Record Collection N° 130: John Lennon „John Lennon/Plastic Ono Band” (Apple Records, 1970)

Das erste Soloalbum von John Lennon nach dem Ende der Beatles, auf dem er sich seine inneren Qualen und Dämonen von der Seele schreit. John klingt, als ob seine Stimmbänder und sein Herz vor dem Mikrophon geblutet hätten.

Wenn man sich Peter Jackson’s phänomenale neue Dokumentation The Beatles: Get Back ansieht, ist unschwer zu erkennen, dass der Beatle John Lennon im Jänner 1969 alles andere glücklich ist, und nicht so recht eins mit sich selbst zu sein scheint. Dem ersten Soloalbum von Lennon waren die famosen Singles Give Peace A Chance, Cold Turkey und Instant Karma sowie das mit der Plastic Ono Band aufgenommene Livealbum Live Peace In Toronto 1969 vorangegangen. Nachdem sich die Beatles im April 1970 nach dem Ausstieg von Paul McCartney schlussendlich getrennt hatten, folgte am 11. Dezember 1970 mit John Lennon/Plastic Ono Band Johns erstes Soloalbum, seine kraftvollste, aufwühlendste, vielleicht auch berührendste Soloplatte, die einer Operation am offenen Herzen gleichkommt.

1970 war John Lennon einer der berühmtesten Männer auf dem Planeten Erde. Mit den Beatles hatte der Dreißigjährige in den 1960er Jahren die Popmusik revolutioniert. Bestärkt von seiner zweiten Frau, der japanischen Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono, engagierte er sich gegen Ende des Jahrzehnts in politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und wurde zu einer Art Gewissen des Rock’n’Roll – eine Bürde, die ihm ebenso zu schaffen machte wie der gigantische Erfolg der Beatles.

Im April 1970 nach der offiziellen Trennung der Beatles, flogen John und Yoko wenige Tage später nach Los Angeles, um sich einem besonderen Krisenherd zu widmen: John Lennons Psyche. Dass John Lennon nicht nur ein energiegeladener, schlagfertiger, selbstsicherer Mann war, schimmerte schon in Beatles-Songs wie I’m A Loser oder Help durch. Doch bei den Beatles verzierte Lennon seine Bekenntnisse noch mit gedrechselten witzigen, oft sarkastischen Wortspielen und oft aufwändigen musikalischen Arrangements. Um mit seinen inneren Dämonen zurecht zu kommen, unterzogen sich John und Yoko beim Therapeuten Dr. Arthur Janov aber einer Urschrei-Therapie, um die  tiefsten Wurzeln für seine persönlichen Probleme noch einmal zu durchleben und so ein besseres Selbstwertgefühl zu erlangen. Nebenbei schrieb John Lennon in Los Angeles in vier Monaten über dreißig neue Songs.

Zurück in London im Herbst 1970 führte John Lennon (Gesang, Gitarre, Klavier) die Urschrei-Therapie musikalisch fort. Unterstützt von der Plastic Ono Band mit Yoko Ono (Inspiration, Co-Produzentin), Ringo Starr (Schlagzeug), Alan White (Schlagzeug), Klaus Voormann (Bass), Billy Preston (Keyboards) und dem legendären 1960er-Jahre-Produzenten Phil Spector. Sein Gesang auf John Lennon/Plastic Ono Band gehört zu den intensivsten, leidenschaftlichsten vokalen Darbietungen des Rock’n‘Roll. Er klingt, als ob seine Stimmbänder und sein Herz vor dem Mikrophon geblutet hätten. Die Songs selbst haben simple Melodien, karge Arrangements, oft einen lauten, rauen Sound, starke Gefühle und brutal autobiographische Songtexte. In einer bis dahin nicht gekannten Offenheit und emotionalen Radikalität sang Lennon, was er in der Seele spürte, und versuchte der ihn erstickenden Verbitterung zu entkommen.

In Mother geht es um seine traumatische Kindheit und Jugend ohne Vater, und einer zu früh verstorbenen, abgöttisch geliebten Mutter. In Hold On John spricht er über einer berückenden Tremologitarre sich und Yoko, aber auch dem Hörer Mut zu, man müsse durchhalten, bis es am Ende des finsteren Tunnels wieder lichter wird. In I Found Out wettert Lennon über Ringo Starrs mächtigem Getrommel, dem heftig pumpenden Bass von Klaus Voormann und seiner eigenen widerspenstigen, schrillen Gitarre über das, was ihm gerade so gegen den Strich geht. Working Class Hero hat eine starke politische Botschaft, es geht um die seelischen  Verstümmelungen, die den Menschen generell so im Laufe des Lebens zugefügt werden, und um die Ausbeutung der Arbeiterklasse im speziellen. In der hypnotischen Klavierballade Isolation offenbart Lennon seine Angst vor Einsamkeit, und sehnt sich nach innerer Ruhe und Glück. In Remember ermahnt er sich, sich nicht von der Vergangenheit unterkriegen zu lassen. Love meditiert zauberhaft über die Natur der Liebe, zugleich ist die anrührende Klavierballade ein Liebeslied für Yoko.

Well Well Well hat etwas vom Bluesrock von I Want You (She’s So Heavy) auf Abbey Road, Lennon schwadroniert über Sex und Politik, und das schlechte Gewissen, es sich als reicher Liberaler in der Sonne gut gehen zu lassen, schließlich eskaliert alles in einer Schreiorgie. Look At Me hingegen ist ein zartes, charmantes Geflüster zwischen Liebenden, auf den Spuren der von Lennon für das White Album der Beatles in Indien geschriebenen Akustikgitarrenballaden (Dear Prudence, Julia). Im großen musikalischen Drama von God schreit Lennon alle Mythen raus, an die er nicht (mehr) glaubt: Gott, die Bibel, Buddha, Yoga, Elvis, Zimmerman (Dylan), die Beatles, Hitler, Jesus, Kennedy (J.F.K.) und so fort. Er glaube nur noch an sich selbst, so Lennon, an Yoko und sich selbst. Der Traum sei vorbei. Er sei das das Walross gewesen, jetzt wäre er nur noch John. Punkt. Der Schlusssong My Mummy’s Dead, ein fragiles Kinderlied, ist mit all seinem Schmerz kaum zu ertragen. Eine offene Wunde, wie sie auch das blutige Attentat eines irren Fans auf John Lennon am 8. Dezember 1980 in New York für immer in dieser Welt hinterlassen hat.

John Lennon John Lennon/Plastic Ono Band, Apple Records, 1970

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