Talk Show/Interviews N° 5: Herbert Grönemeyer.
Im Gespräch mit Herbert Grönemeyer im Spätsommer 2002 in Köln anlässlich der Veröffentlichung seines Albums Mensch.
Herbert Grönemeyer feiert heute seinen 65. Geburtstag. Was für ein Leben. Was für ein Künstler. Was für ein Mensch. Im Spätsommer 2002 konnte ich ein langes Gespräch mit Herbert Grönemeyer in Köln in den Räumen seiner Plattenfirma führen. Es war eines der spannendsten, intensivsten, tiefgehendsten Interviews, das ich in meinem Journalistendasein führen konnte. Vier Jahre zuvor waren seine Frau und sein Bruder viel zu früh verstorben, Herbert Grönemeyer stürzte in eine große Lebenskrise. Sein berührendes Album „Mensch“, das bis heute nicht an Wert und Wirkung verloren hat, war auch der Versuch, seinen Schmerz und seine Sprachlosigkeit zu überwinden. In unserem Gespräch mutmaßte Grönemeyer übrigens: „Ich will nicht in zehn Jahren noch über die Bühne heizen wie ein Stier“. Naturgemäß hat er weiter gemacht, und er wird weitermachen, wenn Corona ihn wieder lässt und seine Fans in seine Konzerte. Er macht es einfach zu gut. Happy Birthday, Herbert Grönemeyer!
„Du fehlst“ – zwei knappe, tiefblau eingefärbte Worte aus dem Titelsong von Herbert Grönemeyers neuem Album Mensch sagen genug. Mit einer großen emotionalen Radikalität, die sich sowohl in den Songtexten als auch den musikalischen Arrangements ausdrückt, versucht der heute in London lebende Sänger und Musiker sich der unbegreiflichen Tragödie zu nähern und horcht in seine wunde Seele. Kein Jammern, Selbstmitleid oder Depression, dafür genaue Beobachtungen, berührende Bilder, kleine Wahrheiten, große Gefühle. Eine große Liebe. Eine tiefe Traurigkeit. Erst am Vorabend unseres Gesprächs im Kölner Hauptquartier seiner Plattenfirma hat Grönemeyer die endgültige Version von Mensch fertiggestellt und präsentiert sie an diesem Tag aufgeregt und sichtlich glücklich zum ersten Mal auch seiner Plattenfirma. Es geht wieder voran.
Klaus Winninger: Die banalste und brennendste Frage ist wohl jene nach Ihrem Befinden. Wie geht es ihnen im Sommer 2002?
Herbert Grönemeyer: Ich schwanke zwischen Melancholie und Zuversicht. Für mich hat die Zeit neu begonnen vor vier Jahren, als ich in eine Situation geraten bin, für die es keine Rezepte gibt. Und jetzt nach vier Jahren habe ich zumindest das Gefühl, ich lerne damit zu leben, dass dies Bestandteil meines Lebens ist, dieses Trauma, diese Trauer, diese Farbe. Und auf der anderen Seite sehe ich, dass andere Farben wieder klarer werden. Ich habe das Gefühl, ich bin auf dem Weg wieder am Leben teilzunehmen und deutlicher ans Leben heranzukommen. Und das macht mir unheimlich Hoffnung. Aber es ist eine neue Zeitrechnung, und diese Platte ist ein Versuch, diese Zeit zu beschreiben und gleichzeitig für sich selber eine Perspektive zu eröffnen. Also wieder Musik machen zu können und seine Sprachlosigkeit zu überwinden.
KW: Hat sich durch die Arbeit an den neuen Liedern Ihr persönliches Befinden verbessert?
Herbert Grönemeyer: Ja, mit Sicherheit. Ich glaube nicht, dass die Zeit Wunden heilt, aber die Zeit lässt einen lernen mit Dingen besser umzugehen und sie auch zu akzeptieren. Anfangs hatte ich große Angst, dass mir das alles abhanden kommt. Ich wusste nicht, ob ich das je wieder kann. Ich habe versucht mich hinzusetzen und zu schreiben, und dann war alles immer sehr traurig, grau und düster. Da habe ich gedacht, vielleicht ist es das schon gewesen. Dabei war Musikmachen so lange ein elementarer Bestandteil meines Lebens. Anfang letzten Jahres hat Alex Silva, mit dem ich die neue Platte dann gemacht habe, gesagt: Komm Herbert, wir setzen uns einfach hin und reden und fangen mal an. Dass ich diese Platte jetzt geschafft habe, ist ein enormer Schritt für mich. Ich glaube, in einem Jahr wird mir damit ein großer Stein von der Seele fallen.
KW: War es wichtig, diese Lebenskrise nicht nur als Mensch, sondern auch als Musiker und Songschreiber verarbeiten zu können?
Herbert Grönemeyer: Ich mag das Wort „Trauerarbeit“ nicht, weil es nicht stimmt. Man kann so etwas nicht verarbeiten, sondern man lernt zu begreifen, dass der Tod einfach Bestandteil des Lebens ist. Ich glaube, ich habe mich diesem Thema mit meinen Songs genähert. Ich habe mich mit der neuen Platte diesem Thema gestellt, so würde ich es eher sagen. Zu begreifen und zu akzeptieren, dass der Tod zum Leben gehört, ist eine Lektion, die einen demütiger werden lässt. Aber gleichzeitig liegt darin die Chance, dass das Leben dadurch auch präziser wird. Man lernt viele Dinge schärfer anzugehen und sich mit Nebensächlichkeiten nicht mehr so viel aufzuhalten und sich über viele Dinge auch nicht mehr so viele Sorgen zu machen. Man beginnt, sein Leben aufzurollen, man denkt viel mehr über sich selber nach, man bewegt sich rückwärts, um irgendwann wieder nach vorne gehen zu können.
KW: Wie geht es Ihnen eigentlich mit der fertigen Platte? Der Weg oder Dort und Hier sind zum Beispiel zwei unglaublich aufwühlende, beklemmende Lieder. Können Sie selbst diese Songs überhaupt hören?
Herbert Grönemeyer: Schlecht. Ich höre sie auch nicht mehr, für mich ist diese Platte jetzt erst mal tabu. Der Weg ist auch eine Nummer, die meine Kinder nicht so mögen, weil sie sie sehr traurig macht. Ich habe mit ihnen auch gesprochen und sie gefragt, meint ihr denn, dass ich das überhaupt singen kann, wenn euch das auch so traurig macht? Und sie haben geantwortet: Es ist ja auch sehr traurig, und wenn du das geschrieben hast, musst du das auch singen. Ich fand das toll, aber ich werde diese Lieder erst wieder in die Hand nehmen, wenn ich sie live spiele.
KW: Mir fällt dazu auch das erste Soloalbum von John Lennon sein, wo er auch über solche essentiellen Themen singt, sich mit dem Tod seiner Mutter auseinandersetzt und versucht, sich dem Unbegreiflichen zu nähern.
Herbert Grönemeyer: Es ist ein verzweifelter Versuch. Im Grunde genommen erzählt man die Geschichte sogar zwischen den Zeilen. Was ich erzählen will, steckt gar nicht in den Worten selbst, sondern steckt zwischen den Zeilen. Es ist der verzweifelte Versuch mit Worten etwas Unaussprechliches zu sagen, ja sich dem auch nur auf hundert Meter zu nähern. Aber auf der anderen Seite ist es eben so wie meine Kinder gesagt haben: Wenn du es geschrieben hast, dann musst du es auch singen. Und ich hätte es nicht geschrieben, wenn ich nicht das Gefühl gehabt hätte, ich müsste das schreiben. Wenn du so empfindest, dann schreib das auch! Das ist eine wahnsinnige Gratwanderung. Als ich diese Lieder den Kindern vorgespielt habe, haben sie geweint, und Alex fing auch an zu weinen. Das klingt jetzt so pathetisch, ich weiß. Aber der Mensch ist deswegen Mensch, weil er auch schwach ist. Wenn wir uns in der Schwäche nähern, dann treffen wir uns. Der Mensch trifft sich nie, wenn er über seine Erfolge redet und wie toll er ist, er trifft sich nur und ist sich im Grunde nur dann nahe, wenn er in der Lage ist, über seine Schwächen zu sprechen.
KW: Werden in solchen existentiellen Situationen Begriffe wie Pathos und Kitsch nicht hinfällig?
Herbert Grönemeyer: Mit Sicherheit. Aber man muss schon genau gucken, wie präzise und wie fein man das macht. Man muss darauf achten, ob man das Ganze vielleicht schon zu zelebrieren beginnt. Aber wenn man bei sich bleibt und versucht, alles so detailliert wie möglich zu beschreiben und es nicht hochzuziehen, dann ist es in Ordnung. Dieses Gute-Nacht-Lied Dort und hier, das ist mir einfach passiert. Plötzlich ist mir der Flügel eingefallen und die anderen Bilder. Da steckt auch viel vom eigenen Unterbewussten drin, das sich aufgestaut hat über die Zeit. Ich war richtig geschockt, oh Mann, was hab ich denn da geschrieben? Bin ich da zu weit gegangen? Kann man so etwas überhaupt schreiben?
KW: Braucht es Mut, sich mit solchen Liedern an die Öffentlichkeit zu begeben und sein Innerstes nach außen zu kehren?
Herbert Grönemeyer: Wenn ich mich dieser Gefahr nicht stellen will, dann sollte ich aufhören, Musik zu machen. Das ist ja generell in der Kunst das Problem. Man stellt was zur Debatte und man sollte es, wenn’s geht, das auch so radikal wie möglich machen. Zumal das ein Thema ist, das uns alle angeht und von dem auch sehr viele Menschen betroffen sind. Bleibt alles anders habe ich damals für meine Frau geschrieben, und ich habe in den letzten Jahren immer wieder Briefe gekriegt und Mails gekriegt von Leuten, die mir schrieben, wie ihnen die Nummer durch die Chemotherapie geholfen hat. Ich schreibe aber meine Lieder nicht in der Hoffnung, dass es anderen hilft, ich versuche, meine Gefühle dezidiert zu beschreiben und möchte, dass es andere betrifft. Dann fängt der Kopf eines jeden sowieso selber an zu arbeiten. Der Tod ist ein Thema, mit dem sich letzten Endes jeder auseinandersetzen muss. Und es ist besser, den Tod grundsätzlich ins Leben mit einzubeziehen.
KW: Und doch sind Krankheit und Tod ein großes Tabu in unserer Gesellschaft und gleichzeitig das, was uns am meisten Angst macht.
Herbert Grönemeyer: Weil absurderweise in der westlichen Welt der Tod irgendwie auch als Scheitern gilt. Wenn man stirbt, wenn man krank wird oder dahinsiecht, dann ist das immer auch eine Form von Scheitern. Was man nicht weiß, ist, dass zum Sterben unheimlich viel Kraft gehört. Zum Sterben gehört eine große Energie. Sich dem Moment zu stellen und den Moment auch zu gehen, das erfordert unglaubliche Kräfte. Und im Grunde genommen wissen wir das auch alle. Aber wir wollen nicht darüber reden. Wir sagen lieber, der Sauberkeitsphilosophie der Amerikaner entsprechend, Altern ist nicht gut, wir lassen uns liften und wollen immer schön jung aussehen. Das ist der grausame Versuch, sich von dem Thema, dem man sich nähert, immer weiter zu entfernen.
KW: Auf ihrem letzten Album Bleibt alles anders gab es schon Andeutungen auf das, was geschehen wird. Waren Zeilen wie „Keiner fängt für mich von vorne an“ nur eine Vorahnung oder schon mehr?
Herbert Grönemeyer: Eine Platte erzählt mir selber auch erst nach einem oder zwei Jahren ihre Geschichte. Aus der Distanz hat mich auch vieles verwundert und verblüfft. Es gibt viele Dinge, die das Unterbewusstsein vielleicht schon vorher sieht. Allein dieser Satz „Bleibt alles anders“, dabei war das Lied eher gedacht als Versuch, alle Kräfte zu mobilisieren, die nötig sind, um mit dieser Situation klar zu kommen. Das sind Lieder, in denen Vorahnungen stecken, von denen man selber aber auch nichts wusste und die einem im Nachhinein richtig erschrecken.
KW: Sind Sie im Lauf der Jahre dem Sinn des Lebens auf die Spur gekommen?
Herbert Grönemeyer: Ich glaube, dass dieses Jahrhundert das Jahrhundert der Menschlichkeit wird, und dass der Mensch begreift, was ihm im letzten Jahrhundert abhanden gekommen ist, weil man so egomanisch und karrierebewusst war. Die Leute bemerken dieses Defizit an menschlicher Nähe, sie fühlen, dass ihnen etwas fehlt. Also gehen sie auf die Suche. Und sie werden begreifen, dass man Beziehungen zu anderen Menschen hat, weil der Mensch etwas ganz Spezielles geben kann. Und das ist nicht mit Geld zu bezahlen, und es hilft einem auch nicht weiter und man wird dadurch nicht erfolgreicher, aber es erfüllt einen einfach mit Leben. Ich habe das bei meinem Vater immer bewundert. Der hat seine Freunde seit seiner Studienzeit. Er ist jetzt 86 und hat immer noch sieben, acht Freunde, die ihm ganz nahe sind. Und weil er die hat, hat er auch immer so in sich geruht und war ein freudiger und zufriedener Mensch. Und ich denke, darum geht’s.
KW: Heißt das neue Album deshalb Mensch?
Herbert Grönemeyer: Dahinter steht die Erfahrung, die ich gemacht habe. Ich habe gerade in dieser Zeit unglaublich viel Menschlichkeit erfahren. Was mir letztendlich aus dieser schweren Situation geholfen hat, war die menschliche Nähe, die ich von Freunden erfahren habe. Das hat mir sehr viel Kraft gegeben und auch meinen Kindern. Ohne meine Freunde wäre ich ganz sicher nicht schon wieder so weit auf zwei Beinen, wie ich’s heute bin.
KW: Sie haben gesagt, Sie hätten in dieser Lebenskrise bewusst Rückschau gehalten. Wie denken Sie heute über den 20-jährigen oder 30-jährigen Herbert Grönemeyer? Hätte er etwas anders machen sollen?
Herbert Grönemeyer: Mein Problem ist, dass ich eine unheimliche Dynamik habe. Aber nicht im positiven Sinne, das ist zum Teil etwas übertrieben. Ich habe unheimlich viel Energie und kann dadurch ermüdend sein. Peter Zadek hat einmal zu mir gesagt, ich sollte vor jeder Vorstellung erst mal einen Waldlauf machen. Diese Energie kann auch dazu führen, dass ich Dinge überrenne oder Dinge gar nicht sehe, die neben mir passieren, weil ich einfach manisch nach vorne laufe. Auf der anderen Seite ist diese Dynamik aber zum Teil auch das, was meine Musik ausmacht und wo sie ihre Kraft herkriegt. Der Riesenerfolg in den 1980er Jahren war wie ein Rennpferd, das man zügeln muss. Das schafft man nicht allein, aber auch für den, der das mitmachen muss, ist das eine enorme Belastung. Das Drama ist, dass das Leben immer rückblickend stattfindet. Man weiß hinterher immer besser, was man hätte tun sollen. Aber etwas mehr Gelassenheit hätte mir damals sicher gut gestanden.
KW: Musik und Sound auf Mensch sind auffallend vielschichtig und facettenreich: das geht von Electropop und TripHop a la Massive Attack bis zu punkigen Rockern. Wie kam es dazu?
Herbert Grönemeyer: Ich habe Alex Silva, mit dem ich das Album produziert und zwei Songs gemeinsam geschrieben habe, schon bei der letzten Platte kennen gelernt. Das ist fünf Jahre her und wir wissen inzwischen, was wir aneinander haben, und wir wollten das so mutig wie möglich auf Platte bannen. Wir haben viel experimentiert im Studio, zum Teil sehr demoartig die Sachen eingespielt und versucht, genau dieses Demoartige auch zu bewahren. Wir wollten das nicht unbedingt noch polieren. Es war ein Kampf miteinander, wir haben jede Nummer so weit ausgereizt, bis wir gesagt haben: Das ist es! Das verträgt die!
KW: Hat die pulsierende Musikmetropole London die Produktion von Mensch beeinflusst?
Herbert Grönemeyer: Ganz sicher. Die Engländer haben diese Attitüde, dass alles nicht so wichtig und wesentlich ist. Man muss hier nicht zur Universität gegangen sein, um Musik zu machen. Hier ist man erst einmal Popstar und guckt dann, was man machen kann. Das wäre für uns Deutsche undenkbar. In London ist alles so unprätentiös und unkompliziert, weil jeder ein Teil des Ganzen sind. Du hast hier auch einen wahnsinnig schnellen Zugang: Pino Palladino, einer besten Bassisten derzeit, hat auf dem Album Bass gespielt, und von der Single haben wir jetzt einen Remix von den Space Monkeyz machen lassen. Dieser Geist und die vielen verschiedenen Sachen, die hier passieren, das beeinflusst einen natürlich. Hier gibt es sogar einen eigenen Garagensender, der spielt den ganzen Tag nur Reggae, und das auch noch in Mono! Und natürlich will man, wenn man hier lebt, mit einer Platte auch zeigen, dass man etwas macht, mit dem man hier mithalten kann.
KW: Sie haben sich beim Projekt Pop 2000 und bei den Wiederveröffentlichungen der drei legendären Alben von Neu! auf ihrem Grönland-Label intensiv mit der deutschen Popgeschichte beschäftigt. War das auch Inspiration für die eigene Musik?
Herbert Grönemeyer: Die Arbeit mit Neu! mit Sicherheit. Auf zwei Stücken ist ja auch dieser Neu!-Beat drunter, diese durchgedrehte Bassdrum, da bleiben schon Sachen hängen. Aber man nimmt nicht nur die Musik auf, sondern auch, wie die eigentlich denken und ticken. Man merkt, wie scharf die immer noch sind. Die haben sich, obwohl sie in Deutschland leben, nicht den Schneid abkaufen lassen. Ihre Platten sind jetzt dreißig Jahre alt und wenn man das heute auflegt, klingt das neuer denn je. Wir haben allein in England 30.000 Stück davon verkauft.
KW: Hat ihnen dieser Erfolg in der Londoner Szene mehr Glaubwürdigkeit und Respekt gebracht?
Herbert Grönemeyer: Natürlich! Wenn ich im „NME“ über eine Platte, die ich auf meinem Label veröffentliche, lese „That’s what we call music“ und da steht in Klammer 10 aus 10 drunter, da freue ich mich drüber. Natürlich sage ich nicht, das habe ich gemacht, aber mir ist es zumindest gelungen, Neu! wieder zusammenzubringen und diese alten Platten zu veröffentlichen. Die Plattenfirmen sind inzwischen unter einem solchen Finanzdruck und an der Börse, da schaufelt keiner den Spaß rein, die müssen sich plötzlich mit so vielen anderen Dingen auseinandersetzen, dass man Gefahr läuft sich zu verlieren und fragt, warum machen wir das eigentlich noch? Weil da plötzlich irgendwelche Wahnsinnigen sitzen, die den Laden zusammenkloppen, weil er Shareholder-kompatibel werden muss. Was wir als Label tun, das macht Spaß. Und genauso will ich meine eigenen Platten machen. Sie müssen mir Spaß machen, und sie sollen den Leuten, die sie hören, Spaß machen. Es muss etwas drin stecken, das eine gewisse melodische Radikalität hat. Ich versuche das, was ich mache, mit der nötigen Verve und mit Druck zu tun. Leute wie Neu! bestätigen mich in dieser Haltung.
KW: Können sie sich vorstellen, einmal nur noch die Plattenfirma zu betreiben und selbst keine Musik mehr zu machen und nicht mehr auf der Bühne zu stehen?
Herbert Grönemeyer: Das werde ich nach der nächsten Tour wissen. Vielleicht spiele danach nur noch in kleinerem Rahmen, in Theatern zum Beispiel. Ich habe in London Goldfrapp oder Manu Chao in Clubs gesehen und das hat eine wahnsinnige Qualität. Dass ich ganz aufhöre, öffentlich Musik zu machen, das kann ich mir nicht vorstellen. Aber es ist natürlich auch eine Frage, wie man würdig alt wird in der Branche. Ich will nicht in zehn Jahren noch über die Bühne heizen wie ein Stier. Jetzt will ich’s halt, und ich freue mich, dass ich wieder etwas gemacht habe, wo es sich lohnt, es live zu spielen. Diesen Hunger hat man schon.
KW: Haben sie schon eine Ahnung, wie es für den Künstler Herbert Grönemeyer nach einer so tiefschürfenden essentiellen Platte wie Mensch weitergehen wird?
Herbert Grönemeyer: Ich hoffe, dass, wenn ich die Platte selber verdaut und verstanden habe, daraus etwas entsteht, das wieder etwas leichter und luftiger wird. Es war mir jetzt halt unmöglich, leichte Sachen zu schreiben. Das ging einfach nicht.
KW: Und wie soll es für den Menschen Herbert Grönemeyer weitergehen?
Herbert Grönemeyer: Das Wichtigste ist, dass ich wieder zurückkomme in mein Privatleben. Ich war speziell in den letzten drei Monaten sehr egomanisch auf mich fixiert, also auch ein bisschen von meinen Kindern weg, und ich muss wieder zurück zu ihnen. Ich bin jetzt alleinerziehender Vater, da habe ich eine andere Verantwortung. Das ist für Künstler nicht das Allerleichteste, aber ich denke, das ist heute das Wichtigste.
KW: Herr Grönemeyer, ich danke für dieses Gespräch.
Herbert Grönemeyer, Mensch, Grönland/EMI, 2002
(Erstveröffentlicht in: now!, Nr. 11, September 2002, komplett überarbeitet im April 2021)
© Abbildungen: EMI/Anton Corbijn & now!