Record Collection N° 132: Edwyn Collins „I’m Not Following You” (Setanta Records, 1997)

Nach seinem Welthit „A Girl Like You“ entscheidet sich der schottische Indie-Pop-Kultstar dafür, mal wieder bestens schlecht gelaunt zu.

1985 trennte sich Orange Juice, Edwyn Collins schottische Punk- und New Wave Band, die seit Ende der 1970er Jahre mit hinreißendem Indie-Gitarrenpop brillierte, aber letztlich ohne große Erfolge unterging, die super funky Single Rip It Up mal ausgenommen. Edwyn Collins machte solo weiter, doch auch er entkam dem brotlosen Kultstar-Status nicht. Selbst das formidable, im Herbst 1994 veröffentlichte Album Gorgeous George, wäre, obgleich es erstklassige Kritiken bekam, schnell in der Versenkung verschwunden. Aber ein belgischer Radio-DJ legte schließlich die ausgekoppelte Single A Girl Like You pausenlos auf. Der Rest ist Popgeschichte: A Girl Like You wurde der weltweite Hit, den Edwyn Collins sich Zeit seiner Karriere immer schon verdient hätte. Danach hat der Schotte sein Bankkonto saniert, ein neues Studio eingerichtet und am Album nach dem großen Hit gearbeitet.

Keine leichte Aufgabe. Collins nutzte die zwölf Songs zu einer Standortbestimmung, formulierte ein Bulletin zur eigenen Befindlichkeit und – eine bitterböse Abrechnung mit der Plattenbranche. Nicht umsonst lautet der Albumtitel I’m Not Following You. Nicht einfach als Gag wird am Ende des Titelsongs, der den Abschluss der Platte bildet, eine Herde von Schafen von Maschinengewehren niedergemetzelt. Keep On Burning, Edwyns letzte, schmählich gefloppte Single, die den Erfolg von A Girl Like You hätte wiederholen sollen, ist hier, im Gegensatz zur englischen Albumversion, gar nicht enthalten. Das macht durchaus Sinn. Statt der kurzfristigen Euphorie hat bei Collins nämlich eine merkliche Abgeklärtheit Platz gegriffen, gepaart mit bitterer Sturheit und nostalgischer Sentimentalität.

Edwyn Collins wurde mit I’m Not Following You noch mehr zum starrsinnigen Eigenbrötler,der unter Berufung auf vergangene, natürlich bessere Tage die modernen Zeiten geißelte, die Britpop-Hysterie und sonstige Modetorheiten angiftete und sich partout weigerte, ein neues A Girl Like You zu produzieren. So sehr man seine Geradlinigkeit schätzt – er wirkte damit in Songs wie Adidas World wie ein in die Jahre gekommener Mann, der die Welt nicht mehr verstehen will oder nicht mehr verstehen kann. Nur weil Edwyn Collins seiner obersten Maxime, gute Songs mit schönen Melodien zu schreiben, treu geblieben war, ist seine phasenweise schon unerträglich schlechte Laune auszuhalten.

I’m Not Following You ist ein unspektakuläres, kompromissloses Popalbum, wie es anno 1997 niemand anderer mehr so machte. Edwyn Collins hat die meisten Stücke allein in seinem Studio eingespielt und beweist, welch handwerklich guter Produzent er im Laufe der Jahre geworden ist – mit einem feinen Gespür für gute, mitunter überraschend zeitgemäße Sounds und funky Grooves. Und einmal mehr singt er mächtig gut, er hat eine herrlich süffige Soulstimme. Die Single The Magic Piper (Of Love) ist netter Kitsch-Pop, aber nicht das beste Stück des Albums. Der auf einem heißen Hot-Chocolate-Riff groovende Auftakt It’s A Steal hat noch mehr Klasse. Gleiches gilt für den dreisten 1970er Disco-Stampfer Seventies Night, bei dem der Dauergrantler Mark E. Smith von The Fall aushilft. No One Waved Goodbye ist – überraschend – ein anmutiger, zarter Folk-Pop-Song – bezaubernd wie ein Blick in die Augen von Audrey Hepburn. Superficial Cat schleicht als geschmeidige Zeitlupenversion von A Girl Like You aus den Lautsprechern.

Mit Running Away With Myself, dem Kernstück des Albums, hat Edwyn ein echtes Meisterstück gefertigt: eine sanft und funky fließende Ballade, ein gelungenes Update des 1983er Orange Juice Hits Rip It Up, und mit ihrer Melodie selbst eiskalte Tage erwärmt. Mit ihr dockt Edwyn, leicht vergrämt zwar, letztlich doch an die Gegenwart an.

Edwyn Collins I’m Not Following You, Setanta, 1997

(Spiegel Online, 19.09.1997, komplett überarbeitet im Februar 2022)

© Not Following You Pics shot by Klaus Winninger

Record Collection N° 159: Wyclef Jean “The Carnival” (Columbia Records, 1997)

Wyclef Jean erwies sich auf The Carnival als genialer Freigeist mit multiplen Talenten.

Fugees-Mastermind Wyclef Jean inszenierte sein Solodebüt The Carnival als musikalisches Prinzip Hoffnung. Anstelle von im Rap und HipHop zunehmend angesagten Nihilismus, Negativität, Gewalt werden Optimismus, Lebensfreude, Liebe, soziale Verantwortung sowie positives Denken propagiert. Wyclefs Ansage war dringend notwendig. Rap/HipHop befand sich bei Erscheinen von The Carnival in einer Krise: Weil Gangsta Rap billigster Machart jegliche Weiterentwicklung verhinderte, Kleingeister wie Sean „Puffy“ Combs mit banalen Raps die Charts verstopften, Leute wie Notorious B.I.G. trotz oder gerade wegen ihres sinnlosen, gewaltsamen Todes wie Helden verehrt werden und selbst der anfangs innovative Wu-Tang Clan in Selbstparodie zu verfallen drohte.

Wyclef Jean lehnte Gangsta Rap strikt ab. In einem der witzigen, zwischen die Songs gestreuten Dialoge, in denen sich Wyclef wegen revolutionärer Umtriebe vor Gericht verantworten muss, interviewt er einen hörbar benebelten Gangsta Rapper, der auf seinen Platten schon drei Millionen Leute gekillt haben will. „Warum läufst du dann noch frei rum?“, fragt Wyclef und kontert, als eine Antwort ausbleibt: „That’s my point, don’t believe the hype!“

Wyclef war damals der vielleicht vielseitigste Künstler der schwarzen, afroamerikanischen Musik. Sein politisches Programm koppelte er mit seiner fast magischen Musikalität: mit schönen Melodien und herrlich frei fließenden Reimen und Beats. Wyclefs Talent kannte keine Grenzen, er wagte sich auf The Carnival in so viele musikalische Territorien wie kein HipHop-Künstler zuvor. Da ist das wehmütige Streicherthema, gespielt von Mitgliedern der New Yorker Philharmoniker, das aus Gone Till November die erste HipHop-Miniatur-Symphonie macht. Oder die Opernarie, über die er gleich zu Beginn in Apocalypse rappt. Und der Soul von Mona Lisa, den die Neville Brothers mit ihren Engelsstimmen beseelen.

Dann sind da noch drei Uraltschlager, die Wyclef auf The Carnival wiederbelebt: Erstens, der kubanische Gassenhauer Guantanamera, den Wyclef mit Hilfe der legendären kubanischen Sängerin Celia Cruz zum Sommersong dieses Jahres auffrischt. Zweitens der Disco-Klassiker Staying Alive von den Bee Gees, aus dem Wyclef mit den Refugee Allstars den Partysong We Trying To Stay Alive macht, eine Hymne an die Lebensfreude – wider Hass und Gewalt. Und drittens der alte Folksong House Of The Rising Sun, der im kreolisch gesungenen Sang Fezi auftaucht und von Wyclefs Fugees-Kollegin Lauryn Hill angestimmt wird. Wyclefs Kreativität schien gerade unerschöpflich (was sie später aber doch mal war): mit Anything Can Happen und Year Of The Dragon fabriziert er erstklassigen Old School Rap; mit dem Anti-Gewalt-Song Gunpowder schafft er einen berührenden Reggae, der Richtung von Bob Marleys Redemption Song geht. Und zum Abschluss folgen drei kreolisch gesungene Lieder, in denen sich der auf Haiti geborene Musiker seiner karibischen Wurzeln erinnert und daraus gefühlvolle, spirituelle Balladen wachsen lässt.

Wyclef Jean hat mit The Carnival sein Meisterstück produziert, das selbst von Fugees-Partnerin Lauryn Hill ein Jahr später mit ihrem Soloalbum The Miseducation Of Lauryn Hill nur schwer zu übertreffen war.

Wyclef Jean Presents The Carnival featuring Refugee Allstars, Columbia/Sony Music, 1997

(Erstveröffentlicht in: Spiegel Online, 18.07.1997, komplett überarbeitet im November 2020)

© The Carnival Pics shot by Klaus Winninger

Record Collection N° 158: Radiohead “OK Computer” (Parlophone Records, 1997)

Endstation Neurosen-Blues: Rockmusik von und für paranoide Androiden.

Der Neurosen-Blues am Ende des 20. Jahrhunderts: Wenn Thom Yorke vor dem Mikrophon stand, warf er sich in Posen der Verzweiflung. Bevorzugt in jene, in der es aussah, als trüge er eine Zwangsjacke. Dann stimmte er mit gequälter Falsettstimme den Blues des endenden 20. Jahrhunderts an: Lieder voll Angst, Unsicherheit, Paranoia, Psychosen, versagt gebliebener Lust und unerwiderter Liebe.

Endstation Musik: Thom Yorke wurde mit einem geschlossenen Augenlid geboren, mehrere Operationen waren notwendig, den Defekt halbwegs zu beheben. In der Schule hänselte man ihn wegen des Gebrechens, und als er älter wurde und sich für Mädchen zu interessieren begann, blieb das eine einseitige Angelegenheit. Dafür mussten auf OK Computer alle büßen: „When I am king / You will be first against the wall“, keucht Thom Yorke in Paranoid Android, der ersten Single von OK Computer, einem mehr als sechs Minuten langen, dreiteiligen psychedelischen Epos. “This is what you get / When you mess with us”, faucht er in Karma Police. In einer ausgerechnet Lucky betitelten Ballade presst er die Zeilen „I’m standing on the edge…“ hervor. In Let It Down fühlt er sich „crushed like a beetle“. Im aufwühlenden Fitter Happier sieht er “no chance to escape“. Und im klaustrophobischen Climbing Up The Walls malt er sich aus, wie es ist, wenn man die Wände hochgehen möchte.

Was Thom Yorke über andere Beinahewahnsinnige hinaushob: Er vermochte seine Neurosen in faszinierende Lyrics und Kompositionen zu fassen, in denen er voller Verachtung und Abscheu das Leben auf dem Planeten Erde im allgemeinen und die Unfähigkeit, sein eigenes Dasein zu ertragen, analysierte. Und wenn ihm auf der Therapiecouch die schmerzlich schönen Melodien von No Surprises, Let It Down, Exit Music oder Karma Police einmal ausgingen, dann ist da wie in Electioneering eine unbändige Wut und gewaltige Energie, die die Musik voranpeitscht.

Angeführt von Jonny Greenwood, einem Multiinstrumentalisten und akribischen Soundtüftler, transformierte das britische Kunstrock-Quintett die fragilen Blues- und Folk-Balladen Thom Yorkes in spannende, so noch nie gehörte Musik: Bizarre Computergeräusche zischen durch die Grooves. Zarte, lyrische Gitarren flirren durch den Cyberspace, bevor unerwartet furiose Soli durch die binären Nebel stoßen. E-Piano-Akkorde schwellen an und dematerialisieren sich gleich wieder. Liebliche Glöckchen klingeln, Mellotrone seufzen, gespenstische, sakrale Chöre verhallen im Nirwana. Und während sich die Atmosphäre zunehmend verdichtet, pumpt die Rhythmusgruppe ungerührt einen schwermütigen, schon souligen Beat, der alle und alles gerade noch am Boden hält.

So wie Thom Yorke anno 1997 den Neurosenblues der Moderne sang, erzeugten Radiohead als kreatives Klang-Kollektiv den ultimativen Sound der Millenniums-Wende: Rockmusik von und für paranoide Androiden.

Radiohead OK Computer, Parlophone Records, 1997

© OK Computer Pics shot by Klaus Winninger

(Erstveröffentlicht in Spiegel Online, 20.06.1997, komplett überarbeitet im November 2020)

Record Collection N° 96: Prefab Sprout „Andromeda Heights” (Kitchenware Records, 1997)

Solche Lieder schreibt nur Paddy McAloon.

Prefab-Sprout-Mastermind Paddy McAloon ist einer der letzten an Cole Porter oder Burt Bacharach geschulten Popsongschreiber. Er folgt der Idee des perfekten Popsongs, der drei Minuten lang die Welt verzaubern kann. Er wagt sich beim Komponieren und Produzieren seiner Songs an komplizierte Akkordfolgen und vielschichtige, tiefgründige Arrangements und bettet darin seine wunderhübsche Melodien und schöngeistigen Textzeilen ein.

Paddy McAloon ist zugleich ein Gefangener seiner eigenen Vergangenheit. Seit Mitte der 1980er hat er brillante Popsongs wie When Love Breaks Down geschaffen und dazu hochkarätige Longplayer wie Steve McQueen (1985) oder Jordan: The Comeback (1990) fabriziert. Alles, was der Musiker danach veröffentlichte, wird an diesen Meisterwerken gemessen.

Schließlich sang Paddy McAloon schon 1985: „You surely are a truly gifted kid / But you’re only as good / As the last great thing you did“. Und er hat sich danach seine Arbeit nicht leicht gemacht. Das letzten Album Jordan: The Comeback lag bei Erscheinen von Andromeda Heights sieben Jahre zurück. In der Zwischenzeit arbeitete McAloon an verschiedenen Projekten, komponierte komplette Alben und nahm davon Demofassungen auf – darunter ein Album über nichts Geringeres als die Geschichte der Welt. Geld verdiente der Pop-Eigenbrötler als Lohnschreiber für den singenden Schauspieler Jimmy Nail und richtete sich von den Tantiemen zu Hause ein neues Tonstudio ein.

In diesem Studio sind die zwölf Songdiamanten von Andromeda Heights geschliffen worden, in denen sich alles um die Liebe, den Himmel und die Gestirne dreht, wenn Paddy nicht gerade elektrische Gitarren oder Schwäne besingt. In The Mystery Of Love versucht er, ebendiesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. In Life’s A Miracle lehnt er sich einmal glückselig zurück. In Anne Marie besingt er eine verheiratete Frau, von der er, nobler Geist, der er ist, trotz seinem Begehren leider lassen muss. Und im vorweggenommenen Finale schwelgt McAloon in Avenue Of Stars im siebten Liebeshimmel, um gleich darauf in der Antiklimax von The Fifth Horseman umso tiefer zu fallen: Liebe kann auch weh tun. Solche Lieder schreibt nur Paddy McAloon.

Prefab Sprout Andromeda Heights, Kitchenware Records, 1997

(Veröffentlicht in: Spiegel Online, 27.06.1997, komplett überarbeitet im Juni 2020)

The Verve „Urban Hymns”

 

 

 

 

 

 

 

Exzellente Songkollektion: Kein perfektes, großes Meisterwerk – aber der beste Gitarrenrock, der 1997 neben Radioheads OK Computer produziert wurde.

Als die vielversprechenden Britpop-Debütanten The Verve 1993 auf Tournee durch englische Clubs gingen, ließen sie als Vorgruppe unbekannte Novizen namens Oasis spielen. Zwei Jahre später widmete Oasis-Chef Noel Gallagher, inzwischen ein Star und nach eigener Einschätzung „bester, britischer Songschreiber“, dem Verve-Sänger Richard Ashcroft den Song Cast No Shadow – ein Nachruf auf einen Mann, „der vom Gewicht der Worte, die er zu sagen versucht, niedergedrückt wird.“

Man nannte Ashcroft „Mad Richard“, weil er zu viele Drogen schluckte, mystische Spinnereien von sich gab und in Selbstmitleid versank. Seine Band The Verve hatte er gerade aufgelöst – ein Verzweiflungsakt, mit dem er Gitarrist Nick McCabe, angeblich ein ähnliches psychisches Wrack, loszuwerden trachtete. Der Rest der Band begab sich nach zwei Wochen erneut ins Studio. In den nächsten 18 Monaten kurierte sich Richard Ashcroft aus, war bemüht, einen klaren Kopf zu bekommen und The Verve mit Hilfe namhafter Gitarrenvirtuosen wie Ex-Suede Bernard Butler und Ex-Stone Roses Jon Squire zu reformieren. Vergeblich. Es brauchte Nick McCabe und die aufgewärmte Hassliebe zwischen beiden, um den kreativen Motor endlich wieder auf Touren zu bringen.

 Mit den Weltklasse-Singles Bitter Sweet Symphony und The Drugs Don’t Work entstiegen The Verve den Trümmern ihrer Vergangenheit. So gut war die Band früher nie gewesen. In Wahrheit traute ihnen niemand zu, dass sie so gut sein können. Jammten sie früher, eingeschläfert von Drogen, im Groove-Nirvana drauflos, bringen The Verve hier ihre Fertigkeiten aufs Effektivste ein: die elegischen Melodien, die sie in weitläufige, symphonische Cinemascope-Arrangements hüllen; Richard Ashcrofts bittersüße Weltschmerz-Lyrik, eindringlich vorgetragen von seiner haltlos romantischen Stimme; Nick McCabes prägnantes, furioses Gitarrenspiel.

Die Erwartungen für Urban Hymns steigerten sich ins Unermessliche. Der in England übliche Medien-Hype setzte ein, der aus talentierten, charismatischen Musikern gleich Götter macht. Richard Ashcroft starrte von allen Titelblättern, die Schlagzeilen donnerten „Größer als Oasis“ und „Die beste Rock’n’Roll-Band der Welt“. Ach.

Seit Urban Hymns erschienen ist, ist alles auf irdisches, menschliches Maß reduziert. Ja, Urban Hymns ist eine tolle Songkollektion – der beste Gitarrenrock, der 1997 neben Radioheads OK Computer gespielt wurde. Aber nein, Urban Hymns ist kein perfektes, großes Meisterwerk: darauf hätten die unwürdige Led Zeppelin-Kopie The Rolling People, der Psychedelic-Kitsch von Neon Wilderness und das bemühte Pathos von Lucky Man keinen Platz. Ein Opus magnum sollte auch nicht allein von zwei Ausnahmesongs geprägt sein: Die Qualität und Strahlkraft der restlichen elf Songs können an die beiden Supersingles nicht voll heranreichen. Wenn auch ergreifende Große-Gefühle-Balladen wie Sonnet oder Space and Time, das schöne Rührstück One Day, der Zeitlupen-Funk von This Time, ganz in der Manier von Sly Stone, und der rauschende Schlussrocker Come On ihren eigenen Zauber entfalten.

Die latente Verbindung zu Oasis bleibt irgendwie aufrecht. Wo deren neues Album Be Here Now vielleicht nicht mal bewusst die kollektive Aufbruchstimmung im britischen Königreich reflektiert, schildern Richard Ashcrofts Songs individuelle Alltagsdepressionen. „I take you down the only road / I ever been down“, kündigt Ashcroft in Bitter Sweet Symphony an und beklagt in der Folge, das quälende Allein-in-diese-Welt-geworfen-sein, die Unmöglichkeit der Liebe und das Fehlen jeglicher Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz: „We have existence / and that’s all we share“, formuliert Ashcroft seine Philosophie in Space and Time unschlagbar.

Richard Ashcroft sucht in der Musik Erlösung, Schönheit, Kraft. Urban Hymns ist keine große, aber eine berührend menschliche Platte.

The Verve Urban Hymns, Hut/Virgin, 1997

(Spiegel Online, 30.10.1997, zuletzt überarbeitet im Dezember 2018)

Finley Quaye: „Maverick A Strike”

 

 

 

 

 

 

 

Finley Quayes aus Funk, Soul, Rock und kosmischer Schwafelei gemischter Reggae tönt entspannt, schwärmerisch und hochdosiert romantisch.

Name: Finley Quaye. Beruf: Multiinstrumentalist, Sänger, Songschreiber. Alter: 23. Nationalität: Britisch. Halb Schotte, halb Ghanaer, Geburtsort: Edinburgh. Familie: musikalisch. Der Vater Jazzkomponist; ein Bruder Mietgitarrist in Diensten von Elton John und Hall & Oates; sein Neffe der Pate des TripHop. Finley Quaye, obwohl acht Jahre jünger als dieser, ist der Onkel von Tricky, seine ältere Schwester ist Trickys Mutter und gab dessen Albumdebüt Maxinquaye den Namen.

Die Songs auf Quayes Debütalbum sind jedoch nicht einmal halb so düster oder paranoid wie jene seines Finsterlingneffen aus Bristol. Während Tricky romantische Gefühle praktisch ignoriert und am liebsten in den dunkelsten Abgründen der Seele herumgrundelt, schmachtet sein Onkel Finley in Even After All, einer hauchzarten Reggae-Ballade: „Your soul is beautiful and your soul is good.“ Na bravo, mehr braucht der Tricky sicher nicht.

Finley Quayes Musik formte sich aber auch nicht in der TripHop-Zone von Bristol, sondern in Manchester, wo er aufgewachsen ist und bei lokalen Reggae-Sound-Systems in die Lehre ging. Sein Plattendebüt als Vokalist gab er 1994 auf einem Drum ’n‘ Bass-Album von A Guy Called Gerald. Der damals entstandene Track Finley’s Rainbow dient als Blaupause für seinen ersten Hit hier Sunday Shining – eine halbe Coverversion von Bob Marleys Sun is Shining, das er mit brüllenden Rockgitarren und einigen neuen Textzeilen anreichert.

Finley Quaye hat beachtliches Talent: Er mischt Reggae, Rock und Rhythm & Blues, Soul, Dub und Electro-Jazz zu einer schillernden Mixtur. Die Stimmung ist überwiegend entspannt, schwärmerisch und romantisch, schwappt mitunter in New-Age-Sphären über. Als Gegengift zu seiner kosmischen Schwafelei fallen Quaye allerdings ein paar gute Popzeilen wie „I’m a hero like Robert De Niro“ und simple Liebeslyrik wie „When you shine, you brighten up my day“ ein.

Am besten ist Finley Quaye, wenn er Gefühlen und Hormonen freien Lauf lässt: Eben im zauberhaften Even After All oder der verliebten, souligen Reggae-Ballade It’s Great When We’re Together. In Your Love Gets Sweeter schunkelt sich Quaye glückselig in den siebten Himmel, wo er dann zu happypeppi glucksenden Keyboards bekennt, er sei ein Sweet and Loving Man. Dann muss es aber auch mal gut sein: Im Zeitlupenblues von I Need A Lover versuchen rückwärts laufende Gitarrenloops seinen Liebesdrang zu bremsen. Geht aber fast nicht.

Die wenigen beklemmenden Paranoia- und Dub-Experimente, die Finley Quaye zwischendurch wagt, könnte er aber getrost seinem Neffen Tricky überlassen. Weil er, wenn er über dumpf wummernden Bassläufen in einem gestelzt wirkenden jamaikanischen Slang Geschichten aus urbanen Dunkelzonen brabbelt, bloß klischeehafte Bilder abpaust. Ein Gutes haben diese Songs wie der Hochspannungsfunk von Supreme I Preme aber doch: Ohne sie wäre Finley Quayes Überdosis Gefühl nur schwer zu ertragen.

[Letztlich gilt: So oder so, Finley Quaye blieb nur ein Ein-Album-Hit-Wunder – Anm.: KW, Dezember 2018]

Finley Quaye Maverick A Strike, Epic/Sony Music, 1997

Björk: „Homogenic“

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Björks Himmel hängt jetzt wieder voller Geigen.

Ihre einzige Heldin, sagt die 31jährige isländische Sängerin, sei ihre Großmutter. Björk hat durch diese die Verbindung zu ihrer isländischen Heimat, zu deren Geistes- und Gefühlswelt, nie gekappt. Und doch schwört Björk auf nichts mehr denn auf Modernität und Innovation. Mit jeder neuen Platte will sie eine neue, noch nie gehörte Musik kreieren: das ist ihr mit ihrem dritten Soloalbum Homogenic auch wieder gelungen.

Vor den Aufnahmen dieses Albums erstellte Björk ein simples musikalisches Konzept: Auf einem Kanal sollten die massiven, lauten, verzerrten High-Tech-Beats des britischen Frequenzterroristen Mark Bell (vom Techno-Duo LFO) zu hören sein, auf dem anderen die symphonischen Streicherarrangements des Icelandic String Octet. Und in der Mitte allein: Björks Stimme. Konsequent durchgehalten hat sie den Plan nicht. Am Boden poltern zwar die Computer-Beats, als ob man das Knistern und Krachen des Polareises aufgenommen und durch eine elektronische Mangel gedreht hätte. Und darüber schweben die elegischen, isländischen Streicher, die ihre Schatten auf Björks emotionale Landschaften, auf die gebrochenen Herzen und bloßliegenden Nervenbahnen werfen. Doch dazwischen dröhnen heftig pumpende Bässe, oszillieren schrille Elektrogeräusche, schunkelt auch mal ein Akkordeon.

Im großen Finale von All Is Full Of Love fehlen die fulminanten Beats zur Gänze, die auf ersten Proben aus Björks Klanglabor noch zu hören waren. Wie das? Diese beatfreie Zone ist nicht die einzige Änderung gegenüber der Vorabkassette, die Björks Plattenfirma letzten Sommer herausgab. Neben Titeländerungen bei vier Songs, einer Neuordnung der Songreihenfolge und einigen deutlich veränderten Abmischungen fehlt mit So Broken nicht irgendein, sondern das Kernstück von Homogenic. Zur Begleitung zweier melancholischer Flamenco-Gitarren lässt Björk in So Broken – jetzt zu hören auf der Singleauskopplung Joga – ihre Stimme und wunde Seele Amok laufen: „My heart is so broken / Completely unhealable.“

Ein dramatischer Abschluss des härtesten Jahres in Björks Leben und Karriere, das auch in den restlichen Songs von Homogenic skizziert und mehr noch: durchleuchtet wird. Da waren die rasch wechselnden Affären mit bekannten Musikern wie Tricky oder Goldie, die in Streit und Tränen endeten, und mit denen Björk in Songs wie Immature („How could I be so immature / To think he would replace / The missing elements in me“) abrechnet. Dazu kam die Jagd der Regenbogenpresse auf die Sängerin, die Björk dazu brachte, auf dem Flughafen von Bangkok eine Journalistin zu verprügeln, die ihren elfjährigen Sohn belästigte. Und zuletzt wurde Björk Adressatin einer Paketbombe eines irren amerikanischen Fans, der zu Björks Musik vor laufender Videokamera Selbstmord verübte.

Was für ein Alptraum. Björk floh nach Spanien, wo sie an den neuen Liedern arbeitete. Homogenic ist Björks musikalisch und emotional bisher radikalste Songkollektion und auch ihre vielleicht beste, von Björk größtenteils allein komponiert, getextet und erstmals auch in Eigenregie produziert. Vorgetragen von einer außergewöhnlichen, leidenschaftlichen Stimme. Das Album gipfelt im Liebeslied „Bachelorette“, das von dramatischen James-Bond-Streichern emporgetragen wird: „I’m a tree that grows hearts / One for each that you take.“ Im Herbst des Jahres 1997 hängt der Himmel für Björk also wieder voller Geigen.

Björk „Homogenic“, Mother Records/Polygram, 1997

(Spiegel Online, 17.10.1997, zuletzt überarbeitet im Juli 2018)

Frank Sinatra: „My Way – The Best Of Frank Sinatra“ / Frank Sinatra with the Red Norvo Quintet „Live In Australia, 1959“

 

Ol‘ Blue Eyes: Der letzte Vorhang?

Das Coverfoto von My Way – The Best Of Frank Sinatra zeigt The Voice charismatisch in seinen besten Jahren – vital, elektrisierend, cool. Auf der Rückseite: Sinatra, bereit zu gehen, den Mantel lässig über  die Schulter geworfen. Geleitet von den in großen Lettern arrangierten Textzeilen seines Signatursongs My Way, der ihm quasi zur Autobiografie wurde: „And now the end is  near / And so I face the final curtain…“

Die neue Songsammlung My Way – The  Best Of Frank Sinatra gerade jetzt und auch noch in einer solchen Verpackung zu veröffentlichen, beweist wenig Pietät und Respekt für den Künstler und Menschen Frank Sinatra, dafür umso mehr Geschäftssinn. Dämmert der 81-jährige Sänger doch seit Monaten sterbenskrank vor sich hin, sodass mit seinem Ableben jederzeit gerechnet werden muss, ja gerechnet werden kann. Und im Ernstfall gleich eine neue CD auf dem Markt zu haben, ist garantiert lukrativ. Auch wenn es sich nur um eine weitere Sammlung altbekannter Sinatra-Klassiker handelt – vornehmlich in den 1960er und 1970er Jahren für seine eigene Plattenfirma Reprise Records aufgenommen, deren Ehrenvorstandsvorsitzender Frank Sinatra auch nach deren Verkauf bis heute geblieben ist.

Das Songmaterial ist natürlich durchwegs makellos. Sinatras Stimme, obwohl nicht mehr so strahlend wie in den 1940ern und 1950ern, tönt fasziniert ungebrochen: Von My Way und Strangers In The Night bis Theme From New York New York und That’s Life finden sich alle großen Hits aus Sinatras letzter großen Schaffensperiode. Dazu kommen weniger abgegriffene und daher stärker funkelnde Pretiosen wie Moon River, Summer Wind, The Girl From Ipanema und Sinatras hinreißende, mit Quincy Jones erst 1986 eingespielte Version des Brecht/Weill-Klassikers Mack The Knife.

Sinn und Wert dieser Compilation bleiben dennoch fragwürdig: Für Kenner und Fans bringt sie nichts Neues und auf die Laufkundschaft zielende Sampler mit vergleichbarer Songliste gibt es mehr als genug. Da war der letztjährige Reprise-Sampler Everything Happens To Me, der „Ol‘ Blue Eyes“ als tieftraurigen Balladensänger porträtierte, schon wesentlich reizvoller.

Das mit dem Quintett des Jazz-Vibraphonisten Red Norvo und Frank Sinatras Leibpianisten Bill Miller 1959 in Melbourne aufgenommene Konzertalbum Live In Australia hat da schon eine ganz andere Legitimation, zumal gute Konzertplatten von Sinatra eh Mangelware sind. Dass die jahrzehntelang verschollenen Australien-Konzerte jetzt veröffentlicht werden, ist seinem Biographen Will Friedwald (Frank Sinatra: Ein Mann und seine Musik, Hannibal Verlag, 1996) zu verdanken, der während seiner Recherchen diese verloren geglaubten legendären Bänder entdeckte.

Sie sind wirklich so gut wie Ohrenzeugen immer behauptet haben und sogar über Sinatras bisherige Live-Highlights zu stellen – das Mitte der 1960er mitgeschnittene jazzige At The Sands-Konzert und den fulminanten, 1962 im Pariser Olympia aufgezeichneten Auftritt. Während das Pariser Konzert mit einem von Pianist Bill Miller geleiteten Sextett die kongeniale Zusammenarbeit von Frank Sinatra und Red Norvo einfach kopierte, war ebendiese anno 1959 eine prickelnde, fast revolutionäre Innovation in Sinatras Schaffen. Das intime Ambiente des kleinen Ensembles drängt den Sänger Sinatra ins Rampenlicht, und der intoniert und phrasiert so jazzig wie kaum einmal. Sinatra swingt hier „like a mother“, um einen seiner Lieblingssprüche zu bemühen. Red Norvos minimaler, knochentrockener, heißer Swing lässt dem Sänger Sinatra mehr kreativen Freiraum als die großen Big-Band-Orchester-Arrangements, die ihn normalerweise begleiteten.

Eine Chance, die Sinatra mit spürbarer Lust nutzt: Er agiert dynamisch, explosiv, vollblütig, gefühlvoll; gleichzeitig sehr konzentriert und diszipliniert. Er verschlampt keine Silbe, keinen Beat, keine noch so kleine emotionale Nuance – seine Stimme wird zum Instrument im Ensemble, er verschmilzt mit Musik, Melodie und Text zu einer wunderbaren Einheit.

Vom My Fair Lady-Stück I Could Have Danced All Night an swingt Sinatra energiegeladen und unvergleichlich cool: Ob in den Cole-Porter-Songs Just One Of Those Things oder I Get A Kick Out Of You oder American-Songbook-Klassikern wie The Lady Is A Tramp und All Of Me. Von den Balladen bezaubert besonders das sich grazil im Rhythmus wiegende Moonlight In Vermont. Schwer aufs Gemüt drücken die whiskygetrüben Barsongs Angel Eyes und One For My Baby, denen Sinatra anderenorts allerdings schon mehr Nachdruck und Intensität verliehen hat. Zum Abschluss aber swingt The Voice noch einmal drauf los, als würde er unter Starkstrom stehen: im euphorischen, neu arrangierten Night And Day.

Ein großer Künstler auf einem weiteren Höhepunkt seines Könnens.

Frank Sinatra My Way – The Best Of Frank Sinatra, Reprise, 1997

Frank Sinatra with the Red Norvo Quintet Live In Australia, 1959, Capitol, 1997

(Spiegel Online, 12.09.1997, zuletzt im Juli 2018 überarbeitet)

Oasis: Der Rausch der Euphorie

oasis-cover-be-here-now„Be Here Now“, das dritte Studioalbum von Oasis, veröffentlich am 21. August 1997, am Höhepunkt der Britpop-Euphorie, war schon bei Erscheinen heftig umstritten. Die Anfang Oktober 2016 als überüppige Deluxe Edition erschienene Neuauflage mit 2 ½ Stunden Bonusmaterial zu den 71 Minuten des Originalalbums ist es nicht weniger. Selbst Noel Gallagher meint heute, Oasis hätten „Be Here Now“ zur Zeit seiner Entstehung nicht aufnehmen sollen, da die Band durch die laufenden Tourneen erschöpft und in einem desolaten Zustand war. Dennoch seien Oasis nach einer schwierigen Amerikatournee wie Idioten sofort wieder ins Studio gehirscht. Das mag aus Gallaghers heutiger Sicht stimmen, aber ich mochte das Album mit seinem manifestartigen Powerhymnen damals und mag es auch jetzt noch in der Brexit-Ära, in der so viele utopische Träume zerplatzt sind und nicht nur Europa in einer großen Krise steckt. Ich mag es, obwohl ich in der Britpop-Rivalität zwischen Oasis und Blur immer auf Seiten von Blur stand und Damon Albarn & Co. bis heute den Gallagher-Brüdern vorziehe. Die folgende Kritik ist im Original auf „Spiegel online“ im August 1997 erschienen und jetzt von mir nach Wiederhören der zwölf, meist über fünf, sechs, aber auch bis zu neun Minuten langen originalen Songs von „Be Here Now“ upgedatet worden.

Die beste Pop- und Rockmusik reflektiert nicht einfach die Zeit, in der sie entsteht – sie absorbiert den Zeitgeist und saugt ihn tief in sich ein. Wenn diese These des amerikanischen Musikkritikers Greil Marcus stimmt, dann ist „Be Here Now“ das Beste, was England in diesen Monaten passieren kann. Der perfekt passende Pop- und Rock-Sound, die richtige Platte zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort. Absorbierte Aufbruchsstimmung, auf Millionen Scheiben materialisiert.

Ein jüngst veröffentlichtes Foto zeigt den 30-jährigen Oasis-Boss und Songschreiber Noel Gallagher, wie er stolz die erste Testpressung von „Be Here Now“ in Händen hält. Das darauf notierte Datum: 1. Mai 1997. Der Tag, an dem Tony Blair und die New Labour Party – die im Wahlkampf von Oasis unterstützt wurden – die englischen Parlamentswahlen mit einem Erdrutschsieg gewannen und damit gut zwei Jahrzehnte konservativer Regierung der Geschichte überantworteten.

Seither vibriert Britannien: „Be Here Now“ – frei übersetzt: „Jetzt voll da!“ Die Zukunft, sie kann, sie soll kommen, sofort! Da ist es nur folgerichtig, dass sich auf „Be Here Now“ praktisch eine mitreißende Gallagher-Hymne an die andere reiht, von der hübsch sentimentalen Ballade „Don’t Go Away“ einmal abgesehen. „D’You Know What I Mean?“ fragen Oasis zum Auftakt. Diese zugleich erste Single schraubt sich euphorisch in die Höhe, ohne auf Antwort zu warten. „Stand By Me“ kann als pathetisches Liebeslied gedeutet werden, aber auch als Durchhalteparole: Gehen wir unseren Weg miteinander! Gemeinsam in bessere Zeiten! Die magnetische Melodie des Songs akzeptiert keinen Widerstand und zieht Band und Zuhörer auf Wolke sieben oder so. Alles gleitet empor. Wo es tatsächlich hingeht, das weiß niemand so recht. Tony Blair nicht und Oasis erst recht nicht: „Nobody knows the way it’s gonna be…“ Nur eins ist sicher: „It’s Gettin‘ Better (Man!!)“ Das verkündet Sänger Liam Gallagher zu einer weiteren dynamisch pulsierenden Melodie. Und er beschwört dieses Mantra zwei nicht enden wollende Minuten lang. Alles wird gut! „It’s gonna be okay!“ Und zwar „All Around the World“, wie es der finale Song, eine endlos epische Ballade in „Hey Jude“-Manier, aus übervollem Herzen prophezeit.

Die Fortschritts-Parolen von „Be Here Now“ sind eine Sache, ihre musikalische Inszenierung eine andere. Sie verharrt in der Vergangenheit. So mitreißend Oasis musizieren: sie spielen erzkonservativen Rock ’n‘ Roll. Sie kopieren die besten Momente aus vierzig Jahren (englischer) Rockgeschichte und bauen sie immer wieder neu zusammen. Das Rezept funktioniert: Ein bisschen Rolling Stones, The Who, The Kinks oder The Jam, einen Schuss Sex Pistols, eine Prise der feinen Komponier- und Arrangier-Kunst der amerikanischen Songschreiberlegende Burt Bacharach und eine Überdosis Beatles. Und jede Menge Wall of Sound, dieser von Girl-Group-Produzent Phil Spector in den 1960ern erfundenen Klangmauer, für die im Aufnahmestudio zahllose Instrumentenspuren übereinandergelegt wurden, um maximalen Druck zu machen. Was Noel Gallagher auch auf „Be Here Now“ versucht, mit angeblich bis zu dreißig Gitarrenspuren pro Track.

Bloß: anno 1997 ist das so wenig revolutionär wie das Spielsystem der deutschen Fußballnationalmannschaft. Oasis reduzieren sich bewusst in ihren musikalischen Möglichkeiten und Ideen, weil sie eben nur eine Rock ’n‘ Roll-Band sein wollen, wie Noel Gallagher und sein Sängerbruder gerne selbst zu Protokoll geben. Was Oasis dennoch über die vielen anderen aktuellen Gitarrenbands stellt? Zum einen die mitreißenden, hymnischen Songs, die Energie, und der gewaltige, grandiose Sound. Aber vor allem ist es die charismatische Stimme von Sänger Liam Gallagher, eine Mischung aus dem punkigen Furor von Sex Pistole Johnny Rotten und der raue Soul von Beatle John Lennon. Erst Liams Stimme gibt den Songs von Noel ihr gewisses Etwas, ihre Seele, ihren unverwechselbaren Charakter. Ohne Noel Gallaghers sechs Jahre jüngeren Bruder Liam wären Oasis nicht mal halb so gut. Das weiß Noel, und er weiß auch, dass Oasis kein weiteres Album dieser Art mehr produzieren sollten. Aber Noel verspricht: beim nächsten Mal wird alles anders, nämlich modern! Denn sonst ist Oasis bald von vorgestern, da hilft dann auch keine britische Zeitgeistinfusion mehr.

Oasis, „Be Here Now“, Creation Records, 1997

(Spiegel Online, 22.8.1997 – im Oktober 2016 überarbeitete Fassung)

 

Primal Scream „Vanishing Point“

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Bobby Gillespie & Co. bestehlen sich selbst.

Bobby Gillespie, der Chefideologe der britischen Band Primal Scream, ist nicht gerade ein genialer Songschreiber, und auch als Sänger ist er eher Mittelmaß. Aber er hat eine glückliche Hand, wenn er im Studio die unterschiedlichsten Talente von Musikern und Produzenten bzw. die unterschiedlichsten Musikstile wie im Reagenzglas miteinander reagieren lässt. Und der Mann hat sich seine fanatische Begeisterung für Popmusik jeder Art von seinen Teenagertagen bis heute bewahrt. Gillespies Fantum wurde für die Band mitunter auch zum Problem: Wann immer er sich für nur eine Sache, eine Band, einen Sänger, ein bestimmtes Album, einen einzigen Stil zu sehr begeistert, produzieren Primal Scream nur mittelmäßige Platten. In den späten 1980ern wollten sie zuerst die Byrds, danach die Rolling Stones sein, aber beide Alben, die sie damals aufnahmen, versanken in Langeweile.

Erst die Ende der 1980er aufkommende Rave-Kultur – und auch die dazugehörigen Drogen, die ihn inzwischen immer öfter aus der Bahn werfen – rüttelten Gillespie auf. Mit dem genialen Longplayer Screamadelica sogen Primal Scream Anfang der 1990er dann den progressiven musikalischen Zeitgeist wie keine andere Band auf und schufen mit dieser ausgeflippten, alle Grenzen überschreitenden Musik das Opus magnum des Dance Rock, der Rave-Ära, das wie keine andere Platte die Aufbruchsstimmung dieser Jahre wiedergibt. Der Nachfolger Give Out But Don’t Give Up wurde ein künstlerischer und kommerzieller Flop, weil Gillespie & Co. einmal mehr nur die Rolling Stones sein wollten und sonst nichts. Diesen Fehler hat Gillespie inzwischen eingesehen. Am besten sind Primal Scream eben, wenn sie sich ihre Ideen überall und bei sich selbst borgen.

Auf ihrem neuen Album Vanishing Point besinnen sie sich wieder ihrer Qualitäten, sprich auf die Erfolgsformel von Screamadelica und produzieren ohne jede Hemmung Screamadelica, Teil 2. Warum nicht einmal bei sich selbst stehlen? Die besten Songs: Der Auftakt Burning Wheel macht aus 2000 Light Years From Home von den Rolling Stones eine vollgedröhnte TripHop-Phantasie. Kowalski erhöht Geschwindigkeit und Paranoia und rockt mit dröhnendem Dub-Reggae-Bass und Technogefiepse. Star, der brillanteste Song, den Gillespie seit Jahren geschrieben hat, nimmt seine Grundidee von Sly Stones anarchischer Soulhymne Everybody Is A Star und wird uns mit seinem hübschen Reggae-Groove gut durch den Sommer bringen. Schön. Der Rest der Tracks oszilliert nicht weniger wild und unberechenbar zwischen Dub, TripHop, Rave, Rock Marke Rolling Stones und Techno. Ein talentierter Künstler, dieser Bobby Gillespie. Eine gute Band, diese Primal Scream, wenn sie mal mehr als nur eine schäbige Imitation der Rolling Stones sein wollen.

Primal Scream Vanishing Point, Creation Records, 1997

(Spiegel Online, 11.07.1997, zuletzt im Juli 2018 überarbeitete Version)