Neil Diamond: Live In Concert – Cooler als erlaubt

Wegen seiner angegriffenen Gesundheit kann Neil Diamond, der am 24. Jänner seinen 83. Geburtstag feiern konnte, nicht mehr live auftreten oder gar auf Tournee gehen. Was bleibt ist die Erinnerung an seine großartigen Konzerte wie am 27. Mai 2008, wo Neil Diamond in der ausverkauften, vollauf begeisterten Münchner Olympiahalle seine brillanten Qualitäten als Sänger und Entertainer zelebrierte.

Es brauchte nur wenige Minuten, bis Neil Diamond seine Fans in der vollen Münchner Olympiahalle auf die richtige Betriebstemperatur brachte. Ein einziger Song genügte: Diamond spielte zum Auftakt One More Bite Of The Apple seines gerade neuen Albums Home Before Dark, das Kultproduzent Rick Rubin betreut hatte. Man verstand sofort, was den damals 67-jährigen Sänger und Songschreiber mit der grundtraurigen Baritonstimme auch nach fünfzig erfolgreichen Karrierejahren weiter angetrieben hat.

Das Singen, die Songschreiberei, die Bühne, sie ließen Neil Diamond nicht los. Er wollte es noch einmal wissen und suchte eine neue kreative Herausforderung, obwohl er es längst viel gemütlicher hätte haben können in seiner pompösen Villa in Los Angeles, wohin der in Brooklyn, New York, als Sohn einer jüdischen Familie geborene Musiker schon in den 1970ern übersiedelt war, und wo ihn die gepflegte Fadesse geplagt haben dürfte. „Did it once / You can do it once more yeah“, beschwor Diamond seine Muse in One More Bite Of The Apple. Er wollte sich selbst beweisen, dass er sein Songschreiberhandwerk immer noch meisterhaft beherrschte, das er in den 1950ern und 1960ern im Brill Building, dieser legendären New Yorker Popfabrik, erlernt hatte. Und doch musste Neil Diamond lange um seine Anerkennung als großer amerikanischer Songschreiber ringen, weil ihn die hochgestochene Popkritik und Popgeschichtsschreibung als Schlagerlieferanten denunzierte. Verstehen muss man das nicht.

Mit One More Bite Of The Apple begann Neil Diamond also am 27. Mai 2008 seine Live-Show. Die schwarze Akustikgitarre geschultert, durchschritt der Entertainer das Spalier seiner mit vier Backgroundsängerinnen verstärkten elfköpfigen Veteranenband, um am Bühnenrand sein musikalisches Glaubensbekenntnis zu erneuern. Seine Band war eine bunte Mischung aus dem Buena Vista Social Club und einer Showband aus Las Vegas. Diamond sah in seinen engen, schwarzen Jeans, dem schwarzem Westernhemd und dem mit Goldfäden durchwirktem dunklen Sakko verdammt cool aus. Die Bühne gehörte ihm. Sein Charisma unwiderstehlich, sein Gesang grandios, man spürte und glaubte ihm jede Zeile. Dass er ein routinierter, sympathischer Entertainer ist, demonstrierte eine technische Panne nach dem dritten Song. Die drahtlosen Ohrhörer, mit denen der Sänger seine Stimme hätte hören sollen, funktionierten plötzlich nicht mehr. Als ein Roadie minutenlang an Diamond herumnestelte, um das Problem zu beheben, überbrückte dieser die Peinlichkeit mit lässigem Geplauder, das ihn dem Publikum noch näher brachte: „Don’t leave! You will be entertained this evening one way or another!“ – Es folgen, gleich zwei Versionen von „Sweet Caroline“ hintereinander, einmal spontan ohne, einmal mit funktionierenden Ohrhörern gesungen. „Did I do it good?“ Was für eine Frage, Mr. Diamond!

Die Halle tobte. Neil Diamond hatte schon in diesem Moment gewonnen. Seine allerbestens aufspielende Band sowie die superbe Setlist, die immer wieder mit alten, durch funky Latin-Rhythmen aufgepeppten Hits wie I’m A Believer oder Cherry, Cherry auflockert wurde, tat das Übrige. Dann folgten mehrere Songs des 1976 von Robbie Robertson (The Band) produzierten Klassikers Beautiful Noise, einem der besten Alben des Sängers. Diamond war damals auch beim Abschiedskonzert von The Band auf der Bühne, und somit auch im von Martin Scorsese gedrehten Konzertfilm The Last Waltz. Bob Dylan soll damals Neil Diamond hinter der Bühne bösartig verhöhnt haben. Aber selbst ein Bob Dylan kann irren. Weshalb Rick Rubin nach seinen Produktionen für Country-Altstar Johnny Cashauch Neil Diamond rehabilitieren wollte. Home Before Dark, nach dem 2005er Werk 12 Songs schon die zweite Zusammenarbeit der beiden, hievte den Sänger mit seinen jetzt in spartanische Arrangements gekleideten Songs zum ersten Mal in seiner Laufbahn gleichzeitig auf den ersten Platz der Albumscharts auf beiden Seiten des Atlantiks.

Auch in seinen neuen Liedern ging es Neil Diamond um seine Hauptthemen – um Sehnsucht, Einsamkeit, Hunger nach Liebe und zwischenmenschlicher Nähe, um einen Sinn im Leben. Den tiefschürfenden Titelsong von Home Before Dark sang er im Münchner Konzert nach zwei zartbitteren Songs aus seinem alten Kinofilm The Jazz Singer allein zur Akustikgitarre am Barhocker. Es folgten die wehmütigen Sehnsuchtsballaden Brooklyn Roads, I Am… I Said und Solitary Man – alles größte Singer/Songwriter-Kunst. Daran konnten auch die etwas kitschig inszenierten You Don’t Bring Me Flowers und Song Sung Blue nicht rütteln. Rick Rubin wusste nur zu gut, warum er ein Jahr lang Nachrichten auf Diamonds Anrufbeantworter hinterlassen hatte, um mit ihm arbeiten zu können. Neil Diamond gebührt größter Respekt.

Neil Diamond, Olympiahalle München, 27. Mai 2008 – Die Setlist:

One More Bite Of The Apple / Holly Holy / Street Life / Sweet Caroline (spontan ohne Monitorkopfhörer)  / Sweet Caroline / Beautiful Noise / Lady Oh / If You Know What I Mean / Cherry, Cherry / Thank The Lord For The Night Time / Hello Again / Love On The Rocks / Home Before Dark / Don’t Go There / Pretty Amazing Grace / Crunchy Granola Suite / Done Too Soon / Brooklyn Roads / I Am… I Said / Solitary Man / I’m A Believer / You Don’t Bring Me Flowers / Song Sung Blue / Man Of God / Hell Yeah / Cracklin’ Rosie / Brother Love’s Travelling Salvation Show

 (Erstveröffentlicht in: now! N° 69, Juni 2008, im Jänner 2024 komplett überarbeitet)

Als Neil Young mir sein Album „Harvest Moon“ signierte

Neil Youngs wundervolles 1992er Album Harvest Moon, vom Meister persönlich signiert.

Es soll Musikjournalisten geben, die die Interviewzeit auch dafür verwenden, sich von den prominenten Gesprächspartnern Platten- und CD-Hüllen signieren zu lassen. Und man munkelt, dass dies nicht immer aus reiner Begeisterung geschehe, sondern mit den signierten Artefakten auch lukrativer Handel im Internet getrieben würde.

Meine Sache war das nie. Ich fand es peinlich. Genauso wie sich mit dem soeben interviewten Star fotografieren zu lassen. So finden sich nach zahllosen Interviews in meinem Archiv gerade mal zwei Fotos, auf denen ich mit prominenten Musikerinnen und Musikern zu sehen bin. Auf dem einen mit Sheryl Crow auf dem Balkon eines Hotels in München, auf dem anderen in Wien als fünfter Take That, nachdem Robbie Williams aus der Band geflogen war. Wenn ich mich recht erinnere, wollte mir Mark Owen nach dem Shooting meinen schicken, seine Einschätzung, schwarzen Mantel abkaufen. Von meinen Treffen mit David Bowie oder Bryan Ferry gibt es leider keine Bilder.

Auch nicht von meinem Interview mit Neil Young, das 1992 Hamburg stattfand, anlässlich der Veröffentlichung von Harvest Moon – einer Fortsetzung des sanften Folk- und Countryrock seiner Erfolgsplatte Harvest, die zwanzig Jahre davor erschienen war. Aber ehrlich, auch ich konnte damals nicht widerstehen, nach dem Gespräch den großen Neil Young darum zu bitten, das Cover von Harvest Moon, bis heute eine meiner Lieblingsplatten von ihm, zu signieren: To Klaus … Neil Young. Thank you, Mr. Young.

© Harvest Moon Foto by the author.

David Bowie: „Ich bereue nichts!“

Talk Show/Interviews 02: David Bowie.

Am 8. Jänner 2024 wäre David Bowie, einer der größten, schillerndsten und facettenreichsten Pop- und Rockmusik-Künstler der Welt, 77 Jahre alt geworden. Im August 1999 hatte ich das Glück, Bowie zum ersten Mal interviewen zu können. Der Anlass für unser Gespräch war das im Oktober 1999 veröffentlichte Album „Hours …“. Ein paar Jahre später begegnete ich Bowie dann noch einmal, in Berlin. Es waren zwei Begegnungen mit einem Ausnahmekönner, der bei unseren Treffen ganz anders war wie erwartet, die sich eingeprägt haben.

Rückblende: Sommer 1999, 10. August, einen Tag vor der totalen Sonnenfinsternis über Mitteleuropa, die ich dann auf der Rückfahrt vom Münchner Flughafen nach Salzburg noch erwische, als das Flughafentaxi stehen bleibt, damit wir die Sonnenfinsternis bestaunen können. Was für ein Erlebnis, einen Tag nachdem ich David Bowie zum ersten Mal persönlich begegnet bin, in New York City, Manhattan, an einem warmen, sonnigen Augustmorgen auf der Fifth Avenue in den Büros seiner Plattenfirma Virgin Records. Dreißig Minuten sollte  das Gespräch  mit  David Bowie dauern, dreißig Minuten derentwegen ich extra acht Stunden lang über den Atlantik in die USA geflogen bin. Dreißig Minuten, in denen man nur einen kleinen Teil jener Fragen stellen kann, die man David Bowie unbedingt stellen möchte. Dem Mann, der in den 1970ern in die Rolle von Kunstfiguren wie Ziggy Stardust schlüpfte und mit Alben wie „Hunky Dory“, „Ziggy Stardust“, „Low“ und „Heroes“ die Popmusik revolutionierte. Anfang der 1980er Jahre wurde er mit dem Megaerfolg des Albums „Let’s Dance“ zum Superstar, fiel danach aber in eine kreative Krise. Erst im Laufe  der 1990er Jahre sollte David Bowie eine kreative Renaissance gelingen, seither ging es für Bowie künstlerisch nur noch bergauf. Der Anlass für unser Gespräch war das im Oktober 1999 veröffentlichte Album „Hours …“.

New York City, Manhattan, Fifth Avenue, in den Büros von Virgin Records. Im cool gestylten Besprechungsraum, eigentlich ein riesiges Loft, ist alles vorbereitet. Duftkerzen brennen, auf dem Tisch liegen eine neue Packung Zigaretten, ein Feuerzeug und ein Aschenbecher. Leicht verspätet schlendert David Bowie entspannt zur Tür herein, braungebrannt, fit und jugendlich wirkend, nicht einmal die grauen Bartstoppeln machen ihn älter. Den dunkelbraunen Pagenkopf vom Coverfoto des neuen Albums Hours hat er schon wieder blond gefärbt. Die größte Überraschung aber: David Bowie ist unglaublich charmant, freundlich, humorvoll und gesprächig. Keine Spur mehr von dem mürrischen, schüchternen, verschlossenen Menschen, der er einmal gewesen sein soll. Der David Bowie von 1999 scheint, vielleicht auch wegen seiner glücklichen Ehe mit dem somalischen Supermodel Iman, mit sich und der Welt soweit es halt geht im Reinen zu sein. Auch wenn die Songs von Hours die Probleme und Ängste seiner Generation thematisieren. „Mit Zwanzig glaubte ich alles zu wissen“, sagt er, „heute weiß ich, dass es keine Gewissheit und Sicherheit geben kann. Aber ich bin froh, dass es mich noch gibt und ich mein Dasein heute genießen kann.“

Klaus Winninger: In Ihrer Rede an der Universität von Berkeley, wo Sie das Ehrendoktorat bekommen haben, erwähnten Sie, dass John Lennon Ihr wahrscheinlich wichtigster Mentor war. Das überrascht, weil Lennon ein Künstler war, der wie kein anderer seine Gefühle in seinen Liedern offenbarte. Während Sie nicht gerade dafür bekannt sind, in Ihren Songs eine persönliche Beichte abzulegen.

David Bowie: Es war auch nicht dieser Aspekt, der mich an John faszinierte. Er war natürlich ein großartiger Songschreiber, aber was mich angesprochen hat, war mehr sein unabhängiger Geist, seine Weigerung sich einordnen zu lassen. Ich bewunderte die Art, wie er sich seinen Weg durch die Musik, durch sein Leben und seine Karriere bahnte. Er rannte nie der Herde nach. Sogar innerhalb der Rockwelt war er ein Rebell. Und dann war da diese andere Seite an ihm, seine Neigung, sich auch Dingen anzunehmen, die nichts mit Rockmusik zu tun hatten. Das habe ich als sehr stimulierend und lehrreich empfunden, denn ich war all dieser Rocktypen, die sich nur mit sich selbst und ihrer Musik beschäftigen, müde geworden. Einfach nur ein Rockmusiker zu sein, hat mich noch nie interessiert. John hatte ein viel weiteres Spektrum. Er war radikal loyal zu seiner Frau Yoko, er beschäftigte sich mit bildender Kunst, dem Theater und praktisch allem, was um ihn herum in seiner Kultur passierte.

KW: Sehen Sie sich selbst auch so?

David Bowie: Es ist nicht heute mehr so leicht, ganz allein seinen eigenen Weg zu gehen, weil die Herde (lacht) aufgeholt und  jene Arbeitsmethoden übernommen hat, die Leute wie John Lennon, Brian Eno oder ich bevorzugt haben. Früher waren wir die Ausnahme, am Ende des 20. Jahrhunderts ist es die Regel, auch von anderen Sachen als der Rockmusik selbst inspiriert zu sein und viele verschiedene Sachen und Stile zu vermischen. Außer in Amerika vielleicht. Die Amerikaner sind eine puristische Nation, die sehr an traditionellen Werten hängt. Wenn man hier neue, aufregende Musik hören will, muss man sich für Black Music interessieren, im weißen amerikanischen Rock gibt es kaum Aufregendes. Überall sonst befindet sich die Rockmusik in einem chaotischen, bruchstückhaften Stadium, und das empfinde ich als einen sehr gesunden Zustand.

KW: Aber es wird dadurch für Sie auch schwieriger sich von anderen abzuheben, oder?

David Bowie: Ich bin immer noch ich. Der Prozess, wie wir alle arbeiten, mag ähnlich sein, aber das Resultat meiner Bemühungen bin unverkennbar ich. Ich klinge wie David Bowie. Die Leute wissen, was sie von mir bekommen.

KW: Heute klingt aber nicht nur David Bowie wie David Bowie. Das tun öfter auch Blur oder Placebo oder Suede oder selbst Marilyn Manson. Schmeichelt Ihnen der Einfluss, den Sie auf die jüngere Musikergeneration haben, oder geht Ihnen diese Verehrung manchmal auch auf die Nerven?

David Bowie: Nein, allein schon deshalb nicht, weil ich ihre Musik nicht so oft höre. Ich drehe nie das Radio auf. Andererseits war es ja eine meiner Ambitionen, in der Rockmusik etwas zu verändern. Es tut gut, wenn man sieht, dass man wirklich etwas bewegt und jemanden beeinflusst hat. Und ich denke, manche meiner Ideen setzen sie sogar besser um als ich selbst. Placebo etwa sind großartig. Sie nehmen ja nicht nur meine Ideen, sondern auch die von Sonic Youth und anderen und mixen viele verschiedene Stile sehr clever zu einer eigenen Identität zusammen. Und sie haben eine dunkle Seite in ihren Songs, die ich sehr mag. Ich mag auch Suede sehr, Brett Anderson macht seine Sache als alter Romantiker sehr gut. Was Marilyn Manson anlangt, ich weiß nicht so recht, er ist ganz okay, aber ohne seinen Look bleibt nicht viel über. Rein musikalisch ist er ein Nichts im Vergleich zu seinem musikalischen Mentor Trent Raznor von Nine Inch Nails. Raznor ist ein exzellenter Songschreiber und Produzent, der immer besser wird, ihn wird es noch lange geben.

KW: Empfinden Sie ihre Vergangenheit bei der Arbeit an neuen Projekten mitunter als Hindernis, etwas Neues zu schaffen?

David Bowie: Nein, nie.

KW: Aber Sie zitieren seit dem Album Black Tie, White Noise häufiger Ihre alten Platten. Auch Ihr neues Album Hours hat starke Ähnlichkeiten mit den Songs und dem Sound von Hunky Dory oder bestimmten Passagen auf Young Americans und Scary Monsters.

David Bowie: Sie haben recht. Aber vergessen Sie nicht, ich habe mich bei meiner Arbeit bis zu einem gewissen Grad immer auf mich selbst bezogen. Ich schaffe es nicht, das alles völlig beiseite zu lassen, also taucht es in veränderter Form wieder auf und wird von mir neu kombiniert. Das inspiriert mich. Im letzten Jahr habe ich zum ersten Mal praktisch überhaupt keine andere Musik gehört als meine eigenen Platten. Ich wollte wissen, was daraus resultiert.

KW: Oft scheint es so, dass die Plattenfirma, bei der Sie gerade unter Vertrag sind, lieber Ihre alten Werke vermarktet als ein neues Album?

David Bowie: Den Eindruck habe ich nicht. Zurzeit etwa bekomme ich von Virgin Records die größtmögliche Unterstützung. Sie haben mich jetzt sogar weltweit unter Vertrag genommen, weil Sie an meine Arbeit glauben.

KW: Aber hatten Sie nicht schon des Öfteren Probleme mit Plattenfirmen, weil Ihre neuen Platten zu wenig verkaufen?

David Bowie: Solche Probleme hatte ich nie. (Lacht) Die Verkaufszahlen meiner Platten schwanken auch nicht sehr stark. Machen wir uns nichts vor, in kommerzieller Hinsicht waren meine Platten keine großen Erfolge. Ausgenommen Let’s Dance, Tonight und Never Let Me Down und die beiden Alben von Tin Machine. Und nicht alle davon gelten als große künstlerische Erfolge. Meine künstlerisch besten Platten haben sich weit nicht so gut verkauft wie Let’s Dance. Aber kommerzieller Erfolg interessiert mich nicht mehr, und er hat mir auch nicht wirklich gut getan.

 KW: Sie sind also nicht auf einen Hit aus und höhere Albumverkaufszahlen?

David Bowie: Nein, denn ich habe ein sehr stabiles, loyales Publikum. Die Reaktion auf meine Platten ist seit bald dreißig Jahren sehr ähnlich. Es gibt keine richtigen Flops, weil mir meine Fans seit vielen Jahren die Treue halten und fast überall hin folgen. Ich habe das Gefühl, dass ich praktisch tun kann, was ich will, und dass der harte Kern meiner Fans sich alles anhört, was ich produziere.

KW: Dass sich ein Künstler so frei entwickeln und entfalten kann, ist in der heutigen Musikindustrie aber nicht mehr üblich.

David Bowie: Ja, ich habe Glück gehabt. Ich bin froh, dass ich kein neuer junger Künstler mehr bin. Als ich anfing, unterstützte einen die Plattenfirma noch, so dass man sich über eine Reihe von Alben entwickeln konnte. Aber wenn du heute als Neuling von deinem ersten Album nicht genug verkaufst, dann ist deine Karriere auch schon wieder vorbei. Das ist grässlich.

KW: Glauben Sie, dass das Internet mit seinen neuen Vertriebsmöglichkeiten die Musikindustrie revolutionieren wird, weil es jungen Musikern ermöglicht, ohne Plattenfirma ein Publikum zu finden?

David Bowie: Es wird auf jeden Fall immer jemanden brauchen, der Werbung für sie macht. Denn wenn es eine Million neuer Künstler im Internet gibt, muss man sie erst einmal finden. Das Internet hat viele Vorteile – wenn die Leute von dir gehört haben und wissen, wo deine Website ist. (Lacht) Dann können Sie sich deine Musik herunterladen. Aber wenn jeder neue Musiker ins Internet geht, gibt es dort so viele Künstler, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht.

KW: Produziert die Musikindustrie nicht sowieso viel zu viele Platten?

David Bowie: Ja, natürlich. Eine Menge junger Talente wird völlig übersehen, weil man sie nie hören wird können. Das ist tragisch, aber es ist so. Wir haben heute eine gigantische Massenproduktion, weil Musik nur noch eine Karrieresache ist. Du kannst Banker werden oder Taxifahrer oder in einer Rockband spielen. Musik ist nicht mehr revolutionär. Das Internet selbst ist eine Revolution. Ein neues Transportmedium von Information, das völlig neue, aufregende Möglichkeiten eröffnet. Wäre ich heute 19 Jahre alt, würde ich lieber mit dem Internet arbeiten als Musik zu machen. Musik erzeugt und transportiert kaum noch revolutionäre Ideen.

KW: Beim Hören der Songs ihres neues Albums Hours … hatte ich den Eindruck, dass Sie darin zwar nicht ihr Herz ausschütten, aber mehr von sich preisgeben als auf früheren Platten?

David Bowie: Ja, das stimmt. Aber ich habe auch früher nie groß Geheimnisse gemacht über mein Leben. Ich habe es nur privat gehalten. Dieses Album war insofern schwierig zu schreiben, weil ich eine bestimmte Angst und einen Schmerz einfangen wollte, den viele Menschen meiner Generation fühlen. Ich selbst hatte aber (lacht) eine wirklich gute Zeit in den letzten zwölf Jahren. Mein Leben war fantastisch, weil ich meine Frau Iman kennengelernt habe, die richtige Person, mit der ich mein Leben teilen kann. Seit den späten 1980ern bin ich sehr glücklich. Und nicht nur privat, auch als Künstler ist seither alles ziemlich gut für mich gelaufen. Ich habe das Gefühl, dass alle Platten, die ich in den Neunzigern gemacht habe, meinen besten Fähigkeiten zum Zeitpunkt ihrer Produktion entsprechen.

KW: Das „Ich“ in den Songs meint also nicht unbedingt Sie? Und die  Person, die sich in Thursday’s Child in den Schlaf weint, sind Sie auch nicht selbst?

David Bowie: (Lacht) Nein, ich habe beim Schreiben der Songs mehr wie ein Schriftsteller gearbeitet. Ich musste mich bei Bekannten und Freunden umsehen und schildern, wie sie ihr Leben empfinden – als eine Serie von Fehlern, zerbrochenen Beziehungen, verpassten Gelegenheiten und Sachen, die sie lieber anders gemacht hätten. Ich selbst bereue nichts, was ich getan oder auch nicht getan habe in meinem Leben. Ich denke sowieso nicht viel über meine Vergangenheit nach und auch nicht über die Zukunft, ich halte mich lieber an die Gegenwart.

KW: Manche Textzeilen erinnern aber stark an Ereignisse oder Personen aus ihrem Leben?

David Bowie: Na ja, bei manchen Stellen habe ich schon auf bestimmte Dinge in meinem Leben zurückgegriffen. Aber da musste ich ziemlich weit zurückdenken, um solche Situationen zu finden und sie in einen Song einbauen zu können.

KW: Sie sagen, Sie wollten für Hours … Songs über Menschen ihres Alters schreiben. Das ist bei in die Jahre gekommenen Rockmusikern nicht gerade üblich. Mick Jagger schreibt immer noch Songs, die der Befindlichkeit eines viel Jüngeren entsprechen.

David Bowie: Interessanterweise mag mein Sohn dieses neue Album sehr, obwohl er gerade mal 27 Jahre ist. Es ist ihm viel lieber als z.B. 1. Outside, sagt er, weil die Songs eine Beziehung zu seinem Leben hätten. Das hat mich überrascht, aber wahrscheinlich geht es in den Songs auch um allgemeine menschliche Ängste und Bedürfnisse. Ich war jedenfalls froh, dass er Hours … nicht nur für die Platte eines alten Mannes hält. Vielleicht hat das umgekehrt damit zu tun, dass Menschen meines Alters oft so fühlen wie junge Leute. Obwohl man, wenn man selbst Zwanzig ist, kaum glauben kann, dass ältere Leute auch noch menschliche Wesen sind.

KW: Wie kommen Sie selbst mit dem Älterwerden klar?

David Bowie: Ich hoffe, ich gehe damit verantwortungsvoll um. (Lacht) Was immer das heißen mag. Es gibt da ein Wohlgefühl, das man einem jüngeren Menschen nur schwer beschreiben kann. Vor allem, wenn man wie ich Glück und Erfolg hatte und ein gewisses Werk geschaffen hat. Obwohl man mit dem Älterwerden auch realisiert, dass die Arbeit selbst gar nicht so wichtig ist. Was immer mehr an Bedeutung gewinnt, sind die Beziehungen zu anderen Menschen, deine Familie und die Art, wie du mit jedem einzelnen Tag zurechtkommst. Es ist wichtig,  wenn man ins Bett geht, sagen zu können, besser hätte ich an diesem Tag nicht leben können. Und je mehr du so bewusst in der Gegenwart lebst, desto geringer werden auch deine Ambitionen und Ego-Probleme.

KW: Was treibt Sie dann an, weiter Songs zu schreiben und Platten zu produzieren?

David Bowie: Ich nehme jeden Tag voll in mich auf. Deswegen gibt es immer  ein Thema für mich, über das ich nachdenken und schreiben kann. Ich interessiere mich einfach für die Leute um mich herum und die Kultur und die Gesellschaft, in der ich lebe. Ich habe mir eine kindliche Neugierde bewahrt und eine gewisse Naivität. Das hilft mir ungemein, mich immer wieder neu zu stimulieren. Wie könnte mir da nichts mehr einfallen?

Ende. Die dreißig Minuten plus vielleicht sechs, sieben Minuten Nachspielzeit sind um. „Warum haben Sie mich nicht gefragt, was aus meinem Projekt für die Salzburger Festspiele geworden ist“, fragt David Bowie, als wir uns verabschieden. Er scheint gut informiert über mich, der ich zum Interview aus Salzburg angereist bin. „Ach, es hätte noch so viele Fragen gegeben“, antworte ich. „Das stimmt“, grinst der Mann, der endlich auf dem Planeten Erde angekommen zu sein scheint.

(Veröffentlicht in: Libro Journal, Oktober 1999, komplett überarbeitet im Jänner 2024)

Der Tag, an dem John Lennon gestorben ist

John Lennon wurde nur vierzig Jahre alt. Weil er von einem irren Killer am 8. Dezember 1980 in New York erschossen wurde. Sein Licht strahlt jedoch unauslöschlich weiter.

Natürlich kann ich mich an diesen Tag erinnern. Diesen grauenhaften 8. Dezember 1980, an dem John Lennon gestorben ist. Jenen Tag, an dem der frühere Beatle auf dem Gehsteig  in Manhattan, New York, vor dem Dakota Building erschossen wurde, wo er, Yoko und Sean lebten,. Von einem irren Killer, dem hier nicht die zweifelhafte Ehre zuteilwerden soll, seinen Namen zu nennen, und der auf immer in einem Gefängnis der USA eingesperrt bleiben möge.

Die Erinnerung an die Ereignisse vom 8. Dezember 1980 ist so präsent, als wäre es gestern gewesen. Die Tage, an denen John F. Kennedy und Martin Luther King gemeuchelt wurden, waren für mich zu früh. Der Tag, an dem Elvis Presley starb, traf mich aber sehr. Doch jener Tag, an dem John Lennons Leben so tragisch und sinnlos enden musste, hat sich so tief in die Festplatte in meinem Kopf eingebrannt wie kein anderer schrecklicher Tag. Tiefer auch als die fürchterlichen NewYorker 9/11-Terror-Bilder von 2001 oder horrible Ereignisse jüngeren Datums. Damals konnte ich den ganzen Tag lang an nichts anderes mehr denken als an John Lennons grauenvolles, viel zu frühes Ende.

Nicht einmal die Dias von damals bräuchte ich,  um mich an diesen Tag zu erinnern. Darauf ist mein bester Freund und Studienkollege Hans zu sehen, wie er sich eine englische Zeitung entsetzt vor das Gesicht hält, mit der Schlagzeile, dass John Lennon erschossen wurde – mit seiner runden Nickelbrille und den schulterlangen Haaren sah Hans John Lennon sogar ähnlich. Die Nacht nach Johns Tod  haben wir gemeinsam durchwacht und durchgeredet, und die ganze Zeit über John Lennons Lieder und die seiner Beatles gehört.

Nach John Lennons Ermordung habe ich keine andere Platte so oft gehört wie seine und Yoko Onos gerade neue Langspielplatte Double Fantasy. Bis ins nächste Jahr hinein hat sie meinen Plattenspieler kaum einmal verlassen.

Yoko Ono hat dann nach der Schreckenstat zu einem Positive-Gedanken-rund-um-die-Welt-und-raus-ins-Universum-Schicken für John Lennon aufgerufen. Es sollte um eine bestimmte Uhrzeit geschehen, ausgehend von einer im New Yorker Central Park versammelten Menschenmenge. Ich saß, als das passierte, gerade in einem Zug nach Irgendwo. Aber ich spürte die aus dem Central Park kommenden Vibes für John Lennon in diesem Moment, und ich schickte meine Vibes retour nach New York und überall in die Welt hinaus: „You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one / I Hope someday you’ll join us / And the world will be as one …” (John Lennon, Imagine, 1971)

Record Collection N° 162: John Lennon “Gimme Some Truth” (Universal Music International, 2020)

Eine allerfeinst zusammengestellte, kraftvoll und brillant klingende Kollektion der Solosongs von John Lennon  nach der Trennung der Beatles. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

Die erste Best-Of-Sammlung von John Lennon, Shaved Fish, war die einzige die zu Lennons Lebzeiten 1975 veröffentlicht wurde. Und sie sollte für eine lange Zeit auch die beste bleiben, obwohl nach der Ermordung des Ex-Beatle im Dezember 1980 eine Vielzahl an Lennon-Kollektionen erschienen ist, darunter die formidablen Working Class Hero: The Definitive Lennon (Doppel-CD, 2005) und Power To The People: The Hits (CD/DVD, 2010).

Mitunter waren das aber lieblos zusammengeschusterte Einzel-CDs oder überbordende Box Sets, die man interessehalber vielleicht ein paarmal hört und dann nie wieder, und sie verstauben im Regal. Auch von Gimme Some Truth, das zum 80. Geburtstag von John Lennon erschienen ist, gibt es gleich mehrere Editionen mit so vielen CDs oder LPs, das man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Übrigens hat es bereits 2010 eine pralle 4-CD-Box gleichen Namens gegeben, die ambitioniert wirkte, aber erneut mehr etwaswas für Sammlerregale war statt häufig gespielt zu werden.

Bei Gimme Some Truth anno 2020 machen zwei Fakten den Unterschied: Erstens wurden die 36 Songs dieser 2-CD-Deluxe-Edition von Johns Sohn Sean und Yoko Ono persönlich ausgewählt. Und es ist fast alles mit dabei, was für das Beste von John Lennon dabei sein sollte.  Ob Singles oder Albumtracks, die meisten sind natürlich sehr bekannt, aber oho: Give Peace A Chance, Cold Turkey, Instant Karma!, Power To The People, Gimme Some Truth, Jealous Guy und Imagine bis Whatever Gets You Thru The Night, Stand By Me, (Just Like) Starting Over, Watching The Wheels, Woman, Losing You oder Nobody Told Me erzählen John Lennons Geschichte nach der Trennung der Beatles. Das Spektrum seiner Themen – Seelenschmerz, Liebe, Friede, Religion, Rassismus, Politik, Anti-Beatles – ist präsent. Auch wenn sein ultimativer Trauma-Song Mother ebenso wie Woman Is The Nigger Of The World aus welchen Gründen immer weggelassen wurde, auf Working Class Hero war er 2005 jedenfalls noch zu finden. Dafür gibt es mit der Angela (über die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis) von Some Time In New York City und Angel Baby, ein Outtake der Aufnahmesessions des 1975er Album Rock ’n‘ Roll, zwei nicht so oft gehörte Songs von John Lennon.

Zweitens ist der remasterte Sound, der unter der Ägide von Sean Lennon abgemischt wurde und von der Plattenfirma als „Ultimate Remixes“ beworben wird, eine Offenbarung. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

John Lennon Gimme Some Truth, Universal Music International, 2020

Record Collection N° 130: John Lennon „John Lennon/Plastic Ono Band” (Apple Records, 1970)

Das erste Soloalbum von John Lennon nach dem Ende der Beatles, auf dem er sich seine inneren Qualen und Dämonen von der Seele schreit. John klingt, als ob seine Stimmbänder und sein Herz vor dem Mikrophon geblutet hätten.

Wenn man sich Peter Jackson’s phänomenale neue Dokumentation The Beatles: Get Back ansieht, ist unschwer zu erkennen, dass der Beatle John Lennon im Jänner 1969 alles andere glücklich ist, und nicht so recht eins mit sich selbst zu sein scheint. Dem ersten Soloalbum von Lennon waren die famosen Singles Give Peace A Chance, Cold Turkey und Instant Karma sowie das mit der Plastic Ono Band aufgenommene Livealbum Live Peace In Toronto 1969 vorangegangen. Nachdem sich die Beatles im April 1970 nach dem Ausstieg von Paul McCartney schlussendlich getrennt hatten, folgte am 11. Dezember 1970 mit John Lennon/Plastic Ono Band Johns erstes Soloalbum, seine kraftvollste, aufwühlendste, vielleicht auch berührendste Soloplatte, die einer Operation am offenen Herzen gleichkommt.

1970 war John Lennon einer der berühmtesten Männer auf dem Planeten Erde. Mit den Beatles hatte der Dreißigjährige in den 1960er Jahren die Popmusik revolutioniert. Bestärkt von seiner zweiten Frau, der japanischen Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono, engagierte er sich gegen Ende des Jahrzehnts in politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und wurde zu einer Art Gewissen des Rock’n’Roll – eine Bürde, die ihm ebenso zu schaffen machte wie der gigantische Erfolg der Beatles.

Im April 1970 nach der offiziellen Trennung der Beatles, flogen John und Yoko wenige Tage später nach Los Angeles, um sich einem besonderen Krisenherd zu widmen: John Lennons Psyche. Dass John Lennon nicht nur ein energiegeladener, schlagfertiger, selbstsicherer Mann war, schimmerte schon in Beatles-Songs wie I’m A Loser oder Help durch. Doch bei den Beatles verzierte Lennon seine Bekenntnisse noch mit gedrechselten witzigen, oft sarkastischen Wortspielen und oft aufwändigen musikalischen Arrangements. Um mit seinen inneren Dämonen zurecht zu kommen, unterzogen sich John und Yoko beim Therapeuten Dr. Arthur Janov aber einer Urschrei-Therapie, um die  tiefsten Wurzeln für seine persönlichen Probleme noch einmal zu durchleben und so ein besseres Selbstwertgefühl zu erlangen. Nebenbei schrieb John Lennon in Los Angeles in vier Monaten über dreißig neue Songs.

Zurück in London im Herbst 1970 führte John Lennon (Gesang, Gitarre, Klavier) die Urschrei-Therapie musikalisch fort. Unterstützt von der Plastic Ono Band mit Yoko Ono (Inspiration, Co-Produzentin), Ringo Starr (Schlagzeug), Alan White (Schlagzeug), Klaus Voormann (Bass), Billy Preston (Keyboards) und dem legendären 1960er-Jahre-Produzenten Phil Spector. Sein Gesang auf John Lennon/Plastic Ono Band gehört zu den intensivsten, leidenschaftlichsten vokalen Darbietungen des Rock’n‘Roll. Er klingt, als ob seine Stimmbänder und sein Herz vor dem Mikrophon geblutet hätten. Die Songs selbst haben simple Melodien, karge Arrangements, oft einen lauten, rauen Sound, starke Gefühle und brutal autobiographische Songtexte. In einer bis dahin nicht gekannten Offenheit und emotionalen Radikalität sang Lennon, was er in der Seele spürte, und versuchte der ihn erstickenden Verbitterung zu entkommen.

In Mother geht es um seine traumatische Kindheit und Jugend ohne Vater, und einer zu früh verstorbenen, abgöttisch geliebten Mutter. In Hold On John spricht er über einer berückenden Tremologitarre sich und Yoko, aber auch dem Hörer Mut zu, man müsse durchhalten, bis es am Ende des finsteren Tunnels wieder lichter wird. In I Found Out wettert Lennon über Ringo Starrs mächtigem Getrommel, dem heftig pumpenden Bass von Klaus Voormann und seiner eigenen widerspenstigen, schrillen Gitarre über das, was ihm gerade so gegen den Strich geht. Working Class Hero hat eine starke politische Botschaft, es geht um die seelischen  Verstümmelungen, die den Menschen generell so im Laufe des Lebens zugefügt werden, und um die Ausbeutung der Arbeiterklasse im speziellen. In der hypnotischen Klavierballade Isolation offenbart Lennon seine Angst vor Einsamkeit, und sehnt sich nach innerer Ruhe und Glück. In Remember ermahnt er sich, sich nicht von der Vergangenheit unterkriegen zu lassen. Love meditiert zauberhaft über die Natur der Liebe, zugleich ist die anrührende Klavierballade ein Liebeslied für Yoko.

Well Well Well hat etwas vom Bluesrock von I Want You (She’s So Heavy) auf Abbey Road, Lennon schwadroniert über Sex und Politik, und das schlechte Gewissen, es sich als reicher Liberaler in der Sonne gut gehen zu lassen, schließlich eskaliert alles in einer Schreiorgie. Look At Me hingegen ist ein zartes, charmantes Geflüster zwischen Liebenden, auf den Spuren der von Lennon für das White Album der Beatles in Indien geschriebenen Akustikgitarrenballaden (Dear Prudence, Julia). Im großen musikalischen Drama von God schreit Lennon alle Mythen raus, an die er nicht (mehr) glaubt: Gott, die Bibel, Buddha, Yoga, Elvis, Zimmerman (Dylan), die Beatles, Hitler, Jesus, Kennedy (J.F.K.) und so fort. Er glaube nur noch an sich selbst, so Lennon, an Yoko und sich selbst. Der Traum sei vorbei. Er sei das das Walross gewesen, jetzt wäre er nur noch John. Punkt. Der Schlusssong My Mummy’s Dead, ein fragiles Kinderlied, ist mit all seinem Schmerz kaum zu ertragen. Eine offene Wunde, wie sie auch das blutige Attentat eines irren Fans auf John Lennon am 8. Dezember 1980 in New York für immer in dieser Welt hinterlassen hat.

John Lennon John Lennon/Plastic Ono Band, Apple Records, 1970

Record Collection N° 60: The Beatles “Beatles For Sale” (Odeon/EMI Records, 1964)

Das vierte Album der Beatles, „Beatles For Sale“ ist nicht ihr bestes, aber eine großartige und mitreißende Platte. Und die erste, die in meinem jungen Leben auftauchte, Licht und Hoffnung in meine Provinzwelt brachte und mein jugendliches Selbst veränderte.

Der amtlichen Beatles-Geschichtsschreibung gilt Beatles For Sale, das vierte Album der Fab Four, als einer der schwächeren Beatles-Longplayer. Dieses Urteil ist, mit Verlaub, falsch. Natürlich hat Beatles For Sale im extragrandiosen Kanon der Beatles-Alben keinen leichten Stand, aber auch keine leichte Entstehung. Weil inmitten der turbulenten Beatlemania, laufend auf Tournee, in Fernseh-, Film- und Radio-Studios, auf Pressekonferenzen, bei Interviews und Foto-Shootings, nicht viel Zeit und Energie übrig war fürs Songschreiben und die Aufnahmen in den Abbey Road Studios.

Im selben Jahr, 1964, war mit A Hard Day’s Night schon das erste Meisterwerk der Beatles veröffentlicht worden, alle Songs von Lennon/McCartney komponiert und getextet, fabelhaft gespielt und gesungen, die A-Seite der LP noch dazu der Soundtrack ihres ersten hinreißenden Kinofilms gleichen Namens. Dass während der Aufnahmen von Beatles For Sale unbedingt eine neue Single, die nicht am Album sein durfte, für den boomenden Plattenmarkt produziert werden musste, machte es für die vierte LP der Band nicht leichter. Wären I Feel Fine (A-Seite), eines von John Lennons optimistischsten Liedern mit seinem charakteristischen, verzerrten Feedback-Gitarrenriff, das George Harrison den ganzen Song hindurch spielt, und She’s A Woman, ein fulminanter Rocksong, den Paul McCartney geschrieben und mit seiner Little-Richard-Rock & Roll-Stimme gesungen hat, mit auf Beatles For Sale gewesen, wäre die Platte wohl ein großer Knüller gewesen. Aber auch so ist Beatles For Sale eine tolle, mitreißende Platte geworden – obwohl den Fab Four auf dem ikonischen Coverfoto die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben steht. Spuren der rasenden Beatlemania.

Beatles For Sale ist das erste Album der Beatles in meinem jungen Leben gewesen. Es tauchte noch vor den beiden, 1973 veröffentlichten Beatles-Samplern The Beatles 1962-1966 und The Beatles 1967-1970 auf, dem legendären Roten und Blauen Album der Fab Four, die in den 1970ern meiner Generation die Beatles nahebrachten. Ein älterer Freund in der Nachbarschaft, Franz mit Namen, hatte mir Beatles For Sale auf einer Musikcassette aufgenommen, die ich auf meinem neuen SABA-Radio-Rekorder, damals ein Wunderwerk der Technik für mich, praktisch pausenlos spielte, bis sie irgendwann kaputt ging, da hatte ich aber schon das Rote und das Blaue Album als Vinyl-Doppel-LPs, die Beatles For Sale LP folgte bald. Eine Offenbarung für mich, die Licht und Hoffnung in meine Provinzjugend brachte und mein Leben, innerlich jedenfalls, entscheidend veränderte.

Die Aufnahmen für Beatles For Sale mussten im prallen Terminkalenderder Beatles zwischen die vielen anderen Verpflichtungen gezwickt werden. Diesem Termindruck und einem dringend nötigen, aber fehlenden kreativen Durchschnaufen ist geschuldet, dass sich auf Beatles For Sale nur acht neue Beatles-Originale finden, dazu sechs Coverversionen alter Rock’n’Roll- und Rhythm-&-Blues-Hadern, die schon zu Beginn ihrer Karriere im Liverpooler Cavern Club und in den Hamburger Reeperbahn-Clubs im Repertoire der Beatles waren. Chuck Berrys Rock And Roll Music und Dr. Feelgoods Mr. Moonlight – beide von John inbrünstig gesungen. Kansas City, im Arrangement von Little Richard, furios gerockt von Paul. Buddy Hollys Words Of Love, im Duett von John und Paul gesäuselt. Und zwei Kracher von Carl Perkins, Everybody’s Trying To Be My Baby, als cooler Country-Swing von George rübergebracht, dazu Honey Don’t, von Ringo im Country-Stil gerockt. Das war das letzte Mal, von den 1969er Get-Back-Sessions mal abgesehen, dass die Fab Four die Plattentruhe mit den Hits ihrer Jugend plünderten.

Seite eins der LP wird von einem umwerfenden Lennon-McCartney-Trio eröffnet. Auf Johns Liebesleid-Klage No Reply, folgt sein Selbstzweifler I’m A Loser, sein bis hierhin persönlichster Song, der schon den Einfluss von Bob Dylan spüren ließ. Im Jänner 1964 sollen die Beatles nämlich nichts anderes im Hotel gehört haben als Dylans zweites Album The Freewheelin‘ Bob Dylan, das Paul vor Ort von einem französischen Radioreporter bekommen hatte, und Dylans gleichnamiges Debütalbum, dass sie sogleich selbst in einem Pariser Plattenladen kauften. John und Pauls Duett Baby’s In Black wirkt ähnlich niedergeschlagen wie die ersten beiden Lieder, erst Rock And Roll Music hebt die Stimmung, ebenso Pauls wundervoll perlende Ballade I‘ll Follow The Sun, die buchstäblich die Sonne aufgehen lässt, bevor Mr. Moonlight und Kansas City am Ende nochmal losfetzen und die Wände  wackeln lassen.

Seite zwei  wird vom populärsten Song des Albums, dem Wohlfühl-Hit Eight Days A Week, eröffnet, den die Beatles angeblich nie so recht gemocht haben, vor allem John Lennon nicht. Paul McCartney allerdings spielte es immer wieder in seinen Konzerten bis ins neue Jahrtausend, solange noch Tourneen möglich waren und nach Corona auch wieder. Der Rest von Seite zwei ist in der Folge vielleicht nicht ganz so stark und prickelnd wie die erste Seite. Words Of Love singen John und Paul in einem hübschen Duett, erstaunlicherweise ist es der einzige Song von Buddy Holly, den sie für eine ihrer Platten coverten, obwohl Holly ein großer Einfluss für sie war. Honey Don’t ist Ringos großer Country-Moment. Pauls Every Little Thing und das musikalisch stärkere What You’re Doing, das mit seiner zwölfsaitigen Gitarre den Folkrock-Sound der Byrds vorwegnimmt (und beeinflusst hat) handeln von Pauls komplizierter Liebesbeziehung mit der englischen Schauspielerin Jane Asher, die nicht nur die Freundin eines berühmten Popmusikers sein wollte, sondern eben auch Schauspielerin. Auch am Country-Flair von I Don’t Want To Spoil The Party lässt sich erkennen, dass die Beatles Countrymusik wirklich mochten. Gesungen wird es von John und Paul, die es eigentlich für Ringo geschrieben hatten, Johns persönlicher Text lamentiert über sein Unvermögen, den Verlust einer Geliebten zu verschmerzen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Mit dem coolen Country-Swing Everybody’s Trying To My Baby setzt George den Schlusspunkt auf Beatles For Sale, das mir ein wertvoller Teil meiner Plattensammlung ist.

The Beatles Beatles For Sale, Odeon/EMI Records, 1964

© Beatles For Sale Pics by the author.

Record Collection N° 33: The Beatles „Please Please Me“ (Parlophone, 1963)

„One, two, three, four!“ – Als Paul McCartney auf „Please Please Me“, dem 1963er Debütalbum der Beatles, eine Zeitenwende einzählte: den Urknall von Pop- und Rockmusik und den gesellschaftlichen Umbruch und Modernsierungsschub der 1960er Jahre.

„One, two, three, four!“ – Der 20-jährige Paul McCartney zählte so nicht nur den elektrisierenden Beat-Kracher I Saw Her Standing There, den Auftaktsong des Debütalbums der Beatles, ein – er behauptete später, eigentlich hätte er „One, two, three, f..k!“ gezählt. Pauls kecke Ansage ist jedenfalls die Initialzündung für den Urknall der Pop- und Rockmusik. Und für den gesellschaftlichen Umbruch und Modernisierungsschub der 1960er Jahre. Mit Please Plase Me  erfanden die Beatles die Beatmusik, also den Sound wie eine Rock- und Popband ab sofort klingen sollte. Energiegeladene Schlagzeug-Beats, melodiös pumpende Bassläufe, das scharfe, dynamische Duo von Rhythmus- und Sologitarre, leidenschaftlicher Gesang und betörende Gesangsharmonien.

Zehn der der 14 Songs von Please Please Mew wurden mit dem für die EMI arbeitenden Musikproduzenten George Martin, einem typisch britischen, vornehmen Gentleman, binnen zehn Stunden am 11. Februar 1963 in den Londoner Abbey Road Studios aufgenommen – obwohl die Beatles eigentlich gerade auf einer Tournee mit der englischen Popsängerin Helen Shapiro waren. Die Aufnahmen wurden aber rasch wegen des ersten britischen Nummer-1-Hits der Beatles, Please Please Me, angeordnet, mit dem sich die vier Musiker aus Liverpool sofort von den vielen anderen britischen Gitarrenbeatbands absetzen konnten, die Anfang der 1960er diesseits des Atlantiks beim Rock & Roll von Elvis Presley Feuer gefangen hatten.

Ihren rauen, furiosen Stromgitarren-Rock & Roll hatten die Beatles in Hunderten von Live-Auftritten in kleinen Szene- und Kellerlokalitäten wie dem Cavern Club in ihrer Heimatstadt Liverpool oder dem Star Club in Hamburg von der Pike auf gelernt, ebenso die schmusigen Herzdrückballaden zum Verschnaufen zwischendurch. Auf der Plattenhülle der von einer deutschen Programmzeitschrift „Hör Zu“ herausgegebenen Sonderauflage von Please Please Me lockte der Werbespruch „Die zentrale Tanzschaffe der weltberühmten Vier aus Liverpool“. Falsch war das nicht, denn selbst zu den langsameren Songs auf der Platte ließ sich ob ihres lässig schäkernden Grooves gut tanzen.

Die englische Originalhülle zeigte das legendäre Foto der Fab Four im Stiegenhaus des Londoner EMI-Hauptquartiers. Ende der 1960er stellten die Beatles mit langen Haaren und Bärten das Foto noch einmal nach – für das Cover des letztlich nicht realisierten Get Back-Albumprojekts. Auf der Cover-Rückseite die schlichte Vorstellung der vier jungen Musiker, man beachte die Reihenfolge: George Harrison (Sologitarre, noch keine 20 Jahre alt), John Lennon (Rhythmusgitarre, 22), Paul McCartney (Bassgitarre, 20), Ringo Starr (Schlagzeug, 22).

Vier Namen, die man sich fortan merken sollte. Ihr explosiver Mix aus Rock & Roll-Krachern und Schmachtfetzen – aus acht klasse Eigenkompositionen und sechs gut gewählten fremden Songs aus ihrem erprobten Live-Programm – kündigte Großes an. Eingerahmt wird Please Please Me von zwei der zündendsten Dynamitrocker, die die Beatles je aufgenommen haben. Das selbst geschriebene I Saw Her Standing There geht gleich zu Beginn gewaltig los. Die Lichter bläst am Ende der welterschütternde Rock’n’Roll von Twist and Shout aus, das sich die Beatles genauso selbstverständlich zu Eigen machen wie alle anderen Coverversionen der Platte.

Während John Lennon sich ohne Rücksicht auf seine malträtierten Stimmbänder durch Twist and Shout schreit, schmachtet er auch Burt Bacharachs Baby It’s You mit großer Leidenschaft. Paul McCartney kehrt in A Taste Of Honey schon einmal den charmant charismatischen Romantike hervor, allerdings einen mit rauer Schale. Und der von Carole King geschriebene Girl-Group-Hit Chains wird von John, Paul & George mit perlendem Harmonie-Gesang vorgetragen, der auf den 2009er Beatles-Remasters noch brillanter strahlt.

Die Gesangsparts zählen neben Bass und Schlagzeug zu den großen Gewinnern der 2009er Remasters des gesamten Beatles-Katalogs. Welche Nuancen der kraftvoll klare, transparenter abgestimmte Sound jetzt hörbar macht, tritt auch in Boys zu Tage, das Schlagzeuger Ringo singt. Die Rhythmus-Gruppe mit Ringo Starrs dynamischem Getrommel und Paul McCartneys druckvollem, hochmelodiösem Bassspiel ist eine Offenbarung und auch George Harrisons schneidige Sologitarre fetzt voll in der Manier von Country-Gitarrist Chet Atkins. Die Eigenkompositionen, die hier übrigens noch dem Duo McCartney/Lennon zugeschrieben sind – ab dem zweiten Album With The Beatles sollte es Lennon/McCartney heißen –, werden von den beiden Hitsingles Love Me Do und Please Please Me angeführt – zwei famose Rock’n’Roller, denen Misery oder There’s A Place nicht nachstehen. Süßlich säuselnd hingegen die Balladen P.S. I Love You, Ask Me Why und das von George Harrison gesungene Do You Want To Know A Secret.

Die 1987er CD-Ausgabe brachte die ersten vier Alben der Beatles im klassischen Mono-Sound, der stumpf und dumpf aus den Lautsprechern kam. Die 2009er Remasters präsentieren dagegen erstmals George Martins Stereo-Mix aus den 1960ern auf CD – mit der  gewöhnungsbedürftigen Links-/Rechts-Aufteilung von Instrumenten und Stimmen, die in vollem Effekt aber schon enormen Druck machen kann. Die in der The Beatles In Mono-Box neu remasterte, originale Monoversion klingt aber noch energiegeladener, rauer, wilder – voll auf den Punkt. Ganz abgesehen davon, dass die Beatles selbst aus dem läppischsten Plastikradio und der stumpfesten Küchenmaschine noch hinreißend rausrocken – so gut wie anno 2009 haben die Beatles seit den alten Vinyl-Platten der 1960er Jahren nicht mehr geklungen.

Please Please Me ist auch Jahrzehnte nach seinem Entstehen noch taufrisch, voll Charisma, jugendlicher Energie und unwiderstehlichem Enthusiasmus.

The Beatles Please Please Me, Parlophone, 1963/2009

© Please Please Me pics taken by the author.

Record Collection N° 145: Bob Marley & The Wailers „Catch A Fire” (Island Records, 1973)

Das im April 1973 veröffentlichte Album Catch A Fire  begründete Bob Marleys globalen Ruhm. Aber die internationale Version, die in London entstanden ist, unterscheidet sich von der schon 1972 in Kingston, Jamaika aufgenommenen Version.

Im Ghetto-Song Concrete Jungle schrauben sich über dem pulsierenden Rhythmus die klaren Gesangsharmonien von Bob Marley, Peter Tosh und Bunny Livingston empor: „No sun will shine in my day today …“ Aufgenommen wurden ihre Stimmen in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston, wo The Wailers 1972 ihr Debüt für Chris Blackwells Label Island einspielten. Die geschmeidigen Gitarrenläufe und das hart rockende Solo, die den ersten Song auf Catch A Fire ebenso prägen wie die Stimmen der Wailers wurden Monate später in London hinzugemischt. Dort unterzog Blackwell die von Marley mitgebrachten Bänder einer subtilen Soundpolitur, um die Reggae-Musik auch dem weißen Rockpublikum näher bringen zu können.

Chris Blackwells Idee war die große Chance für die Wailers. Ihre in den frühen 1960er Jahren mit fetzigem Ska gestartete Karriere stagnierte. Um die Jahrzehntwende produzierten sie mit dem legendär bekifften Produzenten Lee Perry eine Reihe jamaikanischer Hits wie Trenchtown Rock, abseits Jamaikas blieb ihre Musik aber ohne größere Resonanz. Blackwells dynamischer Mix eröffnete eine neue Dimension: Der Gitarrist Wayne Perkins gab nicht nur Concrete Jungle einen Kick, er zauberte auch die hypnotisch flirrenden Töne in Stir It Up aus seiner Steelgitarre. Der britische Keyboarder John Bundrick sorgte mit Synthesizer und Orgel für intensive  Klangfarben und gab No More Trouble das an Stevie Wonder erinnernde Klavinett-Riff.

Auf dem originalen stylishen Cover, der Nachbildung eines Zippo-Feuerzeugs, wurden nur die Namen der Wailers genannt.Es brauchte  bis 2001, dass allen beteiligten Musikern ihre Credits gewährt wurden. Auf der in diesem Jahr veröffentlichten Deluxe Edition von Catch A Fire konnte man zum ersten Mal auf einer zweiten CD auch die Originalversionen der Songs hören – so wie die Wailers sie 1972 in Kingston, Jamaika aufgenommen hatten. Zudem gibt es mit High Tide Or Low Tide und All Day All Night hier auch die beiden souligeren Stücke, die Chris Blackwell damals nicht auf dem Album haben wollte. Die ursprünglichen Aufnahmen verzichten auf raffinierte Klangeffekte und setzen auf einen simplen, raueren und intimeren Sound. Der lose, weitschweifige one drop rhythm der Barrett Brüder pumpt hypnotisch aus den Boxen, Peter Toshs monoton minimale Gitarrenriffs und die süßen, aber messerscharfen Gesangssätze schneiden durch die dicken Ganja-Schwaden. Kinky Reggae – ein gedämpfter, cooler Groove mit spirituellen Vibes.

Neben Bob Marley als dem Hauptsongschreiber und Leadsänger steuerte Peter Tosh zwei Songs bei, 400 Years und Stop That Train, welche die Verbrechen der Sklaverei anklagten. Mit den ausnahmslos starken Songs wurde Catch A Fire zum ersten richtigen Album des Reggae, der zuvor vor allem auf die Veröffentlichung von Singles konzentriert war. Die Kritik an der Unterdrückung und Ausbeutung der entrechteten Dritte-Welt-Bevölkerung, die urbanen Getto-Stories und die leidenschaftliche Liebeslyrik bewirkten, dass der charismatische Bob Marley bald mit Songschreibern wie Bob Dylan, Stevie Wonder oder Curtis Mayfield verglichen wurde. Innerhalb der Wailers kam es zu Eifersüchteleien und Machtkämpfen. Ein Jahr und ein weiteres Album später hatten Peter Tosh und Bunny Livingston die Band schon verlassen: Bob Marley setzte seinen Weg mit den neu formierten Wailers fort.

Das Album: Catch A Fire

Aufgenommen 1972 in Kingston, Jamaika, und London, England.  Veröffentlicht: 13. April 1973. Chartsplazierung: Keine (England), 171 (USA). Band: Bob Marley (Gesang, Akustikgitarre), Peter McIntosh, später Tosh (Piano, Orgel, Gitarre, Gesang), Bunny Livingston (Congas, Bongos, Gesang), Aston Barrett (Bass), Carlton Barrett (Schlagzeug) sowie John Bundrick (Synthesizer, Orgel), Wayne Perkins (Leadgitarre) u.a. Produzenten: Bob Marley & The Wailers & Chris Blackwell.

Bob Marley & The Wailers Catch A Fire, Island Records, 1973

© Catch A Fire Pics shot by the author.

Record Collection N° 139: The The „Soul Mining” (Epic, 1983)

Vor rund vierzig Jahren erschien mit „Soul Mining“ eines der besten Pop-Alben der 1980er Jahre. Es war Matt Johnsons erstes Album unter dem Spitznamen The The und ist ein Selbstporträt des Künstlers als nachdenklicher junger Mann – gequält von emotionalen Schwankungen, Sehnsüchten, Weltschmerz und gerettet von der heilenden Kraft der Popmusik.

Wenn der Morgen graut, und die Nadel sich in die Plattenrille senkt und der Countdown beginnt: „Six, five, four, three, two, one … zero!“, knistert es und schon detoniert der erste Beat. „All my childhood dreams are bursting at the seams“, röchelt der Sänger, ein schmächtiger, blasser Bursche, der den schmerzvollen Blues vom Erwachsenwerden singt. Ein dreiundzwanzigjähriger Melancholiker, der auf der Suche nach seiner verlorenen Jugend und irgendeinem Sinn in seinem Leben ist: „I’ve been waiting for tomorrow / All of my life.“ Eine drückende Katerstimmung schiebt sich über das Morgengrauen. „You didn’t wake up this morning / Because you didn’t go to bed”, grübelt Matt Johnson mit tiefer, rauchiger Stimme in This Is The Day, dem zentralen Song von Soul Mining. „Du hast beobachtet / Wie das Weiße in deinen Augen rot wird”, sinniert er weiter und schmachtet eine verführerische Melodie wie aus einem Chanson.

Paris stand bei der britischen Popintelligenz in den frühen 1980ern hoch im Kurs, Songs wurden in Anlehnung an Romane von Camus geschrieben, Alben nannte man Café Bleu, postmoderne französische Philosophen wurden für den theoretischen Überbau zitiert. Die Musik schwankt zwischen düsteren, pessimistischen Post-Punk-Experimenten, Lärmexzessen und  strahlender, geiler Pop-Euphorie. Am Grad zwischen Depression und Glückseligkeit balancierend, produziert Matt Johnson, ein genialischer britischer Songschreiber, Lyriker, Multiinstrumentalist und Sänger, sein zweites Album Soul Mining. In der offiziellen Diskografie gilt sein Debütalbum Burning Blue Soul von 1981 heute als erste Platte von The The, es gibt seit 2004 auch eine Neuauflage mit eigenem Cover im punkig-expressiven Grafikstil der ersten The-The-Platten, erschienen ist es damals aber unter Matt Johnsons Namen, klarer Fall von Geschichtsklitterung.

Soul Mining ist und bleibt Matt Johnsons erstes Album unter dem Firmennamen The The, inzwischen ist die Ende der 1970er Jahre gegründete Band wieder ein Einmannbetrieb mit Gastmusikern. „Der Kalender an der Wand zählt die Tage runter“, brummt die Raucherstimme, während ein Akkordeon und eine Fiedel sich über harschen Computerbeats wiegen, und Matt hinabsteigt in das Kellergewölbe seiner Seele. Unterwegs verfängt er sich in Selbstmitleid und Selbstzweifel, versucht sich loszureißen und amüsiert sich königlich über seine Jammerei und über das Wehklagen von allen anderen.

Matt Johnson besingt auf Soul Mining nicht weniger als das Gewicht der Welt, das schmerzlich auf seinen jungen Schultern lastet. Die sieben Songs auf Soul Mining (auf einer CD-Edition ist noch die wunderbare Single Perfect angehängt, die den ersten Vinyl-LPs als 12-Inch-Vinyl beigelegt war) sind verdichtetes Leben und romantische Fiktion. Ein Pop-Album, das den Künstler als nachdenklichen jungen porträtiert Mann – gequält von  Gefühlsschwankungen und brennenden Begierden, bedrängt von seinem Weltschmerz,  gerettet von seinem schwarzen Humor und der heilenden Kraft der Popmusik. „My head is like a junk shop / in desperate need of repair”, heult der Sänger in The Sinking Feeling,  und folgert gewitzt: „Am besten gehe ich gleich wieder ins Bett.“ Matt Johnson verpackt seine emotionale Nabelschau nicht in fragilen Folkrock, tröge Rock-Balladen oder schaurige Industrial-Hämmer, er inszeniert sie lieber als modernen, kraftvoll melodiösen Electro-Pop, der einen voll berührt. „Something always goes wrong / when things are going right“, behauptet er im Titelsong. Das mag so sein. Aber auf Soul Mining läuft gar nichts falsch, doch war Matt Johnson je wieder so gut?

Soul Mining: Aufgenommen von Herbst 1982 bis Frühjahr 1983 in London und New York. Veröffentlicht: Oktober 1983. Charts-Platzierung: 27 (UK). Musiker: Matt Johnson (Synthesizer, Percussion, Gesang), Zeke Manyika (Schlagzeug), Camelle G. Hinds (Bass), Thomas Leer (Synthesizer), Jools Holland (Klavier) und andere. Produzenten: Matt Johnson & Paul Hardiman.

The The Soul Mining, Epic, 1983