Wegen seiner angegriffenen Gesundheit kann Neil Diamond, der am 24. Jänner seinen 83. Geburtstag feiern konnte, nicht mehr live auftreten oder gar auf Tournee gehen. Was bleibt ist die Erinnerung an seine großartigen Konzerte wie am 27. Mai 2008, wo Neil Diamond in der ausverkauften, vollauf begeisterten Münchner Olympiahalle seine brillanten Qualitäten als Sänger und Entertainer zelebrierte.
Es brauchte nur wenige Minuten, bis Neil Diamond seine Fans in der vollen Münchner Olympiahalle auf die richtige Betriebstemperatur brachte. Ein einziger Song genügte: Diamond spielte zum Auftakt One More Bite Of The Apple seines gerade neuen Albums Home Before Dark, das Kultproduzent Rick Rubin betreut hatte. Man verstand sofort, was den damals 67-jährigen Sänger und Songschreiber mit der grundtraurigen Baritonstimme auch nach fünfzig erfolgreichen Karrierejahren weiter angetrieben hat.
Das Singen, die Songschreiberei, die Bühne, sie ließen Neil Diamond nicht los. Er wollte es noch einmal wissen und suchte eine neue kreative Herausforderung, obwohl er es längst viel gemütlicher hätte haben können in seiner pompösen Villa in Los Angeles, wohin der in Brooklyn, New York, als Sohn einer jüdischen Familie geborene Musiker schon in den 1970ern übersiedelt war, und wo ihn die gepflegte Fadesse geplagt haben dürfte. „Did it once / You can do it once more yeah“, beschwor Diamond seine Muse in One More Bite Of The Apple. Er wollte sich selbst beweisen, dass er sein Songschreiberhandwerk immer noch meisterhaft beherrschte, das er in den 1950ern und 1960ern im Brill Building, dieser legendären New Yorker Popfabrik, erlernt hatte. Und doch musste Neil Diamond lange um seine Anerkennung als großer amerikanischer Songschreiber ringen, weil ihn die hochgestochene Popkritik und Popgeschichtsschreibung als Schlagerlieferanten denunzierte. Verstehen muss man das nicht.
Mit One More Bite Of The Apple begann Neil Diamond also am 27. Mai 2008 seine Live-Show. Die schwarze Akustikgitarre geschultert, durchschritt der Entertainer das Spalier seiner mit vier Backgroundsängerinnen verstärkten elfköpfigen Veteranenband, um am Bühnenrand sein musikalisches Glaubensbekenntnis zu erneuern. Seine Band war eine bunte Mischung aus dem Buena Vista Social Club und einer Showband aus Las Vegas. Diamond sah in seinen engen, schwarzen Jeans, dem schwarzem Westernhemd und dem mit Goldfäden durchwirktem dunklen Sakko verdammt cool aus. Die Bühne gehörte ihm. Sein Charisma unwiderstehlich, sein Gesang grandios, man spürte und glaubte ihm jede Zeile. Dass er ein routinierter, sympathischer Entertainer ist, demonstrierte eine technische Panne nach dem dritten Song. Die drahtlosen Ohrhörer, mit denen der Sänger seine Stimme hätte hören sollen, funktionierten plötzlich nicht mehr. Als ein Roadie minutenlang an Diamond herumnestelte, um das Problem zu beheben, überbrückte dieser die Peinlichkeit mit lässigem Geplauder, das ihn dem Publikum noch näher brachte: „Don’t leave! You will be entertained this evening one way or another!“ – Es folgen, gleich zwei Versionen von „Sweet Caroline“ hintereinander, einmal spontan ohne, einmal mit funktionierenden Ohrhörern gesungen. „Did I do it good?“ Was für eine Frage, Mr. Diamond!
Die Halle tobte. Neil Diamond hatte schon in diesem Moment gewonnen. Seine allerbestens aufspielende Band sowie die superbe Setlist, die immer wieder mit alten, durch funky Latin-Rhythmen aufgepeppten Hits wie I’m A Believer oder Cherry, Cherry auflockert wurde, tat das Übrige. Dann folgten mehrere Songs des 1976 von Robbie Robertson (The Band) produzierten Klassikers Beautiful Noise, einem der besten Alben des Sängers. Diamond war damals auch beim Abschiedskonzert von The Band auf der Bühne, und somit auch im von Martin Scorsese gedrehten Konzertfilm The Last Waltz. Bob Dylan soll damals Neil Diamond hinter der Bühne bösartig verhöhnt haben. Aber selbst ein Bob Dylan kann irren. Weshalb Rick Rubin nach seinen Produktionen für Country-Altstar Johnny Cashauch Neil Diamond rehabilitieren wollte. Home Before Dark, nach dem 2005er Werk 12 Songs schon die zweite Zusammenarbeit der beiden, hievte den Sänger mit seinen jetzt in spartanische Arrangements gekleideten Songs zum ersten Mal in seiner Laufbahn gleichzeitig auf den ersten Platz der Albumscharts auf beiden Seiten des Atlantiks.
Auch in seinen neuen Liedern ging es Neil Diamond um seine Hauptthemen – um Sehnsucht, Einsamkeit, Hunger nach Liebe und zwischenmenschlicher Nähe, um einen Sinn im Leben. Den tiefschürfenden Titelsong von Home Before Dark sang er im Münchner Konzert nach zwei zartbitteren Songs aus seinem alten Kinofilm The Jazz Singer allein zur Akustikgitarre am Barhocker. Es folgten die wehmütigen Sehnsuchtsballaden Brooklyn Roads, I Am… I Said und Solitary Man – alles größte Singer/Songwriter-Kunst. Daran konnten auch die etwas kitschig inszenierten You Don’t Bring Me Flowers und Song Sung Blue nicht rütteln. Rick Rubin wusste nur zu gut, warum er ein Jahr lang Nachrichten auf Diamonds Anrufbeantworter hinterlassen hatte, um mit ihm arbeiten zu können. Neil Diamond gebührt größter Respekt.
Neil Diamond, Olympiahalle München, 27. Mai 2008 – Die Setlist:
One More Bite Of The Apple / Holly Holy / Street Life / Sweet Caroline (spontan ohne Monitorkopfhörer) / Sweet Caroline / Beautiful Noise / Lady Oh / If You Know What I Mean / Cherry, Cherry / Thank The Lord For The Night Time / Hello Again / Love On The Rocks / Home Before Dark / Don’t Go There / Pretty Amazing Grace / Crunchy Granola Suite / Done Too Soon / Brooklyn Roads / I Am… I Said / Solitary Man / I’m A Believer / You Don’t Bring Me Flowers / Song Sung Blue / Man Of God / Hell Yeah / Cracklin’ Rosie / Brother Love’s Travelling Salvation Show
(Erstveröffentlicht in: now! N° 69, Juni 2008, im Jänner 2024 komplett überarbeitet)