alten Klassiker sang, entsprangen seinem unbedingten Willen, nicht aufgeben zu wollen. Sie waren ein letztes Aufbäumen, machten aber schmerzlich bewusst, dass selbst ein göttlicher Sänger wie Ol’ Blue Eyes einmal den Weg alles Fleisches würde gehen müssen. Aber davor sang der Alte in einem Duett mit U2-Sänger Bono den Jungen noch einmal in Grund und Boden. Während sich jener aufplusterte wie ein geiler Gockel, der seit Monaten keine Henne mehr gesehen hat, war Frank Sinatra souverän, cool, abgeklärt und bewegend wie eh und je.

Eines seiner letzten Konzerte sang The Voice am 5. Juni 1993 in Stuttgart: Seine Stimme war schon zittrig und brüchig, und weil er sie sich nicht mehr merken konnte, musste er die Songtexte er vom Teleprompter ablesen. Als er aber Lieder wie die tieftraurige Ballade One For My Baby anstimmte, rührte er nicht nur den im Publikum befindlichen Autor dieser Zeilen zu Tränen. Der alte Frank war schlicht und einfach großartig, sein Charisma, seine Stimme, sein Sexappeal, seine Überzeugungskraft, sie wirkten noch immer. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie alle ihren 1000. Geburtstag erleben“, scherzte er zum Abschied, „und die letzte Stimme, die Sie vor ihrem Tod hören, soll dann die meine sein.“ Das Lachen blieb einem im Hals stecken.  Frank Sinatra ist nicht freiwillig von der Bühne und dieser Welt abgetreten. Dafür hat er das Leben, die Frauen, das Singen zu sehr geliebt. Ist die Welt nach seinem Abgang dieselbe geblieben? Nein. Mit Frank Sinatra hat sich das 20. Jahrhundert verabschiedet.

Basiert auf einem im Juni 1998 anlässlich des Ablebens von Frank Sinatra veröffentlichten Essay, komplett überarbeitet und erweitert im Dezember 2023

© Cover pics snapped by the author.

Der Tag, an dem John Lennon gestorben ist

John Lennon wurde nur vierzig Jahre alt. Weil er von einem irren Killer am 8. Dezember 1980 in New York erschossen wurde. Sein Licht strahlt jedoch unauslöschlich weiter.

Natürlich kann ich mich an diesen Tag erinnern. Diesen grauenhaften 8. Dezember 1980, an dem John Lennon gestorben ist. Jenen Tag, an dem der frühere Beatle auf dem Gehsteig  in Manhattan, New York, vor dem Dakota Building erschossen wurde, wo er, Yoko und Sean lebten,. Von einem irren Killer, dem hier nicht die zweifelhafte Ehre zuteilwerden soll, seinen Namen zu nennen, und der auf immer in einem Gefängnis der USA eingesperrt bleiben möge.

Die Erinnerung an die Ereignisse vom 8. Dezember 1980 ist so präsent, als wäre es gestern gewesen. Die Tage, an denen John F. Kennedy und Martin Luther King gemeuchelt wurden, waren für mich zu früh. Der Tag, an dem Elvis Presley starb, traf mich aber sehr. Doch jener Tag, an dem John Lennons Leben so tragisch und sinnlos enden musste, hat sich so tief in die Festplatte in meinem Kopf eingebrannt wie kein anderer schrecklicher Tag. Tiefer auch als die fürchterlichen NewYorker 9/11-Terror-Bilder von 2001 oder horrible Ereignisse jüngeren Datums. Damals konnte ich den ganzen Tag lang an nichts anderes mehr denken als an John Lennons grauenvolles, viel zu frühes Ende.

Nicht einmal die Dias von damals bräuchte ich,  um mich an diesen Tag zu erinnern. Darauf ist mein bester Freund und Studienkollege Hans zu sehen, wie er sich eine englische Zeitung entsetzt vor das Gesicht hält, mit der Schlagzeile, dass John Lennon erschossen wurde – mit seiner runden Nickelbrille und den schulterlangen Haaren sah Hans John Lennon sogar ähnlich. Die Nacht nach Johns Tod  haben wir gemeinsam durchwacht und durchgeredet, und die ganze Zeit über John Lennons Lieder und die seiner Beatles gehört.

Nach John Lennons Ermordung habe ich keine andere Platte so oft gehört wie seine und Yoko Onos gerade neue Langspielplatte Double Fantasy. Bis ins nächste Jahr hinein hat sie meinen Plattenspieler kaum einmal verlassen.

Yoko Ono hat dann nach der Schreckenstat zu einem Positive-Gedanken-rund-um-die-Welt-und-raus-ins-Universum-Schicken für John Lennon aufgerufen. Es sollte um eine bestimmte Uhrzeit geschehen, ausgehend von einer im New Yorker Central Park versammelten Menschenmenge. Ich saß, als das passierte, gerade in einem Zug nach Irgendwo. Aber ich spürte die aus dem Central Park kommenden Vibes für John Lennon in diesem Moment, und ich schickte meine Vibes retour nach New York und überall in die Welt hinaus: „You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one / I Hope someday you’ll join us / And the world will be as one …” (John Lennon, Imagine, 1971)

Record Collection N° 161: John Lennon & Yoko Ono “Double Fantasy” (Geffen Records, 1980)

„Double Fantasy“ war das letzte Album von John Lennon, das kurz vor seinem Tod veröffentlicht wurde, und das er sich mit Yoko Ono, der Liebe seines Lebens, teilte. Eine Herzensangelegenheit.

Double Fantasy war John Lennons erstes Album nach fünf Jahren, in denen er sich als Hausmann ins Dakota Building In Manhattan zurückzog, den Haushalt führte, makrobiotisch kochte und sich um ihrer beiden kleinen Sohn Sean Ono kümmerte, während Yoko Ono in ihrem Büro ein paar Stockwerke weiter unten Geschäfte machte. Die Kritiken für Double Fantasy waren als am 17. November 1980 im United Kingdom und in den USA veröffentlicht wurde, nicht gerade berauschend. Vor allem, weil es sich nur um ein halbes neues Album von John Lennon handelte, da Lennon sich das Album mit Yoko Ono, der Liebe seines Lebens, teilte. Auf der Innenhülle der Platte stand über den abgedruckten Songlyrics: DOUBLE FANTASY – A Heart Play by John Lennon & Yoko Ono.

Auf jeden der sieben Songs von John folgte einer von Yoko, teils direkte Antworten auf den Song von John davor. Mit Hard Times Are Over, hat Yoko, die John “Mutter” nannte, das letzte Wort auf Double Fantasy. Im Roman Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens (2020) des US-Autors Tom Barbash, einer spannenden Mischung aus Realem und Erfundenem, lebt der junge Ich-Erzähler mit seiner Familie im Dakota Building, wo John Lennon und er Freunde werden. Über Double Fantasy denkt der junge Mann so: „Es hieß so, weil er und Yoko wollten, dass das Album nur zur einen Hälfte aus seinen Songs bestand und zur anderen aus ihren. Ich war nicht der Einzige, den diese Neuigkeit enttäuschte.“

Dem deutschen Autor Frank Goosen geht es in seiner Beatles-Huldigung in der KiWi-Musikbibliothek (2020) ähnlich: „Auf der Platte wechselten sich Songs von John Lennon und Yoko Ono ab. Ich kann nicht sagen, dass mich das begeisterte.“ Weil Goosen die Songs von John Lennon auf Double Fantasy aber toll fand, stellte er nach Erscheinen des 1984 posthum veröffentlichten Albums Milk and Honey, auf dem es wieder im Wechsel Stücke von John und Yoko gab, eine Seite einer C90-Cassette mit allen John Lennon Songs von beiden Platten zusammen. Heute hätte er, so schreibt Goosen, diese Lennon 80 Playlist immer noch auf seinem iPhone.

Natürlich habe ich so etwas auch versucht, und eine Playlist mit den sieben Lennon-Songs von Double Fantasy und den sechs Lennon-Songs von Milk and Honey, darunter starke Stücke wie I’m Stepping Out, Nobody Told Me oder Borrowed Time und die berührend fragile Klavierballade Grow Old With Me, zusammengestellt. Mit diesen dreizehn Songs wäre Double Fantasy wohl ein klasse Comeback-Album von John Lennon geworden. Und zugleich ein hell strahlendes Signal in Richtung einer würdigen Zukunft, wenn nicht geschehen wäre, was am 8. Dezember 1980 geschehen ist. Aber Lennon wollte so ein Comeback-Album eben nicht. Und ich muss zugeben, beim Hören meiner Lennon 1980-Playlist, in der ich am Ende auch noch seine Double-Fantasy-Songs in der Stripped-Down-Version von 2010 drangefügt habe, fehlt mir Yoko Onos oft hysterischer (in Kiss Kiss Kiss echt orgiastischer) Avantgarde-Pop dann doch – irgendwie.

In ihrer tiefenentspannten Gelassenheit und liebevollen Sanftheit waren John Lennons Songs und das konsequente des Double-Fantasy-Konzepts aber ebenso radikal, wie die Beatles wegen Yoko in die Luft zu sprengen, danach zum friedensbewegten Power-To-The-People-Agitator zu werden und auf seinem ersten richtigen Soloalbum in einer musikalischen Psychotherapie seine Seelenqualen bloßlegte.

Mit dem modernen amerikanischen Rockmusik-Produzenten Jack Douglas (Cheap Trick, Aerosmith) und Topmusikern wie den Gitarristen Earl Slick (David Bowie) und Hugh McCracken (Steely Dan, Billy Joel, Paul McCartney), dem Bassisten Tony Levin (Peter Gabriel, Paul Simon, Lou Reed) oder dem Schlagzeuger Andy Newmark (Roxy Music, Pink Floyd, David Bowie) führte John Lennon auf Double Fantasy die schon mit dem 1973er Album Mind Games begonnene Amerikanisierung seines Sounds konsequent fort.

Viele seiner Songs auf Double Fantasy und Milk and Honey schrieb John Lennon nach einem gefährlichen Segel-Turn, der seine kreativen Kanäle wieder geöffnet hatte, auf den Bahamas. Lennons Lyrics lesen sich wie schon seit Beatles-Zeiten oft wie Tagebucheintragungen. Im modernisierten Doo-Wop von (Just Like) Starting Over passiert genau das, was der Songtitel sagt. In Watching The Wheels bekennt er, dem Weltentreiben jetzt mal gelassen zuzusehen. Im so kraftvoll wie seine früheren Soloplatten rockenden I’m Losing You, gesteht er, Yoko untreu gewesen zu sein. Woman ist eine von Herzen kommende Liebeserklärung an Yoko und die Frauen der Welt, eine beachtliche Wandlung für den misogynen Macker, der Lennon früher gewesen sein soll. Im funky Rhythm & Blues-Kracher Cleanup Time besingt John seine und Yokos neue Häuslichkeit. Im beschwingten Dear Yoko beschwert er sich aber, dass Yoko zu wenig Zeit mit ihm verbringe. Im wunderbar frohen Wiegenlied Beautiful Boy (Darling Boy) singt Lennon nicht nur eine seiner besten Textzeilen („Life is what happens to you while you‘re busy making other plans“), er deklariert auch seine grenzenlose väterliche Liebe für seinen und Yokos Sohn Sean, eine väterliche Liebe, die John selbst nie kennengelernt hatte.

Nicht wenige Kritiker verrissen Double Fantasy, als es 1980 veröffentlich wurde. John Lennons Ermordung nur drei Wochen später änderte die Einschätzung (und auch den kommerziellen Erfolg) der Platte schlagartig. Und je mehr Zeit vergeht, desto heller strahlt die Schönheit von Double Fantasy, und ehrlich noch mehr jene von John Lennons Liedern auf der Platte.

Ich habe mit Sicherheit keine andere Platte so oft ohne Pause gehört wie Double Fantasy, in den Wochen nachdem John Lennon so tragisch ums Leben gekommen ist. Vielleicht auch weil ich unterschwellig dachte, die schreckliche Tat vom 8. Dezember 1980 so ungeschehen machen zu können.

John Lennon & Yoko Ono Double Fantasy, Geffen Records, 1980

© Double Fantasy Pics photographed by the author

Record Collection N° 162: John Lennon “Gimme Some Truth” (Universal Music International, 2020)

Eine allerfeinst zusammengestellte, kraftvoll und brillant klingende Kollektion der Solosongs von John Lennon  nach der Trennung der Beatles. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

Die erste Best-Of-Sammlung von John Lennon, Shaved Fish, war die einzige die zu Lennons Lebzeiten 1975 veröffentlicht wurde. Und sie sollte für eine lange Zeit auch die beste bleiben, obwohl nach der Ermordung des Ex-Beatle im Dezember 1980 eine Vielzahl an Lennon-Kollektionen erschienen ist, darunter die formidablen Working Class Hero: The Definitive Lennon (Doppel-CD, 2005) und Power To The People: The Hits (CD/DVD, 2010).

Mitunter waren das aber lieblos zusammengeschusterte Einzel-CDs oder überbordende Box Sets, die man interessehalber vielleicht ein paarmal hört und dann nie wieder, und sie verstauben im Regal. Auch von Gimme Some Truth, das zum 80. Geburtstag von John Lennon erschienen ist, gibt es gleich mehrere Editionen mit so vielen CDs oder LPs, das man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Übrigens hat es bereits 2010 eine pralle 4-CD-Box gleichen Namens gegeben, die ambitioniert wirkte, aber erneut mehr etwaswas für Sammlerregale war statt häufig gespielt zu werden.

Bei Gimme Some Truth anno 2020 machen zwei Fakten den Unterschied: Erstens wurden die 36 Songs dieser 2-CD-Deluxe-Edition von Johns Sohn Sean und Yoko Ono persönlich ausgewählt. Und es ist fast alles mit dabei, was für das Beste von John Lennon dabei sein sollte.  Ob Singles oder Albumtracks, die meisten sind natürlich sehr bekannt, aber oho: Give Peace A Chance, Cold Turkey, Instant Karma!, Power To The People, Gimme Some Truth, Jealous Guy und Imagine bis Whatever Gets You Thru The Night, Stand By Me, (Just Like) Starting Over, Watching The Wheels, Woman, Losing You oder Nobody Told Me erzählen John Lennons Geschichte nach der Trennung der Beatles. Das Spektrum seiner Themen – Seelenschmerz, Liebe, Friede, Religion, Rassismus, Politik, Anti-Beatles – ist präsent. Auch wenn sein ultimativer Trauma-Song Mother ebenso wie Woman Is The Nigger Of The World aus welchen Gründen immer weggelassen wurde, auf Working Class Hero war er 2005 jedenfalls noch zu finden. Dafür gibt es mit der Angela (über die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis) von Some Time In New York City und Angel Baby, ein Outtake der Aufnahmesessions des 1975er Album Rock ’n‘ Roll, zwei nicht so oft gehörte Songs von John Lennon.

Zweitens ist der remasterte Sound, der unter der Ägide von Sean Lennon abgemischt wurde und von der Plattenfirma als „Ultimate Remixes“ beworben wird, eine Offenbarung. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

John Lennon Gimme Some Truth, Universal Music International, 2020