Record Collection N° 240: Neil Diamond “The Bang Years 1966-1968” (Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011)

Als Neil Diamond beim Songschreiben seine Muse gefunden hat: The Bang Years 1966-1968 bietet einen Überblick über Neil Diamonds frühes, großartiges Schaffen in den 1960ern – ein wundervoller Mix aus lebensfrohem Pop und schwermütigen Balladen.

The Bang Years 1966-1968 dokumentiert ein faszinierendes frühes Kapitel des im Jänner 1941 in Brooklyn, New York geborenen Sängers und bietet einen Überblick über Neil Diamonds Schaffen in den 1960ern. Mit den 23 hier gesammelten Songs und den ehrlichen autobiografischen Liner Notes von Neil Diamond entsteht ein bewegendes, lebendiges Porträt eines aufstrebenden, endlich etwas reißen wollenden, hungrigen Sängers und Songschreibers, der seinem Talent vertraut, und mit seinen Songs seiner inneren Leere zu Leibe rückt.

Mit 16 bekam Neil Diamond, der Sohn einer polnisch-russischen Einwandererfamilie jüdischen Glaubens, zum Geburtstag eine Gitarre geschenkt. Er wollte Sänger werden und seine eigenen Lieder schreiben. Nach Jahren des Scheiterns versuchte er, das Songschreiberhandwerk im legendären New Yorker Brill Building zu erlernen, einer Hitfabrik, wo professionelle Songschreiber-Teams wie Jerry Leiber und Mike Stoller, Carole King und Gerry Goffin oder Ellie Greenwich und Jeff Barry am laufenden Band wunderbare Pophits komponierten und produzierten. Leider und Stoller etwa Jailhouse Rock oder King Creole für Elvis Presley, King und Goffin Will You Still Love Me Tomorrow von den Shirelles oder The Loco-Motion für Little Eva, Greenwich und Barry Be My Baby oder Baby, I Love Youfür die Ronettes. Ein ähnlich großer Wurf gelang Neil Diamond im Brill Building, wo Ellie Greenwich ihm die Türen geöffnet hatte und Leiber und Stoller ihn als bezahlten Songschreiber unter Vertrag nahmen, aber nicht. Noch nicht.

Mitte der 1960er stand Neil Diamond daher das Wasser bis zum Hals. Als herzlich erfolgloser Möchtegernsänger und Auftragssongschreiber kämpfte er ums künstlerische und finanzielle Überleben. Er war frustriert, weil der Erfolg auf sich warten ließ, er aber schon eine kleine Familie zu ernähren hatte und der Schritt, schlussendlich in einem „normalen“ Job versauern zu müssen, bedrohlich näher rückte.

Nach dem Rauswurf aus dem Brill Building,weil ihm keine Hitkompositionen gelangen, ging Neil Diamond plötzlich der Knopf auf. „Ich setzte mich hin und machte, was ich immer machte, wenn ich glücklich und begeistert war. Ich schrieb Songs, aber dieses Mal nicht einfach Songs, sondern Lieder, die meine echten Gefühle ausdrückten. Es war, als ob ich mein Inneres anzapfte“, notiert Diamond in seinen Liner Notes von The Bang Years. Und er nutzte die Kontakte, die er im Brill Building geknüpft hatte. Ellie Greenwich, der er anvertraut hatte, dass er eigentlich seine eigenen Songs schreiben und singen wollte, empfahl ihn an Atlantic Records weiter, wo er für den von den Atlantic-Bossen gegründeten Ableger Bang Records unter Vertrag genommen wurde.

Die 23 Songs auf The Bang Years, die Neil Diamond 1966 und 1967 für Bang Records aufgenommen hat, wurden großteils von Ellie Greenwich und Jeff Barry produziert, finden sich fast alle auf seinen ersten beiden Alben, und sind hier im originalen Mono-Sound zu hören – ein grandioser Mix aus lebensfrohem, ausgelassenem Pop und üppigen, schwermütigen, aber auch genießerisch schwelgenden Balladen.

Schon Diamonds erste Single Solitary Man, eine Art mürrisch-melancholischer Country-Ballade, knackte im Frühjahr 1966 die US-Charts. „Mein Leben hatte sich damit für immer verändert“, meint Diamond. Mit dem überschäumenden, liebestrunkenen, mit einem Latin Groove gepfefferten Gute-Laune-Song Cherry, Cherry, einem Drei-Akkord-Rock’n’Roll-Wunder, gelang Neil Diamond dann der erste eigene Top-Ten-Hit, während The Monkees mit seinem Knaller I’m A Believer einen Nummer-1-Hit hatten. Solitary Man und Cherry, Cherry stammen von Diamonds 1966er Debütalbum The Feel Of Neil Diamond. Auf beide Songs und etliche andere von The Bang Years wollte Diamond zu Recht in seinen Konzerten nie verzichten.

Auf Cherry, Cherry folgen die theatralische Ballade Girl, You’ll Be A Woman Soon, sein 2. Top-Ten-Hit in den USA, von seinem zweiten Album Just For You (1968), das Jahre später Urge Overkill grandios coverten für den Soundtrack von Quentin Tarantinos Kultfilm Pulp Fiction. Das schwungvolle, schon im später typischen Neil-Diamond-Stil scheinbar schwebende Kentucky Woman, seine letzte Single für Bang Records, vom Oktober 1967, das ein Jahr später von Deep Purple gecovert wurde. Der Rhythm and Blues-Groover Thank The Lord For The Night Time und der stramme Rocker You Got To Me. Neil Diamonds eigene mitreißende Version von I’m A Believer und Red Red Wine, das 1969 ein großer jamaikanischer Reggae-Hit für Tony Tribe war, in den 1980ern in England nochmal für UB 40. Der knackige aufgekratzte, pure Pop von The Boat That I Row, den 1967 die schottische Sängerin Lulu zum Hit machte. Im hymnischen Do It vermag man schon den künftigen Neil Diamond zu hören, beim majestätischen The Long Way Home und dem klingelnden Folkrocker I’ve Got The Feeling (Oh No No) ist es nicht anders. Someday Baby hat den düsteren Beat von Velvet Underground.

Zwischendrin eingestreut sind einige energiegeladene Coverversionen, die von Neil Diamonds Einflüssen künden und alle von seinem 1966er Debütalbum stammen, das zweiteJust For You brachte nur noch selbstverfasste Songs. New Orleans (Gary U.S. Bonds), Monday, Monday (The Mamas and The Papas), Red Rubber Ball (Paul Simon), La Bamba (Ritchie Valens), Hankie Panky (Tommy James and the Shondells, geschrieben von Ellie Greenwich und Jeff Barry).  

Am Ende machen sich Shilo, Diamonds erste große Powerballade, die er mit seiner starken Baritonstimme, festem Einzelgänger-Blick und mächtigen Koteletten grandios präsentiert, und das bluesige The Time Is Now, die B-Seite von Kentucky Woman, schon auf den ernsten, grüblenden Singer-Songwriter-Pfad, den Neil Diamond nach den wenigen Jahren bei Bang Records, wo er wegen künstlerischer und finanzieller Differenzen das Weite suchte, beschritten hat.

Neil Diamond The Bang Years 1966-1968, Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011

© Bang Years Pic by the author.

Record Collection N° 162: John Lennon “Gimme Some Truth” (Universal Music International, 2020)

Eine allerfeinst zusammengestellte, kraftvoll und brillant klingende Kollektion der Solosongs von John Lennon  nach der Trennung der Beatles. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

Die erste Best-Of-Sammlung von John Lennon, Shaved Fish, war die einzige die zu Lennons Lebzeiten 1975 veröffentlicht wurde. Und sie sollte für eine lange Zeit auch die beste bleiben, obwohl nach der Ermordung des Ex-Beatle im Dezember 1980 eine Vielzahl an Lennon-Kollektionen erschienen ist, darunter die formidablen Working Class Hero: The Definitive Lennon (Doppel-CD, 2005) und Power To The People: The Hits (CD/DVD, 2010).

Mitunter waren das aber lieblos zusammengeschusterte Einzel-CDs oder überbordende Box Sets, die man interessehalber vielleicht ein paarmal hört und dann nie wieder, und sie verstauben im Regal. Auch von Gimme Some Truth, das zum 80. Geburtstag von John Lennon erschienen ist, gibt es gleich mehrere Editionen mit so vielen CDs oder LPs, das man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Übrigens hat es bereits 2010 eine pralle 4-CD-Box gleichen Namens gegeben, die ambitioniert wirkte, aber erneut mehr etwaswas für Sammlerregale war statt häufig gespielt zu werden.

Bei Gimme Some Truth anno 2020 machen zwei Fakten den Unterschied: Erstens wurden die 36 Songs dieser 2-CD-Deluxe-Edition von Johns Sohn Sean und Yoko Ono persönlich ausgewählt. Und es ist fast alles mit dabei, was für das Beste von John Lennon dabei sein sollte.  Ob Singles oder Albumtracks, die meisten sind natürlich sehr bekannt, aber oho: Give Peace A Chance, Cold Turkey, Instant Karma!, Power To The People, Gimme Some Truth, Jealous Guy und Imagine bis Whatever Gets You Thru The Night, Stand By Me, (Just Like) Starting Over, Watching The Wheels, Woman, Losing You oder Nobody Told Me erzählen John Lennons Geschichte nach der Trennung der Beatles. Das Spektrum seiner Themen – Seelenschmerz, Liebe, Friede, Religion, Rassismus, Politik, Anti-Beatles – ist präsent. Auch wenn sein ultimativer Trauma-Song Mother ebenso wie Woman Is The Nigger Of The World aus welchen Gründen immer weggelassen wurde, auf Working Class Hero war er 2005 jedenfalls noch zu finden. Dafür gibt es mit der Angela (über die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis) von Some Time In New York City und Angel Baby, ein Outtake der Aufnahmesessions des 1975er Album Rock ’n‘ Roll, zwei nicht so oft gehörte Songs von John Lennon.

Zweitens ist der remasterte Sound, der unter der Ägide von Sean Lennon abgemischt wurde und von der Plattenfirma als „Ultimate Remixes“ beworben wird, eine Offenbarung. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

John Lennon Gimme Some Truth, Universal Music International, 2020

Record Collection N° 49: The Beatles „With The Beatles” (Parlophone/EMI, 1963/2009)

Beatlemania pur. „With The Beatles“ ist das zweite Album der Fab Four, ein Yeah-Yeah-Yeah-Wunder aus Liverpool. Veröffentlicht wurde es vor sechzig Jahren am 22. November 1963 im britischen United Kingdom, der Heimat der Beatles. Am europäischen Festland gab es die Platte schon zwei Wochen früher, dort war es aber das Debütalbum von John, Paul, George and Ringo.

Vorne auf dem Plattencover – das ikonische Schwarzweißfoto der Fab Four aus Liverpool, das den ganz frühen Fotos der Band nachempfunden ist, welche die mit der Band befreundete Fotografin Astrid Kirchherr in Hamburg geknipst hat. In den orginalen Linernotes des Albums, die auch im Booklet der pipifein remasterten 2009er Neuauflage von With The Beatles abgedruckt sind, schreibt Pressemann Tony Barrow im November 1963: „The Beatles haben die Erfolgsformel wiederholt, die ihre erste LP Please Please Me zum am schnellsten verkaufenden Album von 1963 machte.“

Es stimmt. Die 33 Minuten neuer Beatles-Musik auf With The Beatles, diese 14 frisch eingespielten neuen Songs sind Please Please Me, Teil 2 – ungeniert und das mit Recht, voller Selbstbewusstsein.

1963 explodierte die Karriere der Beatles. Beatlemania überall. Auf das im März veröffentlichte Debütalbum folgten rasch mit dem bluesigen From Me To You (April) und dem explosiven Yeah-Yeah-Yeah-Wunder She Loves You (August) zwei nur als Singles veröffentlichte Nummer-1-Hits. Und gar nur eine Woche nach der Veröffentlichung von With The Beatles brachte die Band mit dem vor freudiger Energie nur so vibrierenden Lennon/McCartney-Duett I Want To Hold Your Hand schon wieder einen neuen, nur auf Single veröffentlichten Hit in die Läden, der 1964 auch die USA erobern sollte.

Die Aufnahmen für With The Beatles starteten Mitte Juli 1963, als in Großbritannien die Beatlemania schon voll im Rollen war, eingeschoben zwischen Tourneen, Radio- und TV-Shows und sonstigen Verpflichtungen der vier Musiker. Allzu viel Zeit für die Arbeit im Aufnahmestudio blieb da nicht. Ein paar Stunden mehr wie noch beim Debüt sollen es schon gewesen sein, man hört die zusätzliche Studiozeit ebenso wie die bereits im Aufnahmestudio gewonnene Erfahrung. Einerseits wirken die härteren Stücke nicht mehr ganz so rau und ungeschliffen wie noch auf Please Please Me, andererseits ist eine gesteigerte Raffinesse in Stücken wie dem wunderbaren All My Loving mit seinen wirbelnden Akkordgirlanden oder in Paul McCartneys süß romantischer Schmachtballade Till There Was You deutlich zu bemerken.

With The Beatles übernimmt von Please Please Me die zündende Mixtur von eigenen Song-Orginalen, die unterwegs auf Tour geschrieben wurden, und bewährten Rock & Roll- und Rhythm & Blues-Krachern aus der Liveshow der Beatles. Es versucht auch, die dramaturgische Klammer des Debüts zu wiederholen: Das stürmische It Won’t Be Long reicht mit seinen frenetischen Yeah-Schreien zwar nicht ganz an I Saw Her Standing There heran, aber wie viele Songs können das schon? Und am Ende gelingt den Beatles mit dem Motown-Stomper Money (That’s What I Want) ein brennender Soul-Rocker, der es mit der Ekstase von Twist And Shout aufnehmen kann. Es ist wieder John Lennon, der sich hier die Stimmbänder in Fransen brüllt.

Neben Money finden sich unter den Coverversionen noch zwei weitere Songs aus der Detroiter Soul-Hitfabrik Motown. Smokey Robinson & The Miracles’ You Really Got A Hold On Me, für das sich Lennon einmal mehr voll Inbrunst die Stimmbänder blutig röhrt. Auch in Please Mister Postman agiert er an vorderster Front, unterstützt von den gekonnten Vokalharmonien Paul McCartneys und George Harrisons. McCartney setzt dann mit  Till There Was You einen wunderbaren romantischen Höhepunkt. George Harrison singt Chuck Berrys Roll Over Beethoven zwar mitreißend – das ratternde Schlagzeug von Ringo Starr stiehlt ihm aber fast die Show. Auch weil George nicht ganz so kraftvoll rüberkommt wie  John Lennon ein Jahr später im anderen Chuck-Berry-Klassiker Rock And Roll Music auf dem vierten Beatles-Album Beatles For Sale.

So gut die Coverversionen auf With The Beatles sind, noch besser sind die acht von ihnen selbstgeschriebenen Songs, die das Herz der Platte bilden. Darunter auch das trotz fetzigem Gitarrensolo noch leicht blasse Don’t Bother Me, der erste von George Harrison geschriebene und gesungene Beatles-Song. Am allerbesten in seiner simplen, hinreißenden Schönheit und dem jugendlichem Überschwang ist Paul McCartneys All My Loving. Fast genauso gut: It Won’t Be Long und die schmerzlich schöne Lennon-Ballade All I’ve Got To Do. Not A Second Time, eine weitere bittere Midtempo-Ballade von John Lennon über eine enttäuschte Liebe mit einer umso reichhaltigeren Melodie und einem verzerrten Piano-Solo von Produzent George Martin. Little Child, einer ihrer besten eigenen, frühen Rocker. Und das noch härter rockende I Wanna Be Your Man, das sich schon einige Wochen zuvor die Rolling Stones für ihre zweite Single ausliehen, mit dem supercoolen Ringo als Sänger. Alles einmal mehr in Mono statt Stereo noch eine Spur brisanter tönend. Vor allem You Really Got A Hold On Me und Money sind an Intensität und Spannung im originalen Mono-Mix kaum zu überbieten. Beatlemania pur.

The Beatles With The Beatles, Parlophone/EMI, 1963/2009

Record Collection N° 139: The The „Soul Mining” (Epic, 1983)

Vor rund vierzig Jahren erschien mit „Soul Mining“ eines der besten Pop-Alben der 1980er Jahre. Es war Matt Johnsons erstes Album unter dem Spitznamen The The und ist ein Selbstporträt des Künstlers als nachdenklicher junger Mann – gequält von emotionalen Schwankungen, Sehnsüchten, Weltschmerz und gerettet von der heilenden Kraft der Popmusik.

Wenn der Morgen graut, und die Nadel sich in die Plattenrille senkt und der Countdown beginnt: „Six, five, four, three, two, one … zero!“, knistert es und schon detoniert der erste Beat. „All my childhood dreams are bursting at the seams“, röchelt der Sänger, ein schmächtiger, blasser Bursche, der den schmerzvollen Blues vom Erwachsenwerden singt. Ein dreiundzwanzigjähriger Melancholiker, der auf der Suche nach seiner verlorenen Jugend und irgendeinem Sinn in seinem Leben ist: „I’ve been waiting for tomorrow / All of my life.“ Eine drückende Katerstimmung schiebt sich über das Morgengrauen. „You didn’t wake up this morning / Because you didn’t go to bed”, grübelt Matt Johnson mit tiefer, rauchiger Stimme in This Is The Day, dem zentralen Song von Soul Mining. „Du hast beobachtet / Wie das Weiße in deinen Augen rot wird”, sinniert er weiter und schmachtet eine verführerische Melodie wie aus einem Chanson.

Paris stand bei der britischen Popintelligenz in den frühen 1980ern hoch im Kurs, Songs wurden in Anlehnung an Romane von Camus geschrieben, Alben nannte man Café Bleu, postmoderne französische Philosophen wurden für den theoretischen Überbau zitiert. Die Musik schwankt zwischen düsteren, pessimistischen Post-Punk-Experimenten, Lärmexzessen und  strahlender, geiler Pop-Euphorie. Am Grad zwischen Depression und Glückseligkeit balancierend, produziert Matt Johnson, ein genialischer britischer Songschreiber, Lyriker, Multiinstrumentalist und Sänger, sein zweites Album Soul Mining. In der offiziellen Diskografie gilt sein Debütalbum Burning Blue Soul von 1981 heute als erste Platte von The The, es gibt seit 2004 auch eine Neuauflage mit eigenem Cover im punkig-expressiven Grafikstil der ersten The-The-Platten, erschienen ist es damals aber unter Matt Johnsons Namen, klarer Fall von Geschichtsklitterung.

Soul Mining ist und bleibt Matt Johnsons erstes Album unter dem Firmennamen The The, inzwischen ist die Ende der 1970er Jahre gegründete Band wieder ein Einmannbetrieb mit Gastmusikern. „Der Kalender an der Wand zählt die Tage runter“, brummt die Raucherstimme, während ein Akkordeon und eine Fiedel sich über harschen Computerbeats wiegen, und Matt hinabsteigt in das Kellergewölbe seiner Seele. Unterwegs verfängt er sich in Selbstmitleid und Selbstzweifel, versucht sich loszureißen und amüsiert sich königlich über seine Jammerei und über das Wehklagen von allen anderen.

Matt Johnson besingt auf Soul Mining nicht weniger als das Gewicht der Welt, das schmerzlich auf seinen jungen Schultern lastet. Die sieben Songs auf Soul Mining (auf einer CD-Edition ist noch die wunderbare Single Perfect angehängt, die den ersten Vinyl-LPs als 12-Inch-Vinyl beigelegt war) sind verdichtetes Leben und romantische Fiktion. Ein Pop-Album, das den Künstler als nachdenklichen jungen porträtiert Mann – gequält von  Gefühlsschwankungen und brennenden Begierden, bedrängt von seinem Weltschmerz,  gerettet von seinem schwarzen Humor und der heilenden Kraft der Popmusik. „My head is like a junk shop / in desperate need of repair”, heult der Sänger in The Sinking Feeling,  und folgert gewitzt: „Am besten gehe ich gleich wieder ins Bett.“ Matt Johnson verpackt seine emotionale Nabelschau nicht in fragilen Folkrock, tröge Rock-Balladen oder schaurige Industrial-Hämmer, er inszeniert sie lieber als modernen, kraftvoll melodiösen Electro-Pop, der einen voll berührt. „Something always goes wrong / when things are going right“, behauptet er im Titelsong. Das mag so sein. Aber auf Soul Mining läuft gar nichts falsch, doch war Matt Johnson je wieder so gut?

Soul Mining: Aufgenommen von Herbst 1982 bis Frühjahr 1983 in London und New York. Veröffentlicht: Oktober 1983. Charts-Platzierung: 27 (UK). Musiker: Matt Johnson (Synthesizer, Percussion, Gesang), Zeke Manyika (Schlagzeug), Camelle G. Hinds (Bass), Thomas Leer (Synthesizer), Jools Holland (Klavier) und andere. Produzenten: Matt Johnson & Paul Hardiman.

The The Soul Mining, Epic, 1983

Record Collection N° 122: T. Rex „Bolan Boogie” (Fly Records/ Donauland-Club-Sonderauflage, 1972)

Eine famose Best-Of-Sammlung der frühen Hits von Marc Bolan und T. Rex und zugleich eine der ersten Langspielplatten des Autors.

Das war eine der ersten Langspielplatten in meiner Plattensammlung. Weil meine Mutter Mitglied im Donauland-Buchclub war, kam vier Mal im Jahr der neue Donauland-Katalog ins Haus, und ich durfte mir Bücher und Schallplatten bestellen. Mitunter gab es bei Donauland von aktuellen Hitalben sogar eigene Club-Sonderauflagen. Auch von Bolan Boogie, mit eigener Plattenhülle, auf der der T. Rex-Sänger, Gitarrist, Songschreiber Marc Bolan auf der Vorderseite in glamouröser Rock’n’Roller-Pose zu sehen ist, die englische Originalausgabe hatte dort nur einen bunten Schriftzug, das klasse Coverfoto der Donauland-Platte auf die Rückseite verbannt.

Bolan Boogie war eine der erfolgreichsten LPs von T. Rex und ihr letztes Nummer-1-Album in Großbritannien. Erschienen ist es 1972 zwischen dem ersten gleichnamigen Album, für das Marc Bolan die Band neu formierte, und ihrer besten LP Electric Warrior. Es dokumentiert den Wandel Marc Bolans vom verträumten Hippie-Folk-Barden zum elektrisierten, elektrisierenden Rock’n’Roller und Glamrocker.

Nachdem Marc Bolan als cooler Feschak Mitte der 1960er Jahre in der Londoner Mod-Szene auftauchte wie auch David Bowie, gründete er 1967, im Jahr des Sommers der Liebe, die Band Tyrannosaurus Rex, mit dem Perkussions- und Bongos-Spieler Steve Peregrin Took, der sich nach einem Hobbit aus Tolkiens Herr der Ringe nannte. Sie spielten verträumten, zart akustischen, psychedelisch angehauchten Hippie-Folk-Rock zu dem Marc Bolan, der Sänger und Gitarrist blumige Lyrics aus dem Herr-der-Ringe-Text-Buch sang. Nachdem sich Bolan und Took trennten, verkürzte Marc den Bandnamen auf T. Rex, wechselte zur elektrischen Gitarre und Rock’n’Roll-Beats, und er formierte die Band neu mit dem Perkussionisten Mickey Finn, dem Bassisten Steve Currie und dem Schlagzeuger Bill Legend. Mit dem  Produzenten Tony Visconti (David Bowie) begann Bolan an seinem neuen lauten Glamrock-Sound zu feilen.

Aus der Tyrannosaurus-Rex-Phase stammen auf Bolan Boogie mit She Was Born To Be My Unicorn, Dove, Fist Heart Mighty Dawn Heart und By The Light Of A Magical Moon vier Songs, deren versponnene weggedriftete Träumereien mich als Teenager faszinierten (obwohl ich nie Der Herr der Ringe gelesen habe) und an der Schwelle der Transformation vom Elfen-Feen-und-Hippies-Sound von Tyrannosaurus Rex zum krachigen, sexy-glamourösen, Stromgitarren-Boogie von T. Rex stehen.  

Der Albumtitel Bolan Boogie ist perfekt, denn es geht um Marc Bolans neuen Stromgitarren-Boogie-Rock. Der Wendepunkt für T. Rex und zugleich der Startschuss für die Glamrock-Welle war die sich in den Himmel hoch schwingende Single Ride A White Swan, die es auf den zweiten Platz der britischen Pop-Charts schaffte, eine der besten Aufnahmen von T. Rex überhaupt und hier gleich mit der Single-B-Seite Summertime Blues (eine Coverversion des Rock’n’Roll-Klassikers von Eddie Cochran) vertreten. Dazu kommen die weiteren Mega-Hits der ersten T. Rex-Jahre, der Weckruf von Get It On (mit der B-Seiten-Mini-Suite Raw Ramp), der superfetzige, dreckige Stromgitarren-Groover Jewel und das hymnische Hot Love (mit den B-Seiten The King Of The Mountain Cometh und Woodland Rock). Und das hinreißende Beltane Walk, eine Kostprobe vom ersten selbstbetitelten T. Rex-Album.

Viel später habe ich mir auch die britische Version von Bolan Boogie mit dem anderen Cover gekauft, weil diese Platte nichts von ihrer Strahlkraft verloren hat, ein faszinierendes Porträt des Pop-Künstlers Marc Bolan ist, dem ersten großen englischen Popstar seit den Beatles, und der aufwühlende Soundtrack teenagerhaften Aufbegehrens und Andersseinseinwollens in den frühen 1970er Jahren.

T. Rex: Bolan Boogie, Fly Records, Donauland-Club-Sonderauflage, 1972

© Bolan Boogie Pics shot by Klaus Winninger

Record Collection N° 334: Popincourt “We Were Bound To Meet” (Milano Records, LP, CD, 2023)

Three is a magic number, they say. So, it’s no wonder that  „We Were Bound To Meet“, Popincourt’s album number three, once again spreads Popincourt’s magical gold dust. It’s a wonderful record and I’m loving it.

What do wonderful songs like A New Dimension To Modern Love, The First Flower Of Spring, The Things That Last, Blue Winter, The Last Beams Of The Setting Sun, Spreading Golden Dust or This Must Be Heaven have in common? They all come from a small but all the more refined Parisian indie-pop manufactory, run by the French singer/songwriter and guitarist/multi-instrumentalist Olivier Popincourt, and perhaps located in Paris in a small side street in the 11th arrondissement of the same name.

Since 2014, the most British of all French indie-pop musicians has been devoting himself mainly to his music project, known as Popincourt for short, which is characterised by guitars and keyboards, British New Wave and Power Pop and Mod Beat, a dose of soul and jazz and also a little bit of classical music. The exquisite LPs A New Dimension To Modern Love and A Deep Sense Of Happiness are now followed by album number three We Were Bound To Meet (official release: September 15, 2023), which once again spreads Popincourt’s magical gold dust. A Deep Sense Of Happiness seemed to anticipate the dark pandemic years already in autumn 2020 with its heavy melancholy and dreary world-weariness. The mood was so bad that towards the end of the year Popincourt thought of not recording any more records at all.

On the other hand, three years later, We Were Bound To Meet feels lighter, brighter, airier. Even in the face of wars virtually on the doorstep, global crises, and love turmoil, which are negotiated in the songs. And this new lightness is good for Popincourt, and it may also have something to do with the fact that in six (out of ten) of the new songs, the songwriting burden is spread over several shoulders. To the famous Gabriela Giacoman, otherwise female singer with the French pop-moderniste band French Boutik and practically from the beginning of Popincourt an indispensable guest, and to the female singer and flutist Susanne Shields as well as the like-minded French singer/songwriter Olivier Rocabois.

We Were Bound To Meet, was recorded at l’Entresol Sound Studio in Courbevoie, which is located on the edge of the Paris metropolitan area, and two other studios, and directed by Olivier Bostvironnois. Olivier Popincourt is not only an ace on the acoustic and electric guitar, but he also plays bass and various organs (Wurlitzer, Vox continental, etc.). And he is also supported by excellent musicians such as Bostvironnois (piano and Fender Rhodes electric piano), drummer Guillaume Glain, Susanne Shields (lead and backing vocals, flute), Gabriela Giacoman (lead and backing vocals), Marilou Tee (backing vocals) and a classical string quartet.

Already  the first song Wire Crossed Lovers soars up to bright heights with a clear sparkling guitar run and a melody full of hope and one can also interpret its first lines Couldn’t wait to meet you/Two long springs and summers/Scared I’d lose my mind/Two lonely falls and summers as an expression of relief that the oppressive pandemic years are over, even if they tell about a love affair. The ravishing Our Winds, Our Strengths, Our Crimes delights in the chorus with a female voice that doubles Popincourt’s singing, and is a clear lament about a failed love, but one that doesn’t pull you down because it sums all up detachedly and serenely. The enchanting ballad The Road To Recovery, which moves close to British 1970s folk rock through Susanne Shields‘ vocals, follows on from the album opener with its upbeat lyricism, Feeling good on the road to recovery/I feel relieved, and floats towards freedom and a new beginning in life, carried by feelings of light-heartedness.

This high culminates in the wonderful title song with his life and love celebrating verve, We were bound to meet/A reason to believe/So clear and sweet/How could we be wrong?/I found the place where I belong – what an immediate Popincourt classic. The Little Rainfall, Intense Sunshine, which originated from the pen of Rocabois and Popincourt, shifts down the delight one or two gears, but it does it beautifully. Written and sung by Gabriela Giacoman, Love On The Barricades is the less pessimistic sister of the apocalyptic New Wave banger While The Ship Sinks on A Deep Sense Of Happiness and ends with a sense of elation, I kiss you on the barricades/We’re here right now so let’s enjoy tonight. The beautiful ballad My Secret Place moves with emotions that get under your skin and some charming lines sung in French – a novelty for Popincourt. Even in the brisk power pop Late To The Party,  lightness and confidence are palpable, I could see the future/It looks promising much brighter. And The Worst Of Lullabies is perhaps the darkest song on the album, but musically brilliantly staged with a classical string quartet. With the heart-rending ballad Song For Yeu, the  circle of sung love confusion closes, I wish I could stay for a few days/On the cliffs getting lost in our gaze/Times have changed but that light will always shine/And bring new sounds in my mind.

Can a record whose songs are primarily about bad and broken relationships send out the optimistic message All you need is love? We Were Bound to Meet does it.

Popincourt: We Were Bound To Meet, Milano Records, 2023

© Cover Pics snapped by the author.

Record Collection N° 120: Bruce Springsteen „Magic” (Columbia Records, 2007)

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Auf Magic ist der energiegeladene, bombastische Markenzeichen-Sound der E Street Band wieder voll intakt.

Zum Auftakt stellt Bruce Springsteen in Radio Nowhere die Frage: „Is there anybody alive out there?“. Am Ende geht es in Devil’s Arcade am Bett eines verwundeten Soldaten real um Leben und Tod. Zwischen diesen beiden Polen sondiert Bruce Springsteen auf Magic die aktuelle Befindlichkeit der wunden amerikanischen Seele in der Ära von Präsident George W. Bush. Doch auch ohne Heruminterpretieren und Aufladen der Songs mit übermächtigen Bedeutungen wird schnell klar: Bruce Springsteen hat mit der E Street Band nach The Rising, das 2002 den Schock der Terroranschläge des 9/11 thematisierte und deren Wirkung auf die kollektive amerikanische Psyche auslotete, erneut ein famoses Album gemacht, das sich vor seinen Meisterwerken Born To Run (1975), Darkness On The Edge Of Town (1978), The River (1980), Nebraska (1982) oder Born In The USA (1984) nicht genieren muss.

Es gibt auf Magic trotz aller dunklen Zwischentöne herrlich hymnische, den Himmel öffnende und die Seele massierende Songs, wie das nur Springsteen – und selbst er nur mit der E Street Band an seiner Seite – so grandios beherrscht. „I just want to hear some rhythm / I want a thousand guitars / I want pounding drums / I want a million different / Voices speaking in tongues …”, beschwört Springsteen in Radio Nowhere sein Glaubensbekenntnis – die lebensrettende Kraft des Rock’n’Roll. Und spielt selbst, was auf den trostlosen Hitradiowellen nur noch selten zu hören ist: Songs mit Charakter, Haltung, Leidenschaft und Seele.

Der Auftakt Radio Nowhere ist ein elektrisierender Garagenrocker, der dreißig, vierzig Jahre jüngeren Musikern alle Ehre machen würde. Gleichfalls der unwiderstehliche, soulige Rock-Kracher Livin’ In The Future, der an alte E-Street-Band-Klassiker wie Tenth Avenue Freeze-Out oder Glory Days erinnert. Die nostalgisch-sentimentale Wohlfühl-Ballade Girls In Their Summer Clothes beschwört mit ihrem Glockengebimmel und poppigen Arrangement hübsche Girl-Group-Schlager der 1960er Jahre herauf. Leidenschaftlich dramatische Stücke wie You’ll Be Comin’ Down, Your Own Worst Enemy oder I’ll Work For Love, mit denen Springsteen den mächtigen, druckvollen Sound der E Street Band mit Produzent Brendan O’Brien in die Gegenwart transformiert, rocken grandios. Der Übergang in die Jetztzeit  gelingt auf Magic mit noch mehr Elan als auf The Rising, wo Springsteen und die E Street nach ihrer Wiedervereinigung noch etwas schaumgebremst wirkten. Auf Magic ist der energiegeladene, bombastische Markenzeichen-Sound der E Street Band aber wieder voll intakt. In der tristen Ballade Gypsy Biker kehrt ein Veteran aus dem Krieg heim, wie in Springsteens Anti-Kriegs-Song Born In The USA, dieses Mal jedoch im Sarg. Das  bewegende Long Walk Home, das an die über zwanzig Jahre alte Springsteen-Ballade My Hometown von Born In The USA anschließt, spürt den (guten) amerikanischen Werten nach – aber gibt es diese überhaupt noch?

Sicher ist nur: Es gibt keinen schwachen Song auf Magic. Springsteen spielt auf seiner ramponierten, alten Fender Telecaster so inbrünstige Gitarrensoli wie schon lange nicht. Und er singt mit rauer Stimme – voll Leidenschaft und Sehnsucht, warmherzig und zärtlich. Magic fühlt sich großartig an. Der Boss arbeitet wieder für unsere Liebe. „I was driving through the misty rain / Searchin’ for a mystery train / Boppin’ through the wild blue / Tryin’ to make a connection with you …”, singt er in Radio Nowhere. Ist da draußen jemand? Ja, Bruce, wir hören dich.

Bruce Springsteen Magic, Columbia Records, 2007

(Erstveröffentlicht als Album des Monats in: now! N° 62, Oktober 2007, komplett überarbeitet im Juli 2023)

Record Collection N° 121 Bruce Springsteen „Working On A Dream” (Columbia Records, 2009)

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Working On A Dream ist eine hoffnungsvoll schwelgende, mitunter überschwänglich romantische, aber auch durch und durch persönliche Liedersammlung, in der sich Licht und Schatten, Freude und Leid, Erfüllung und Verlust abwechseln.

Seit US-Präsident Ronald Reagan seinen Hit Born In The USA in den 1980ern für den Wahlkampf missbrauchte, ist Bruce Springsteen nicht mehr so sehr fehlgedeutet worden wie bei seinem 16. Studioalbum Working On A Dream. Working On A Dream ist aber nicht die Vertonung von Barack Obamas „Yes We Can“-Manifest, obwohl Springsteen für Obama damals persönlich wahlgekämpft hat. Es geht auf dem Album auch nicht darum, den zerbrochenen amerikanischen Traum zu restaurieren. Working On A Dream ist zwar eine hoffnungsvoll schwelgende, aber auch durch und durch persönliche Liedersammlung, in der sich Licht und Schatten, Freude und Leid, Erfüllung und Verlust abwechseln.

Der Traum, an dem Bruce Springsteen in den 13 Songs des Albums arbeitet, ist der von einem geglückten, liebevollen Leben. Verglichen mit Springsteens Kommentaren zur tristen Lage der USA auf dem Vorgänger Magic vom Herbst 2007, ist Working On A Dream fast eine politikfreie Zone. Das ist kein Schaden. Der Boss überreicht uns stattdessen eine beseelte, romantische Pop-Platte. So wie Born In The USA anno 1984 die üppiger produzierte, optimistischere, mitreißendere Version  des düsteren, trostlos tristen Nebraska (1982) war, so ist Working On A Dream ein poppiger, aufwändig arrangierter, romantischer Nachfolger des härter rockenden, kaltblütigeren Magic (2007). Der amerikanischen Krise zum Trotz feiert der Boss hier Leben, Liebe und Freundschaft. Die Verbindungsstücke zwischen beiden Alben sind die schwelgenden Girls In Their Summer Clothes und I’ll Work For Your Love, die schon auf Magic andeuteten, was Springsteen mit Working On A Dream im Sinn haben könnte.

Eine Schlüsselrolle hat auch Brendan O’Brien, der als Produzent alle Alben Springsteens mit der E Street Band seit ihrer 1999er Comeback-Welttournee betreute und mit jedem Album bemüht ist, den typischen, bombastischen Sound der E Street Band auf Platte weiter zu optimieren. Bruce Springsteen schrieb für Working On A Dream lupenreine Popsongs. Working On A Dream vielleicht romantischste und sanfteste Platte mit der E Street Band überhaupt. Von der achtminütigen Schuld-und-Sühne-Ballade Outlaw Pete über den souligen New-Jersey-Rocker My Lucky Day, den Titelsong, der sich selig was pfeift, und die in Queen Of The Supermarket angehimmelte Wurstverkäuferin im Supermarkt bis zu den eingängigen, in überschwängliche Sixties-Pop-Arrangements gekleideten Songs wie This Life, Kingdom Of Days und Surprise, Surprise. Springsteen singt mit seiner schmachtenden Roy-Orbison-Stimme, die er schon auf Born To Run entdeckte.

Am Ende stehen The Last Carnival, ein Trauersong für den verstorbenen E Street Band Keyboarder Danny Federici, und The Wrestler, der Titelsong für den Ringerfilm mit Mickey Rourke, in dem sich ein kaputter, alter Kämpfer ein letztes Mal aufbäumt. Von einem solchen Tief war Springsteen damals so weit entfernt wie eh und je.

Bruce Springsteen Working On A Dream, Columbia Records, 2009

(Erstveröffentlicht in: now! N° 75, Februar 2009, komplett überarbeitet im Juli 2023)

Record Collection N° 123: Bruce Springsteen & The E Street Band „Hammersmith Odeon, London ‘75“ (Columbia, 2006)

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„Hammersmith Odeon, London ´75“ war das erste Konzert von Bruce Springsteen der neuformierten E Street Band außerhalb der USA, bei dem es um alles oder nichts ging, und es galt, ein skeptisches Publikum zu überzeugen, darunter die ganze wichtige britische Musikpresse, und die gerade zweifelnde Plattenfirma.

Wie sehr haben die Springsteen-Fans in den 1970ern auf diese sagenumwobenen Konzertaufnahmen gewartet, von denen man nur lesen oder erzählt bekam. Schließlich waren die Konzerte im Londoner Hammersmith Odeon, in dem Bruce Springsteen und die neu formierte E Street Band in London praktisch um Karriere und Leben spielten, die ersten Konzerte der Band außerhalb der USA. Es galt, ein skeptisches Publikum zu überzeugen, darunter die besonders wichtige britische Musikpresse, und die gerade zweifelnde Plattenfirma. Viele Jahre lang gab es diese historischen Momente nur als teure, aber billig tönende Raubkopie zu kaufen.

„Finally London is ready for Bruce Springsteen and the E Street Band”, trompeteten die Plakatwände. Springsteens Plattenfirma Columbia Records entfesselte einen Medienhype um das gerade brandneue Album Born To Run und stilisierte Bruce Springsteen zum neuen Messias des Rock’n’Roll, ja zu dessen Zukunft. Dabei wären Bruce und seine Band vielleicht wieder in den Clubs von New Jersey verschwunden, wenn Born To Run in den Plattenläden genauso gefloppt wäre wie seine ersten beiden, auch schon ziemlich guten Platten. Um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein, ließ Springsteens Plattenfirma das Londoner Konzert sogar mitfilmen. Dass die Aufnahmen dann aber so lange versteckt wurden, muss man nicht verstehen.

Der Konzertfilm Hammersmith Odeon, London ’75 wurde schon im Oktober 2005 auf DVD als Teil der 30-Jahre-Jubiläums-Box von Born To Run veröffentlicht. Ein halbes Jahr später folgte auch der Konzertmitschnitt im brillanten Mix von Bob Clearmountain als klassisches Live-Doppelalbum. Es ist ein fabelhaftes, spannungsgeladenes Live-Album, auf dem sich Bruce Springsteen und die E Street Band durch oft zehn, fünfzehn Minuten lange, packende, leidenschaftlich brennende Versionen von Songs seiner ersten drei Alben spielen. Von Greetings From Asbury Park, N.J. kommenSpirit In The Night, For You, It’s Hard To Be A Saint In The City und Lost In The Flood. Von The Wild, The Innocent & The E Street Shuffle stammen die Kracher Kitty’s Back, Rosalita und eben The E Street Shuffle sowie die sentimentale  Romanze 4th Of July, Asbury Park (Sandy). Und von Born To Run gibt es Thunder Road in einer abgespeckten Piano-Version, die fulminanten Eruptionen von Tenth Avenue Freeze-Out und She’s The One, und über alle Maßen intensive Darbietungen von Backstreets und Jungleland sowie das unverzichtbare epische Born To Run.

Als Draufgaben gibt es das Tote erweckende Detroit Medley mit den alten 1960er Rock’n’Soul-Hits von Mitch Ryder & The Detroit Wheels. Und als Rausschmeißer, ebenfalls aus den 1960ern, Quarter To Three, einen rauschenden Rhythm & Blues-Kracher des amerikanischen Soulsängers Gary U.S. Bonds – dem Mann verhalfen Bruce Springsteen und Steve van Zandt, seine rechte Hand in der E Street Band, in den 1980ern zu einem veritablen Comeback. Packender, magischer als Bruce Springsteen und die E Street Band konnte anno 1975 niemand den Geist des Rock’n’Roll beschwören.

Bruce Springsteen & The E Street Band Hammersmith Odeon, London ‘75, Columbia, 2006

(Erstveröffentlicht in: now! N° 45, Februar 2006, komplett überarbeitet im Juli 2023)

Record Collection N° 124: Bruce Springsteen „The Promise” (Columbia Records, 2010)

Diese mehr als 30 Jahre lang offiziell unveröffentlichten Songs sind eine Art Heiliger Gral in Bruce Springsteens Schaffen.

Es gibt sie also wirklich all diese Songs, die Bruce Springsteen 1977 alle für sein viertes Studioalbum Darkness On The Edge Of Town mit der E Street Band eingespielt hat. Und es dürften in den Archiven davon noch mehr zu finden sein. Nachdem Springsteen 1975 mit dem epochalen Longplayer Born To Run künstlerisch und kommerziell der große Durchbruch gelang, schlitterte der 26-jährige Musiker überraschend in eine Krise. Ein Rechtsstreit mit seinem Manager Mike Appel hinderte ihn über ein Jahr lang, neue Songs aufzunehmen. Als Springsteen die Kontrolle über sein Werk zurück gewann, hatte sich in seinen eng beschriebenen Notizbüchern eine Vielzahl von neuen Songs angesammelt, die er nun, wie im Rausch mit der E Street Band im Studio aufnahm.

Bruce Springsteen selbst notiert im begleitenden Essay zu The Promise, dass damals Material für vier Alben aufgenommen wurde, ehe er die zehn Songs für das im Juni 1978 veröffentlichte Darkness On The Edge Of Town auswählte. Einige der nicht verwendeten Lieder landeten auf späteren Alben (Sherry Darling etwa auf The River), andere wie Fire oder Because The Night wurden Hits für andere Künstler (Pointer Sisters, Patti Smith).

Das 2010 veröffentlichte Doppelalbum The Promise, das es allein stehend und als Kernstück der aufwändigen, amtlichen Werkausgabe The Promise: The Darkness On The Edge Of Town Story mit 3CDs und 3 DVDs gab, ist mit seinen 21 bislang unveröffentlichten Songs eine Art Heiliger Gral in Bruce Springsteens Schaffen.

Das 2010 veröffentlichte Doppelalbum The Promise, das es allein stehend und als Kernstück der aufwändigen, amtlichen Werkausgabe The Promise: The Darkness On The Edge Of Town Story mit 3CDs und 3 DVDs gibt, ist mit 21 bislang unveröffentlichten Songs eine Art Heiliger Gral in Bruce Springsteens Schaffen. Es handelt sich um keine Ausschussware handelt, sondern um erstklassigen Stoff. Für The Promise wurden nicht einfach Outtakes aneinandergereiht, es handelt sich tatsächlich um ein eigenes, für sich stehendes Album, das der Boss damals zwischen Born To Run und Darkness On The Edge Of Town hätte veröffentlichen können.

Aus der Distanz und mit der Kenntnis von Springsteens weiterer künstlerischer Entwicklung, hatte er damals Recht, auf das bei aller Schwermut doch oft romantisch schwelgende Born To Run das düstere Darkness On The Edge Of Town folgen zu lassen. Mit all den in grobkörnigem Schwarzweiß gehaltenen Songs vom fordernden harten Alltagsleben normaler Leute, ihren unerfüllten Hoffnungen und geplatzten Träumen. Der schier romantische, überschwänglich poppige Rhythm & Blues und Rock & Soul und die vielen Liebesromanzen von The Promise hätten seine künstlerische Karriere wahrscheinlich nie so vorantreiben können, wie der von ihm gewählte radikale Bruch. Dennoch hätten zu jener Zeit gerade Fire oder Because The Night, vielleicht auch das von Springsteen für The Promise jetzt neu eingesungene Save My Love, seine ersten großen Hits in den Charts hätten werden können.

Als die hoffnungsfrohe, helle Seite des tristen, düsteren Darkness On The Edge Of Town ist The Promise ein umwerfender Hörgenuss. Eine vor tollen Popsongs nur so überquellende Jukebox, in der wie schon zuvor auf Born To Run lustvoll Springsteens prägende Einflüsse rotieren: Elvis Presley in Fire, Roy Orbison in Someday (We’ll Be Together), The Brokenhearted oder Breakaway. Buddy Holly in Outside Looking In, Manfred Mann in Rendezvous, Otis Redding und die Rolling Stones in It’s A Shame und Talk To Me, Phil Spector in Gotta Get That Feeling. Erst gegen Ende fährt auch The Promise auf dem endlosen Highway Richtung Schattenseite und gipfelt im grandiosen, hochdramatischen Titelsong. Über dreißig Jahre später konnte man diese Hochkaräter endlich in bester Soundqualität hören. Bruce Springsteen als emsigen Kurator seines eigenen Werkkatalogs sei Dank.

Bruce Springsteen „The Promise”, Columbia Records, 2010

(Erstveröffentlicht als Album des Monats in: now! N° 93, Jänner/Februar 2011, komplett überarbeitet im Juli 2023)