Record Collection N° 124: Bruce Springsteen „The Promise” (Columbia Records, 2010)

Diese mehr als 30 Jahre lang offiziell unveröffentlichten Songs sind eine Art Heiliger Gral in Bruce Springsteens Schaffen.

Es gibt sie also wirklich all diese Songs, die Bruce Springsteen 1977 alle für sein viertes Studioalbum Darkness On The Edge Of Town mit der E Street Band eingespielt hat. Und es dürften in den Archiven davon noch mehr zu finden sein. Nachdem Springsteen 1975 mit dem epochalen Longplayer Born To Run künstlerisch und kommerziell der große Durchbruch gelang, schlitterte der 26-jährige Musiker überraschend in eine Krise. Ein Rechtsstreit mit seinem Manager Mike Appel hinderte ihn über ein Jahr lang, neue Songs aufzunehmen. Als Springsteen die Kontrolle über sein Werk zurück gewann, hatte sich in seinen eng beschriebenen Notizbüchern eine Vielzahl von neuen Songs angesammelt, die er nun, wie im Rausch mit der E Street Band im Studio aufnahm.

Bruce Springsteen selbst notiert im begleitenden Essay zu The Promise, dass damals Material für vier Alben aufgenommen wurde, ehe er die zehn Songs für das im Juni 1978 veröffentlichte Darkness On The Edge Of Town auswählte. Einige der nicht verwendeten Lieder landeten auf späteren Alben (Sherry Darling etwa auf The River), andere wie Fire oder Because The Night wurden Hits für andere Künstler (Pointer Sisters, Patti Smith).

Das 2010 veröffentlichte Doppelalbum The Promise, das es allein stehend und als Kernstück der aufwändigen, amtlichen Werkausgabe The Promise: The Darkness On The Edge Of Town Story mit 3CDs und 3 DVDs gab, ist mit seinen 21 bislang unveröffentlichten Songs eine Art Heiliger Gral in Bruce Springsteens Schaffen.

Das 2010 veröffentlichte Doppelalbum The Promise, das es allein stehend und als Kernstück der aufwändigen, amtlichen Werkausgabe The Promise: The Darkness On The Edge Of Town Story mit 3CDs und 3 DVDs gibt, ist mit 21 bislang unveröffentlichten Songs eine Art Heiliger Gral in Bruce Springsteens Schaffen. Es handelt sich um keine Ausschussware handelt, sondern um erstklassigen Stoff. Für The Promise wurden nicht einfach Outtakes aneinandergereiht, es handelt sich tatsächlich um ein eigenes, für sich stehendes Album, das der Boss damals zwischen Born To Run und Darkness On The Edge Of Town hätte veröffentlichen können.

Aus der Distanz und mit der Kenntnis von Springsteens weiterer künstlerischer Entwicklung, hatte er damals Recht, auf das bei aller Schwermut doch oft romantisch schwelgende Born To Run das düstere Darkness On The Edge Of Town folgen zu lassen. Mit all den in grobkörnigem Schwarzweiß gehaltenen Songs vom fordernden harten Alltagsleben normaler Leute, ihren unerfüllten Hoffnungen und geplatzten Träumen. Der schier romantische, überschwänglich poppige Rhythm & Blues und Rock & Soul und die vielen Liebesromanzen von The Promise hätten seine künstlerische Karriere wahrscheinlich nie so vorantreiben können, wie der von ihm gewählte radikale Bruch. Dennoch hätten zu jener Zeit gerade Fire oder Because The Night, vielleicht auch das von Springsteen für The Promise jetzt neu eingesungene Save My Love, seine ersten großen Hits in den Charts hätten werden können.

Als die hoffnungsfrohe, helle Seite des tristen, düsteren Darkness On The Edge Of Town ist The Promise ein umwerfender Hörgenuss. Eine vor tollen Popsongs nur so überquellende Jukebox, in der wie schon zuvor auf Born To Run lustvoll Springsteens prägende Einflüsse rotieren: Elvis Presley in Fire, Roy Orbison in Someday (We’ll Be Together), The Brokenhearted oder Breakaway. Buddy Holly in Outside Looking In, Manfred Mann in Rendezvous, Otis Redding und die Rolling Stones in It’s A Shame und Talk To Me, Phil Spector in Gotta Get That Feeling. Erst gegen Ende fährt auch The Promise auf dem endlosen Highway Richtung Schattenseite und gipfelt im grandiosen, hochdramatischen Titelsong. Über dreißig Jahre später konnte man diese Hochkaräter endlich in bester Soundqualität hören. Bruce Springsteen als emsigen Kurator seines eigenen Werkkatalogs sei Dank.

Bruce Springsteen „The Promise”, Columbia Records, 2010

(Erstveröffentlicht als Album des Monats in: now! N° 93, Jänner/Februar 2011, komplett überarbeitet im Juli 2023)

Record Collection N° 137: Dexys Midnight Runners „Searching For The Young Soul Rebels” (EMI, 1980)

Auf „Searching For The Young Soul Rebels“ schmiedeten die Dexys Midnight Runners die Wut des Punk, den Schneid der New Wave und die Leidenschaft des Soul zu ihrem eigenen  fulminanten Sound zusammen, angetrieben vom Feuer des Kevin Rowland.  

Searching For The Young Soul Rebels, das im Juli 1980 veröffentlichte Debütalbum der Dexys Midnight Runners, beginnt mit dem Krawall der Rebellion. Man hört das Rauschen von Radiofrequenzen. Songfetzen von Deep Purple, den Sex Pistols, den Specials dringen durch. Sodann schwört Dexys-Sänger und Anführer Kevin Rowland seine Gang ein: „For God’s sake, burn it down!“

Was war, ist vorbei! Jetzt gradaus nach vorn! Die acht Musiker – also Kevin Rowland (Gesang), Al Archer (Gitarre, Gesang), Big Jim Patterson (Posaune), Pete Williams (Bass), Jeff Blythe (Saxophon), Steve Spooner (Altsaxophon), Pete Saunders (Orgel, Klavier), Stoker (Schlagzeug) – tragen Hafenarbeiterklamotten und Wollmützen, wie Robert De Niro in Martin Scorseses Kultfilm Mean Streets. Sie haben der Legende nach von Rowland striktes Alkohol- und Drogenverbot sowie tägliches Lauftraining verordnet bekommen. Dementsprechend geladen legen sie los: Burn It Down isteine kraftstrotzende, arrogante Attacke. Platz da! Jetzt kommen wir: „Shut your fucking mouth till you know the truth!”

Nicht viele Platten beginnen so eindrucksvoll. Was folgt, ist eines der glühendsten, energiegeladensten, souligsten Alben (nicht nur) der 1980er Jahre. Die frühen Dexys Midnight Runners waren angetrieben von der Northern-Soul-Begeisterung des englischen Nordens, und schmiedeten ihren fulminanten Sound aus der Wut des Punk und dem Feuer des Stax-Soul. Aus Johnny Rotten, Booker T. & The MGs, The Memphis Horns, The Bar-Kays, Sam & Dave, Otis Redding und wie sie alle heißen. Im Zentrum des extrem diszipliniert und druckvoll gespielten Aufbrausens: Messerscharfe Bläsersätze, stampfende Rhythm & Blues-Beats, adrenalinpumpende Bässe, saftige Orgelakkorde und Kevin Rowlands unverwechselbare Stimme mit ihrer mitreißenden Leidenschaft. Der Mann hatte Soul, und im Gitarristen und Komponisten Al (eigentlich Kevin, aber angeblich auf Order von Rowland den Vornamen geändert) Archer einen Seelenzwilling, der ihn bald im Streit verlassen sollte.

Searching For The Young Soul Rebels ist ein wütender Angriff auf die Gesellschaft und die Popmusik seiner Zeit. Mit elf, den Puls beschleunigenden, herzergreifenden Songs mit  tiefpersönlichen Texten, die zugleich politische Manifeste sein wollen. Ein kompromissloses Ringen um wahrhaften Ausdruck und größtmögliche Intensität: von den Bläserfanfaren des fetzigen Nummer-1-Hits Geno (eine Hymne für den amerikanischen Soulsänger Geno Washington, der seine Fans vor allem in Großbritannien hatte) bis zu den brennenden Balladen wie I’m Just Looking oder I Couldn’t Help If I Tried. Von rasanten Northern Soul-Groovern wie Tell Me When My Light Turns Green oder Seven Days Too Long bis zum Seelendrama von Keep It und There There My Dear, einem lyrischen Säureattentat auf die damalige Pop-Schickeria.

„Welcome the new soul vision”, fiebert Kevin Rowland am Ende. Die Band scheiterte zwar bald an ihren eigenen Widersprüchen, aber Rowland verfolgte seine Mission mit anderen Musikern weiter. Wie Otis Redding singt: Respekt!

Dexys Midnight Runners Searching For The Young Soul Rebels, EMI, 1980

Santa Klaus Is Coming To Town!

Happy Xmas – Songs For The Festive Season: When the first candle on the Advent Wreath finally is lit up, I’m drifting quite instantly into a Christmassy mood, and I’m starting to play some Christmas tunes.

Same procedure every year: When the first candle on the Advent wreath finally is lit up, I’m drifting quite instantly into a Christmassy mood, and I’m starting to play some Christmas tunes. But every year I’m also thinking, well maybe not this year, I can do without syrupy and schmaltzy Christmas songs, the jingling, ringing bells, sleigh rides, reindeers and kitschy, sugar sweet Christmas melancholy. But then, as soon I hear the first Christmassy tunes, there’s no more escape. And despite 2022 was in general politically, economically, and socially an annus horribilis, it was personally a good one for my family and me. So, for the festive season there’s reason enough to celebrate. And my Christmas records started coming from the racks to the turntable and CD Player, and I started an major update of my Christmas Playlist on my Laptop, a playlist filled only with music I own on LP, CD or as download.

From Christmas With Love: My Happy Xmas – Songs For The Festive Season is now filled with 185 handpicked Christmas tunes: Classics galore, from Santa Claus Is Coming To Town to Have Yourself A Merry Little Christmas, Winter Wonderland and White Christmas to Silent Night, Christmas Time Is Here, Little Drummer Boy and Jingle Bells. Lots of Christmas songs by She & Him, cause Zooey Deschanel and M. Ward are great experts in all things Christmas. Lots of Tracey Thorn (Everything But The Girl), Norah Jones, Nick Lowe, Phil Spector, Dean Martin, and Frank Sinatra, even Bob Dylan and Bruce Springsteen: Lots of rhythm & blues, soul, jazz, indie- and alternative-pop, and much more. For instance, at least five versions of Last Christmas – why that? Because it’s such a great song. There even a brand-new one, The Bird And The Bee’s superb Christmas Without The Queen. There’s many classics here but also a lot of lesser known stuff, lots of lighter songs, but also many deeper cuts. This playlist is now bookended by Hallelujah, it starts with Leonard Cohen’s original, and it ends with the Jeff Buckley’s version.

May I advise you, to listen to these songs now throughout December, cause after New Year’s Day you can pull the plug, game over, bonjour tristesse. Is there anything more dreary than Christmas songs in January? Maybe shrivelled Christmas trees lying by the streetside waiting for the refuse collection. You got the picture? There you go … Christmas bliss for ten hours and seven minutes.

Willi Resetarits: „Es war alles wunderbar“

Talkshow/Interviews 15: Willi Resetarits alias Kurt Ostbahn im Gespräch mit Fredi Themel und Klaus Winninger.

Paradoxerweise habe ich Kurt Ostbahn zum ersten Mal zum Interview getroffen, als er mit Ende 2003 in Pension gehen und Willi Resetarits den Vortritt lassen wollte. Er veröffentlichte damals mit Wann de Musik und Vuabei Is gleich zwei Alben mit neuen Songs, für die Kurt und die Kombo die letzten vom leider viel zu früh verstorbenen Ostbahn-Kurti-Erfinder Günter „Trainer“ Brödl genial gedichteten Songtexte vertont haben.

Das Gespräch im sonnigen Burgenland, das mein now!-Redaktionskollege Fredi Themel und ich führten, bestätigte in jedem Satz, was eh keiner Bestätigung mehr bedurft hätte – was für ein  herzensguter, milder, liebenswürdiger, lebensweiser, wahrhaftiger, gescheiter, humorvoller, politisch wacher und sozial engagierter Mann dieser Willi Resetarits ist, und was für ein grandioser, leidenschaftlicher beseelter Sänger noch dazu. Reif für höchste heimische Würden und Ehrungen, weil quasi „Österreichisches Weltkulturerbe“.

Fredi Themel/Klaus Winninger:  Die beiden neuen Alben sind musikalisch, thematisch und stimmungsmäßig sehr unterschiedlich. Es wirkt so, als wäre das zweite ein typisches Kurt Ostbahn-Album, das erste aber mehr eine Willi Resetarits-Platte. Ist sie nicht schon mehr ein erster Trennungsschritt?

Willi Resetarits: Der Kurtl und der Willi sind ja bis vor kurzem mehrheitlich deckungsgleich gewesen. Erst jetzt in der Folge werden sie auseinandergehen, müssen sie wieder auseinandergehen, damit man den Willi als eigenen Menschen sieht, und damit der Willi den Kurtl dann in die Pensi schicken kann. Siamesische Zwillinge können nicht separat auf Urlaub fahren, wenn sie nicht getrennt sind, daher müssen wir jetzt diese Trennungsarbeit ein bisschen genauer machen. Es hat mit zwei Personen begonnen, einem gewissen Schmetterlinge-Sänger und einem gewissen Kurtl, und die sind dann zu einer Einheit geworden, und damit das Ganze jetzt aufhören kann, gehen sie schön langsam wieder auseinander.

FT/KW: Was werden Kurt und Willi auf Ihren getrennten Wegen machen?

Willi Resetarits: Der Kurtl macht, was er will. Ich vermute, dass er ein Schrebergartenhäusl im Kleingartenverein Simmeringer Haide hat, was er aber nicht sagt, erstens einmal, damit da keine Touristen kommen, die ihm dann – wie man sagt bei den kleinen Schrebergärten – „ins Arschloch eineschaun“, und zweitens, weil es niemanden etwas angeht. Während der Willi auch was macht, was er nicht verraten will, nämlich ein halbes Jahr nichts, und dann andere musikalische oder sonst irgendwelche Bühnenprojekte.

FT/KW: Waren diese beiden finalen Platten von vornherein schon als Abschiedsplatten geplant?

Willi Resetarits: Nein, ein Abschiedsalbum war nicht geplant. Diese Texte vom  Brödl sind ja auf an kaputten Laptop gefunden worden ist, der im 95er Jahr hinworden is. Es ist ein Mysterium. Ich sag immer: Ein Narr, der das Schicksal für Zufall hält.

FT/KW: Waren die Kunstfigur Kurt Ostbahn und der Willi Resetarits wirklich die ganze Zeit über total deckungsgleich?

Willi Resetarits: Ja, sowieso, weil es nicht notwendig war zu überlegen, was tät jetzt der Kurtl sagen, der würd sagen, geht’s scheißen, und der Willi würd sagen, ah, ich hab euch so lieb, setzt’s euch her… das war deckungsgleich. Dass man natürlich zuordnen kann, Ostbahn-Auftritt mit nachfolgendem Zwei-Tages-Ziager eher dem Kurtl, politisches Engagement und den Termin beim Innenminister in Sachen Flüchtlingsintegration dem Willi Resetarits, das ergibt sich eh, ist eh logisch, aber nicht amal des ist konsequent durchzuhalten, weil wenn’s mehr bringt, dass der Kurtl sagt: wisst‘s eh, Leutln, seid’s nit deppert und tat’s ma do auf die Ausländer schimpfen.

FT/KW: Stimmt Dich diese Trennung, dieser Abschied vom Kurt Ostbahn auch ein bisschen wehmütig?

Willi Resetarits: Die Wehmut hält sich in Grenzen, weil jetzt so viel zu tun ist. Die beiden neuen CDs, die kommenden Konzerte, wo ich für drei Bands Sachen arrangieren muss, die geplanten Live-Platten, Videos und DVDs. Es ist einfach keine Zeit dafür, das heißt aber nicht, dass sie nicht da ist, die Wehmut. Das alles hat ja vielleicht auch damit zu tun, dass man sie nicht zulassen will, die Wehmut, weil man sich mit Arbeit zuschüttet.

FT/KW: Hatte die Kunstfigur des Kurt Ostbahn über all die Jahre nicht auch den Vorteil, dass Du die Privatperson Willi Resetarits aus der Öffentlichkeit heraushalten konntest? War er eine Art Schutzschild für Dich?

Willi Resetarits: Das war super vom Kurtl. Der Kurtl hat das abgepuffert. Schutzschild ist da gar nicht übertrieben, der Kurtl hat das Willi Resetarits-Privatleben sehr gut abgeschirmt. Forderungen nach der Homestory konnten so immer sehr überzeugend abgelehnt werden.

FT/KW: Wie war es, bei den Aufnahmen der beiden neuen Platten ohne den Texter und kongeniale zweite Ostbahn-Hälfte Günter Brödl auskommen zu müssen, der ja auch „Trainer“ von Euch genannt wurde?

Willi Resetarits: Der Brödl hat schon immer uns das Musikmachen überlassen, aber er hat wahnsinnig genau zugehört und schon etwas dazu gesagt, wenn wir ihn gefragt haben, er hat das beobachtet. Und so haben wir diesmal gesagt, das macht er jetzt eh auch, manchmal, wenn der Luftzug eine Tür zughaut hat, haben wir es dem Günter zugeschrieben – dass er einmal rausgeht. Dann haben wir nachgedacht, ob wir irgendwas schlecht gespielt haben. Das war eine ein bisschen sentimentale, halb ironisch, halb ernstgemeinte Geschichte, dass er eh dabei ist und eine Riesenfreude hat.

FT/KW: Was waren aus Deiner Sicht seine Stärken, warum haben seine Texte den Nerv von so vielen getroffen?

Willi Resetarits: Seine Stärken waren, dass er Geschichten erzählt hat, die uns so vorkommen, als wären sie über uns, mir so vorkommen, als wären‘s über mich und gleichzeitig viele anderen, als ob sie gerade über sie geschrieben worden wären. Er trifft den Ton, das war seine Stärke. Das war das Besondere, was er halt gehabt hat: Aber was ich auch hab und was die ganze Band hat, das ist halt die Freude. So wie der ganze Ostbahn-Ansatz – das haben wir nicht gemacht, damit wir einen Beruf haben oder ein Geld verdienen, sondern wir haben eine Band gemacht, weil es leiwand war.

FT/KW: Eine Kunstfigur wie Kurt Ostbahn kann ja auch eine Art Gefängnis sein: Man ist beschränkt in dem, was man musikalisch machen kann, weil es ganz genaue Erwartungen gibt. Hat Dich die Verantwortung gegenüber den Fans, die Du ja sicher spürst, diesmal in irgendeiner Form gebremst?

Willi Resetarits: Nein. Früher vielleicht ein bisschen. Aber jetzt waren wir durch unsere konsequente Entwicklung so weit, dass wir da waren, wo wir vielleicht schon früher hätten sein können, nämlich dass man sagt: Das was passiert, ist das Richtige.

FT/KW: Wo hättet Ihr schon früher sein können?

Willi Resetarits: Nein, ich nehm das zurück, eigentlich waren wir immer da, wo wir hingehört haben. Aber es hat was Angenehmes, immer noch irgendwo hinkommen zu können. Manche Leute sagen, was wir machen, ist eh schon bekannt, das sind nur Variationen. Ich habe für mich persönlich eine Entwicklung gesehen.

FT/KW: Wie entstehen überhaupt die Songs bei Euch? Wie vermittelst Du Deiner Band, was Du Dir bei einem Lied so vorstellst?

Willi Resetarits: Ich erzähle irgendeine Geschichte dazu, so wie eine Regieanweisung. Bei vielen Liedern ist die Regieanweisung: Es ist vier in der Früh, alle sind besoffen, und der Klavierspieler rafft sich noch einmal auf und spielt ein Lied. Aber es gibt andere Geschichten auch. Quasi anstatt ein Arrangement vorzulegen, sage ich, was für eine Besetzung da spielt, was los ist und wie’s dem Typen geht, der singt und was sich der denkt, und wenn ich gut aufgelegt bin, fallen mir halt irgendwelche Sachen ein.

FT/KW: Und irgendwie ist es Euch immer gelungen, so etwas wie urwüchsigen, österreichischen Rock’n’Roll zusammenzubringen.

Willi Resetarits: Es ist schon amerikanische Musik, die wir spielen, da brauchen wir nicht diskutieren, aber die Texte sind bei uns daheim, und da gibt’s überhaupt keine Amerikanismen. Der Zugang war ja immer der, dass die Musik für mich seit Anfang der 1950er Jahre aus dem Radio gekommen ist, und das ist bei mir daheim gestanden, nicht in Amerika. Wenn man die eigene Biografie hernimmt, ist diese Musik dann eine Art Volksmusik, weil sie, wenn man die Hausübung geschrieben hat nach der Volksschule, aus dem Radio gekommen ist, und die Mutti hat gekocht.

FT/KW: Wie ist man damals in den 1960ern eigentlich wirklich zu Sachen wie Wilson Pickett, Otis Redding oder Solomon Burke gekommen, das hat man doch nicht im Radio hören können?

Willi Resetarits: Nein, in der Zeit war meine Soul-Affinität nur zu befriedigen durch einen „Club 45“, der hieß so, weil er in irgendeiner Bahnzeile Nummer 45 im Keller war, wo irgendwelche Aficionados Verbindungen nach London gehabt und die Platten dahergebracht haben. Da bin ich sofort reingegangen, wenn sie aufgesperrt haben, weil sie als erstes Lied immer gespielt haben: Land Of 1000 Dances in einer Live-Aufnahme von Geno Washington & His Ram Jam Band. Die Platte hast du sonst nirgendwo gehört, man hat also persönlich dort anwesend sein müssen. Dort waren alle, die auf Soulmusik gestanden sind. Man war mit Zeitverzögerung mit dabei, allerdings komplizierter als heutzutage, wo man sich alles irgendwo kaufen kann.

FT/KW: Wenn Du einen Blick zurück wirfst: Was war gut am Ostbahn-Projekt, gibt es auch etwas zu bereuen?

Willi Resetarits: Ich hab‘ ein Problem, dass ich mir die Sachen, die wirklich danebengegangen sind, nicht gut merke bzw. verdränge bzw. schönfärbe. Was es auch sei, ich kann beim besten Willen nicht Auskunft geben über die größte Pleite, vielleicht weil ich kein Magengeschwür haben will oder so. Es war alles wunderbar, wir haben uns pubertäre Träume erfüllt und haben dann die ewige Pubertät ausgerufen. Erwachsene Männer, die in der Pubertät stecken geblieben sind. Und wir haben wunderbare Konzertreisen gemacht, saudeppert, so wie man es sich halt vorstellt, wie man deppert sein muss. Wenn wir rausgefahren sind aus der Stadt – eine wahnsinnige Freud‘ – und das ist bis heute so! Bei der ersten Raststation sind wir sofort reingefahren, ein Sechserblech und Juhu!

FT/KW: Gibt es etwas, auf das Du ganz besonders stolz bist?

Willi Resetarits: Ich glaube, dass wir gut spielen, das freut mich besonders. Da gibt es schon eine gewisse Eitelkeit, die sich darin ausdrückt, dass wir glauben, dass wir die beste Band sind, die es gibt. In Österreich sowieso. Weil wir halt gut sind und Herzensbildung übermäßig da ist und weil wir uns nichts scheißen und ein ganz einfaches sentimentales Lied genauso spielen, wie es sich gehört. Wenn wir einen Kommerzhadern hinknallen wollen, dann knallen wir einen Kommerzhadern hin – und den auch ohne schlechtes Gewissen. Aber das traut man sich nur dann, wenn man die kompliziertesten Sachen aus dem Handgelenk spielt, dass die jungen Kollegen blass werden und die Gitarren und Keyboards zerhacken.

FT/KW: Hat der Willi Resetarits eventuell selbst vor, die Lücke, die der Kurt Ostbahn hinterlässt, auszufüllen?

Willi Resetarits: Keine Ahnung, das will ich echt so machen, dass ich zuerst einmal ein halbes Jahr nix mache und dann das mach’, was ich will, was ich jetzt aber noch nicht weiß, und wenn ich’s dann auch noch immer nicht weiß, jo, dann weiß ich’s nicht.

FT/KW: Hast Du einen Rat für junge, nachfolgende Bands?

Willi Resetarits: Genau dann, wenn du alles hinschmeißen willst, noch einmal sechs Monate dranhängen!

FT/KW: Warum es im Studio keine Ostbahn-Platten mehr geben wird, ist klar. Was spricht dagegen, die alten Sachen live weiterzuspielen?

Willi Resetarits: Weil wir’s dann schon genug geübt haben. Nein, ich weiß nicht, es spricht eh nichts dagegen, außer dass ich mir gedacht habe, es ist uncool.

FT/KW: Könnte das, was Du in Zukunft machen wirst, in  Richtung des ruhigeren Wann de Musik-Albums gehen?

Willi Resetarits: Das kann schon sein. Das ruhigere Album ist sicher das, so wie wir heute musizieren.

FT/KW: Warum haben die Österreicher den Kurt Ostbahn eigentlich so sehr ins Herz geschlossen?

Willi Resetarits: Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass das woanders auch gegangen wäre, ich denke, dass die Texte vom Brödl internationale Qualität haben. Mit dem Unterschied, dass sie halt in einem Regionaldialekt gehalten sind. Und ich glaub‘, dass der Ostbahn-Darsteller ein Charisma hat, das ihm auch international keine Probleme gemacht hätte, wenn er nicht einen Regionaldialekt singen würde, den man woanders nicht versteht. Dann noch eine gute Band dazu, das ist eine victory-mixture. Ich glaube, dass wir ganz einfach gut sind. Ich habe sowas immer sehr ungern gesagt, weil man natürlich hofft, dass es die andern sagen, damit man‘s nicht selber sagen muss, aber ich glaub‘, dass wir sehr gut sind in dem, was wir machen.

FT/KW: Kurt Ostbahn hat Dir ermöglicht, Dein Privatleben geheim zu halten. Wir möchten trotzdem gern wissen, wie Deine weitere Lebensplanung aussieht. Wo stehst Du jetzt und wo willst Du noch hin?

Willi Resetarits: Ich will ein angenehmes Leben haben. Ich glaub, ich werde eine wahnsinnige Entlastungsdepression kriegen, weil ich das nicht gewöhnt bin. Und dann halt wieder Musik machen mit Kollegen. Ich liebe ja die guten Musiker noch mehr als die mittelmäßigen, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich auf das verzichten kann und dass ich nicht noch irgendwelche Herausforderungen annehme – wenn’s geht, ein bisschen schwierigere, die sind aber dann meist nicht sehr finanzträchtig.

FT/KW: Was wäre aus Dir geworden ohne die ganze Musik?

Willi Resetarits: Dann wäre ich Lehrer geworden und unglücklich. Ohne Kurt Ostbahn hätte ich eine andere Musik gemacht, weil die Ostbahnmusik geht nur mit dem Günter Brödl, das ist eine chemische Reaktion, die nur mit ihm möglich ist – weil ich teilweise über meinen Geschmack hinausgegangen bin, weil ich auch den Geschmack der anderen Ostbahnhälfte mit abzudecken hatte, was ja eh auch spannend ist.

FT/KW: Warum wolltest Du Lehrer werden?

Willi Resetarits: Weil mir nichts anderes eingefallen ist. Weil ich nach der Matura die Überlegung gehabt habe, wahrscheinlich kann ich von der Musik, die ich gern machen will, nicht leben, daher schau‘ ich mich lieber gleich um einen Brotberuf um, damit ich nicht korrumpierbar bin durch den Zwang des Geldverdienens mit meiner Musik. Das war der Grund, warum ich ein paar Jahre studiert habe. Wenn es die Musik nicht gegeben hätte, wäre ich halt Lehrer geworden, aus Ratlosigkeit.

FT/KW: Wir danken für das Gespräch.

(Erstveröffentlicht in einer gekürzten Version in: now! N° 18, 2003)

Bilder © Universal Music/Lukas Beck

Record Collection N° 014: The James Hunter Six “Minute By Minute” (Daptone Records, 2013)

James Hunter zapft fabulös seinen inneren Sam Cooke und Otis Redding an. In den 1960ern hätte man ihn bei Stax Records oder jedem anderen Soul-Label zwischen Memphis und Detroit unter Vertrag genommen.

Der bald 60-jährige englische Rhythm & Blues-Musiker James Hunter ist oft Gast in Musikmagazinen für ältere Semester, Mojo und Record Collector etwa, oder der feinen BBC-Musik-TV-Show Later with Jools Holland. Bekannt wurde er auch durch seine Zusammenarbeit mit Van Morrison, mit dem er Mitte der 1990er Jahre auf einigen seiner Alben zusammenarbeitete, und Morrison dafür auf James Hunters 1996er Solodebüt …Believe What I Say bei zwei Songs als Gastsänger vor dem Mikrophon stand. Hunters Album People Gonna Talk wurde 2006 für einen Grammy als „Bestes traditionelles Bluesalbum“ nominiert.

Nach vier Alben in den 1980ern mit Howlin‘ Wilf & The Veejays ist Minute By Minute bereits Hunters fünftes Soloalbum, das aber unter dem Namen seiner aktuellen Band The James Hunter Six firmiert. Es ist ist beim New Yorker Independent-Label Daptone Records erschienen, das sich auf Soul und Funk alter Schule spezialisiert hat, und auch die Heimat von Sharon Jones & The Dap-Kings oder Charles Bradley war. Der traditionelle, man darf ruhig sagen altmodische Rhythm & Blues der James Hunter Six passt wohl nirgendwo sonst so gut hin wie zu Daptone, das in Brooklyn situiert ist und auch maßgeblich mit den Dap-Kings am brillanten Sixties-Sound von Amy Winehouses Hitalbum Back To Black beteiligt war. Als Produzent fungiert hier Gabriel Roth alias Bosco Mann, der mit Dap-Kings-Saxofonist Neal Sugarman auch Gründer und Eigentümer von Daptone Records ist, und zudem Bandleader, Hauptsongschreiber und Bassist der Dap-Kings.

Nicht nur der Sound der in Mono gemischten LP – ein MP3-Downloadcode lag der Platte auch bei – ist stimmig. Das Albumcover ist wie früher mal aus extradickem Karton gestanzt, den man zur Selbstverteidigung nehmen könnte. Und das nicht halb so schöne Cover der CD wurde fürs LP-Cover noch mehr in Richtung Sixties-Soul-Soul gestylt. Das passt perfekt für James Hunters vielleicht bestes Album. Er selbst, seine Band und praktisch alle Songs sind in prächtiger Form. Gereifter, beseelter tönte er noch nie, man höre nur einmal, wie er Heartbreak oder den Titelsong intoniert. So wie Hunter seinen inneren Sam Cooke und Otis Redding anzapft, hätte man ihn in den 1960ern bei Stax Records oder jedem anderen Soul-Label zwischen Memphis und Detroit unter Vertrag genommen. Auch an der Stromgitarre spielt er mit knappen, scharfen Licks groß auf. Die legendäre Stax-Hauscombo Booker T. & The MG‘s lässt grüßen. Minute By Minute ist bis zum Schlussakkord natürlich ein nostalgisches Artefakt, aber es ist gut so wie es ist.

The James Hunter Six Minute By Minute Daptone Records, 2013

© Minute By Minute Pics shot by Klaus Winninger

Eli Paperboy Reed: „Ich bin nicht retro. Ich äffe nichts nach!“

Talk Show/Interviews 10: Eli Paperboy Reed, Soul Man.

Eli Paperboy Reed, 1983 in Boston, Massachusetts, geboren, spielt mit seiner Band auf seinen Platten wie „Come And Get It!“ (2010) hochoktanigen Soul, der in den 1960ern und 1970ern wurzelt. Seine Stimme tönt nach Soul-Größen wie Sam Cooke oder Otis Redding. Wie kommt das?

Klaus Winninger: Jede junge Generation scheint wieder aufs Neue die Faszination alter Soul-Musik zu entdecken. Warum ist das so? Und warum ist es gerade Ihnen so ergangen?

Eli Paperboy Reed: Ich kann nicht für meine Generation sprechen, aber ich selbst bin in einer sehr musikalischen Umgebung groß geworden, wo auch der Soul selbstverständlich mit dazu gehörte. Soul hat eine unglaubliche Kraft und ist auch heute noch ein wichtiges Element des modernen Pop. In Wahrheit war der Soul aber gar nie weg. Es ist seine direkte Emotionalität, die ihn so stark macht, und so viele Leute anzieht.

KW: Wie ist das in Ihren Konzerten? Kommen da eher ältere Semester oder auch Jüngere?

Eli Paperboy Reed: Es sind viele Junge da, aber auch Ältere. Das ist  bunt gemischt, jedes Alter, Männer, Frauen, Weiße, Schwarze. Es freut mich, wenn ich ins Publikum schaue und diesen wilden Mix sehe.

KW: Es heißt, Sie haben Ihre Liebe für den Soul von ihrem Vater, einem Musikkritiker, geerbt?

Eli Paperboy Reed: Er war wirklich Musikkritiker, aber noch bevor ich überhaupt geboren wurde. Aber er hatte natürlich auch später noch unheimlich viele Platten, unser ganzes Haus war voller Blues, Country, Gospel, Rhythm & Blues und Soul. Bei uns daheim ist die ganze Zeit über Musik gelaufen. Als ich dann ins High-School-Alter kam, fing ich selber an nachzuforschen und tiefer zu buddeln und entdeckte auch Platten, die nicht einmal mein Vater kannte.

KW: Gibt es einen besonderen Song oder ein bestimmtes Album, die Ihre Begeisterung für den Soul entfachten?

Eli Paperboy Reed: Das hat sich mehr so über die Jahre hinweg entwickelt. Aber die Aufnahmen, die Ray Charles Ende der 1950er, Anfang der 1960er für Atlantic Records machte, haben mich einfach weggeblasen, das war definitiv ein Schlüsselerlebnis für mich.

KW: Der Sound Ihrer eigenen Platten hält sich strikt an den originalen Soul-Sound der 1960er und 1970er. Ist es für Sie ein Kompliment oder ein Schimpfwort, wenn man Ihre Musik als „Retro“ bezeichnet?

Eli Paperboy Reed: Ich würde nicht so weit gehen und sagen, dass es ein Schimpfwort ist. Aber ich glaube auch nicht, dass es für meine Musik überhaupt zutrifft. Schließlich sind es meine eigenen Songs, die Arrangements stammen von mir, und es ist ja auch meine Stimme. Ich denke, meine Musik ist schon allein durch ihre Natur und Entstehungsgeschichte modern. Alles, was ich mache, ist natürlich geprägt von der Musik, die ich liebe, aber ich äffe doch nichts nach und versuche auch nicht, ein vergilbtes altes, historisches Bild nachzustellen.

KW: Wie sind Sie denn vom Soul-Fan zum Soul-Original geworden?

Eli Paperboy Reed: Das ist schwer festzumachen, aber mit jedem Song, den ich schreibe, mit jedem Album, das ich aufnehme, und mit jedem Konzert, das wir spielen, entwickle ich mich weiter und reife.

KW: Sie sollen gleich nach der High School, als 18-Jähriger, in den Süden der USA gepilgert sein und in den Kneipen von Clarksdale, Mississippi den Blues und Rhythm & Blues gelernt haben. Und später haben Sie während des College-Studiums, das Sie wegen der Musik schließlich abgebrochen haben, in Chicago angeblich als Organist für eine Gospel-Sängerin jeden Sonntag in der Kirche gespielt, bevor Sie in Ihre Heimatstadt Boston zurückgingen, um Ihre Band zu gründen. Ist diese Vita wahr? Sie klingt, als wäre sie von einem PR-Agenten erfunden.

Eli Paperboy Reed: Sie ist wahr, das sind meine Lehr- und Wanderjahre. So ein Leben kann man nicht erfinden.

(Veröffentlicht in: now! N° 86, Mai 2010, komplett überarbeitet im Mai 2020)

Lily Brett „Lola Bensky“ (Suhrkamp, 2012)

Pop-Literatur: Mit 19 war die australisch-amerikanische Schriftstellerin Lily Brett in den Roaring Sixties als Pop-Reporterin in London, New York und Los Angeles unterwegs.

Die heute 73-jährige australisch-amerikanische Schriftstellerin Lily Brett ist eigentlich für Romane und Kurzgeschichten bekannt, die sich mit den Gräueln der Nazizeit oder ihrer heutigen Wahlheimat New York auseinandersetzen. Ihre Eltern überlebten beide das Konzentrationslager Ausschwitz. Vor allem die Traumata ihrer Mutter prägten das Familienleben und später die Romane von Lily Brett. Für den pointierten Witz und der trotz aller tragischen Schwere spürbaren lässigen Leichtigkeit ihrer Romane wie Einfach so (1998) und ihrer New York Storys wird Lily Brett oft mit Woody Allen verglichen.

Weniger bekannt ist, das Lily Brett in den 1960ern schon als 19-Jährige in London, New York und Los Angeles als Pop-Reporterin und Musikjournalistin für ein australisches Rockmusikmagazin arbeitete. Obwohl ihre Eltern es lieber gesehen hätten, wenn sie Jus studiert hätte und Anwältin geworden wäre. Aber Lily Brett war lieber beim ersten großen Festival der Rockgeschichte mit dabei –  in Monterey, Kalifornien, das im Juli 1967 den berauschten Summer of Love der Hippies einläutete.

Im autobiographischen Roman Lola Bensky von 2012 schildert Lily Brett ihre Begegnungen und Interviews mit den großen Pop- und Rockstars der 1960er – Andy Warhol, Twiggy, Mick Jagger, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Soul-Star Otis Redding, Pete Townsend, Cat Stevens, die Kinks, die Bee Gees, Jim Morrison, Sonny and Cher, The Mamas and The Papas – eine endlose Liste.

Sie besucht Mick Jagger zum Nachmittagstee und spricht mit ihm über Feminismus, Sex, ihre Gewichtsprobleme und das KZ-Schicksal ihrer Eltern. Mit Barry Gibb von Bee Gees geht sie in der angesagten Londoner Modestraße Carnaby Street einen bunten Anzug kaufen. Sie trifft mehrmals Jimi Hendrix und redet mit ihm über Mütter und Gott und fragt nach, ob er wirklich Lockenwickler für seine mächtige Afrofrisur benutzt. Als sie Jim Morrison, den Sänger der Doors, interviewt, verstört sie dessen Weltverdrossenheit und brutale Rücksichtslosigkeit. An Pete Townsend  von The Who missfällt ihr seine blanke Aggressivität und sein ungehobeltes, unfreundliches Auftreten. Ich habe selten so gut getroffene, stimmige, einfühlsame Porträts von Pop- und Rockstars gelesen wie bei Lily Brett – und ich habe viele davon gelesen und auch selbst genug geschrieben.

Im Roman verwebt Lily Brett die Erlebnisse von Lola Bensky mit ihrer eigenen, nicht immer leichten Beziehung zu ihren Eltern, ihren Ehe- und Gewichtsproblemen und einer coolen, in New York spielenden Detektivstory, an der Lola Bensky gerade schreibt. Das Resultat: ein faszinierender, komischer, berührender, lebenskluger Roman, der viel mehr ist als eine Hommage an die Pop-Welt und die Pop-Stars der 1960er Jahre.

Lily Brett Lola Bensky, Suhrkamp, 2012

B-logbook: 15.03.2020: We Have All The Time In The World – Staying In

As the vicious Corona Virus strikes the world and all our lives, this is the right time to revisit and hear again all these great box sets, lounging most of the time in the racks. I’m starting with the three volumes of all Stax Volt soul singles from 1959 up to 1975, all in all 28 CDs, brilliantly remastered, a fantastic lively sound, released between 1991 and 1993. Listening to the complete Soulsville U.S.A.

Record Collection N° 40: Duffy „Rockferry“ (Polydor, 2008)

Das Pop-Debüt von 2008. Ein famoses Album, und der grandios groovende Hit Mercy erst recht eine Klasse für sich.

Aimee Ann Duffy ist tatsächlich eine Entdeckung. Auch wenn sie in Wahrheit weder eine neue Amy Winehouse ist noch eine moderne Kopie von Dusty Springfield, der britischen Queen of Soul der 1960er, wie viele behaupten. Duffy ist keine Kopie und wohl auch keine leicht manipulierbare Marionette irgendwelcher Plattenfirmenmanager, selbst wenn sie bei einem Waliser TV-Wettsingen entdeckt wurde. Mag ihre schick blondierte Sixties-Mähne noch so perfekt gestylt sein, Duffy scheint mir echt. Sie schwadroniert in Interviews auch nicht so wenig glaubwürdig herum wie Joss Stone, die schon vor ein paar Jahren als neue britische Soul-Hoffnung gehandelt wurde und allen weismachen wollte, sie hätte schon in der Krabbelstube keine andere Musik gehört als das Greatest Hits-Album von Aretha Franklin, der Queen of Soul der 1960er, 1970er und immer noch.

Duffy sagt ehrlich, dass sie, bis sie 19 Jahre alt war, nicht einmal wusste, wer diese Aretha Franklin überhaupt ist. Sie verschweigt auch nicht, dass ihr erst so spät die Welt des Soul nähergebracht wurde: von ihrer Mentorin und Managerin Jeanette Lee vom coolen englischen Alternative-Plattenlabel Rough Trade und ihrem Produzenten Bernard Butler (früher mal bei Suede, dann McAlmont & Butler). Sie begeisterten Duffy für die alten Scheiben von Atlantic Records, Stax und Motown. Sie spielten ihr die Songs von Aretha Franklin, Otis Redding und Marvin Gaye vor, von Al Green und Candi Staton. Und ich möchte wetten, auch ein paar Songs von Carmel, einer englischen Soul-Chanteuse, die in den frühen 1980er Jahren während der Neo-Soul-Jazz-Welle ein paar feine Hits landete.

Duffys vielleicht nicht so variable, aber unverwechselbare, markante Stimme klingt kaum einmal nach dem samtweichen, rauchigen Gesang von Dusty Springfield. Duffy hat weit mehr mit der vibrierenden, energiegeladenen Stimme von Aretha Franklin gemein und dem unter die Haut gehenden, expressiven Vibrato von Carmel. Sie geht aber auch in Richtung der leidenschaftlichen Phrasierungen von Candi Staton, einer Soul-Ikone der späten 1960er. Duffy brilliert mit ihrem Soul-Vibrato in den von ihr gemeinsam mit Bernard Butler und anderen Könnern geschriebenen Songs. Welche Butler als Produzent meist aufwändig und opulent im klassischen Soul-Sound der 1960er und 1970er inszeniert.

Egal, ob es sich um eine raffinierte, komplexe Komposition handelt wie beim famosen Titelsong, der Rockferry mutig und voll Selbstvertrauen eröffnet oder um eine bloß zur Gitarre geschmachteten Ballade wie Syrup & Honey – Duffy erfüllt mit ihrer kräftigen Stimme alle Songs bravourös mit Leben und Gefühl. Richtig schön auch: das bezaubernde Warwick Avenue oder die schwelgenden Balladen Serious und Distant Dreamer. Die Hitsingle Mercy, ein hinreißend groovender Northern Soul Stomper, ist erst recht eine Klasse für sich. Das Pop-Debüt des Jahres? Ja.

In meiner Plattensammlung als Vinyl-LP und als Limited Edition Doppel-CD. Die zweite CD mit sieben weiteren superben Tracks eine Entdeckung, dem originalen Rockferry Album ebenbürtig, phänomenal: das herrlich rauschende Raining On Your Parade, der Dancefloor-Groover Stop, die zauberhafte Gitarrenballade Oh Boy, das cool tänzelnde Breaking My Own Heart und die Liebesschmerzballade Please Stay. Klasse Soul-Stoff alles. Duffy kann echt was.

Duffy Rockferry, Polydor, 2008

 (Album des Monats in now! N° 67, April 2008; Text komplett überarbeitet im Februar 2020)

Record Collection N° 23: Otis Redding “Otis Blue. Otis Redding Sings Soul” (Volt /Atlantic Records, 1965)

Otis Redding’s classic soul album Otis Blue is the best way to experience the magic and power of soul music.

When somebody asks you „What is soul?“ – this super fantastic album from the late King of Soul Otis Redding is an equally appropriate answer to that question than Al Green’s super fab Greatest Hits LP. The liner notes on the back cover also try to explain what soul really is – and how it feels like. But the best way to experience the magic and power of soul music is to listen to Otis Blue.

Otis Redding’s third studio album was released September 15, 1965 on Volt Records, a subsidiary of the now legendary Memphis soul label Stax Records. It was recorded within two days in July 1965 at the Stax Recording Studios in Memphis, Tennessee, and produced by Isaac Hayes and David Porter, engineered by Tom Dowd and supervised by Stax boss Jim Stewart. Otis Redding was backed by a bunch of brilliant musicians, by Booker T. & The MGs (Booker T. Jones, keyboards; Steve Cropper, guitar; Donald “Duck” Dunn, bass; Al Jackson Jr.), then one of the best and hottest bands in the whole wide world, and the dynamic wind section The Memphis Horns (Wayne Jackson, trumpet; Andrew Love, tenor sax; Floyd Newman, baritone sax).

Otis Blue contains three strong songs written by Otis Redding himself, all placed on Side A: the bluesy ballad Ole Man Trouble; his stirring black pride hymn Respect, that Aretha Franklin, the Queen of Soul, would take over two years later and make it her own; and the heart-wrenching, lovelorn ballad I’ve Been Loving You Too Long, one of Redding’s signature songs.

The majority of the eleven tracks is made up of cover versions of songs first made famous by other great singers. There are Sam Cooke’s civil-rights movement hymn Change Gonna Come and Cooke’s explosive dancefloor banger Shake; Solomon Burke’s Down in the Valley; a touching, more gritty rendition of The Temptations‘ wonderful Motown ballad My Girl; Wonderful World, another Sam Cooke original, but in a more rocking, staxified way; B.B. King’s blues rocker Rock Me Baby as a fiery rocking, well … blues; a dynamic version of the Rolling Stones hit of the moment, Satisfaction; and finally, You Don’t Miss Your Water, another highly emotive soul ballad, originally written and tenderly sang by Stax recording artist and songwriter William Bell.

But all these cover versions – call them better reinterpretations – sound like Otis Redding originals. Because, backed by the best soul band ever (on par with Motown’s The Funk Brothers featuring genius bassist James Jamerson) the charismatic singer made them all his own. Otis Redding got lots of soul and he knew how to use it – to create a style of his own. In the 1960s he was the King of Soul to Aretha Franklin’s Queen of Soul. Respect!

Otis Redding Otis Blue. Otis Redding Sings Soul, Volt/Atlantic Records, 1965