Chuck Berry und die magische Macht des Rock & Roll

Wie ich anno 1976 oder 1977 bei einem Konzert von Rock & Roll-Legende Chuck Berry in der Linzer Sporthalle Zeuge der überwältigenden Kraft und Magie des Rock & Roll wurde.

Chuck Berry (1926-2017) ist nicht nur der Erfinder der besten Gitarrenriffs des Rock & Roll, die bis heute Gitarristen in aller Welt inspirieren und nachspielen. Er ist auch der Schöpfer genialer Songklassiker wie Johnny B. Goode, Sweet Little Sixteen, Roll Over Beethoven, Little Queenie oder Rock & Roll Music. Ich lernte diese erst durch die Beatles und die Rolling Stones kennen, und machte mich, voll am Haken, auf die Suche nach den Originalen und ihrem legendären Urheber.

Was die Musik anlangt, so hat Chuck Berry diese Songs zum größeren Teil wahrscheinlich im Duo mit seinem Pianisten Johnnie Johnson geschrieben, der dafür aber nie eine Nennung als Co-Autor, noch Tantiemen bekommen hat, weshalb er Chuck Berry sogar mal verklagte, seine Klage ist aber wegen Verjährung abgelehnt worden. Mit den fabelhaften Songlyrics hat Chuck Berry aber ganz allein seine eigene Teenager-Rock´n‘Roll-Welt erschaffen. Der ungeklärte Streit mit Johnson kann aber Chuck Berrys Rang als Rock & Roll-Pionier nicht zu schmälern. Schließlich wären ohne seine Gitarrenriffs und seine Songtexte weder die Beatles noch die Rolling Stones zu dem geworden, was sie geworden sind. Und wohl auch die frühen Beach Boys nicht, oder The Who, die Kinks, T. Rex und sogar Bruce Springsteen.  Denn, wer war denn der erste, der am liebsten über Autos und Mädchen, Mädchen und Autos Lieder schrieb und sang? Chuck Berry, genau.

Weil die Beatles auf ihren ersten Alben so mitreißende Versionen von Chuck Berrys Krachern wie Rock’n’Roll Music oder Roll Over Beethoven spielten, kaufte ich mir gleich nach Beatles For Sale Chuck Berrys Hitsammlung Original Oldies und wenig später auch noch die beiden Fortsetzungen. Damit war ich für ein Konzert des großen Rock & Roll-Meisters bestens präpariertund enterte als aufgeregter Jungspund, es muss so 1976 oder 1977 gewesen sein, die Sporthalle in der Stahlstadt Linz.

Dort wurde ich Augen- und Ohrenzeuge der welterschütternden Kraft des Rock’n’Roll. Zur wohl über zwanzig Minuten ausgedehnten Schlussnummer Johnny B. Goode holte der von einer angemieteten europäischen Begleitcombo unterstützte Chuck Berry zwanzig, dreißig Leute auf die Bühne. Darunter glücklicherweise auch ich. Während wir dort oben zu seinen unendlich wiederholten, allerlegendärsten Gitarrenakkorden ausgelassen tanzten, glitt der Riff-Meister mit seiner funkelnden roten Stromgitarre im einst von ihm kreierten Duckwalk (vulgo Entenwatschelgang) charismatisch über die dichtgefüllte Bühne.

Und so geschah es. Ich erinnere mich noch deutlich daran, plastisch. Eine für einen in Liebesdingen noch unbedarften Teenager reizvoll kurvige Frau mit langem, blondem Haar fing an, beim Tanzen ihre stramm sitzende weiße Bluse aufzuknöpfen, um dann Chuck Berry, begeistert von seiner Musik, ihre Brüste entgegenzuschütteln. Wie war ich in diesem Moment doch fasziniert von der magischen Kraft des Rock & Roll, von seiner revolutionären, befreienden Wirkung. Das also meinte Chuck Berry, als er 1957 in School Days unvergessen deklamierte: „Hail! Hail! Rock & Roll!“

PS.: Dass ich damals im Konzert von Chuck Berry mit meinem besten FreundNorbert war, hatte ich ehrlich vergessen. Aber als wir uns nach fast vierzig Jahren wieder trafen und stundenlang redeten, kamen wir auch auf dieses legendäre Konzert. Ein auf die Bühne geeilter Saalordner habe der barbusigen Dancing Queen eine Decke übergeworfen, erinnerte sich Norbert. Und dass er mir das Cover von Original Oldies auf die Bühne reichte, um den Meister um sein Autogramm zu bitten. Und auch, dass ich nicht nur völlig überdreht auf der Bühne tanzte, sondern gleich auch noch ein schallendes Yeah in Chuck Berrys Mikrophon jauchzte. So voll „Roll over Beethoven and tell Tchaikovsky the news“ mäßig. 

Als Neil Young mir sein Album „Harvest Moon“ signierte

Neil Youngs wundervolles 1992er Album Harvest Moon, vom Meister persönlich signiert.

Es soll Musikjournalisten geben, die die Interviewzeit auch dafür verwenden, sich von den prominenten Gesprächspartnern Platten- und CD-Hüllen signieren zu lassen. Und man munkelt, dass dies nicht immer aus reiner Begeisterung geschehe, sondern mit den signierten Artefakten auch lukrativer Handel im Internet getrieben würde.

Meine Sache war das nie. Ich fand es peinlich. Genauso wie sich mit dem soeben interviewten Star fotografieren zu lassen. So finden sich nach zahllosen Interviews in meinem Archiv gerade mal zwei Fotos, auf denen ich mit prominenten Musikerinnen und Musikern zu sehen bin. Auf dem einen mit Sheryl Crow auf dem Balkon eines Hotels in München, auf dem anderen in Wien als fünfter Take That, nachdem Robbie Williams aus der Band geflogen war. Wenn ich mich recht erinnere, wollte mir Mark Owen nach dem Shooting meinen schicken, seine Einschätzung, schwarzen Mantel abkaufen. Von meinen Treffen mit David Bowie oder Bryan Ferry gibt es leider keine Bilder.

Auch nicht von meinem Interview mit Neil Young, das 1992 Hamburg stattfand, anlässlich der Veröffentlichung von Harvest Moon – einer Fortsetzung des sanften Folk- und Countryrock seiner Erfolgsplatte Harvest, die zwanzig Jahre davor erschienen war. Aber ehrlich, auch ich konnte damals nicht widerstehen, nach dem Gespräch den großen Neil Young darum zu bitten, das Cover von Harvest Moon, bis heute eine meiner Lieblingsplatten von ihm, zu signieren: To Klaus … Neil Young. Thank you, Mr. Young.

© Harvest Moon Foto by the author.

David Bowie: „Ich bereue nichts!“

Talk Show/Interviews 02: David Bowie.

Am 8. Jänner 2024 wäre David Bowie, einer der größten, schillerndsten und facettenreichsten Pop- und Rockmusik-Künstler der Welt, 77 Jahre alt geworden. Im August 1999 hatte ich das Glück, Bowie zum ersten Mal interviewen zu können. Der Anlass für unser Gespräch war das im Oktober 1999 veröffentlichte Album „Hours …“. Ein paar Jahre später begegnete ich Bowie dann noch einmal, in Berlin. Es waren zwei Begegnungen mit einem Ausnahmekönner, der bei unseren Treffen ganz anders war wie erwartet, die sich eingeprägt haben.

Rückblende: Sommer 1999, 10. August, einen Tag vor der totalen Sonnenfinsternis über Mitteleuropa, die ich dann auf der Rückfahrt vom Münchner Flughafen nach Salzburg noch erwische, als das Flughafentaxi stehen bleibt, damit wir die Sonnenfinsternis bestaunen können. Was für ein Erlebnis, einen Tag nachdem ich David Bowie zum ersten Mal persönlich begegnet bin, in New York City, Manhattan, an einem warmen, sonnigen Augustmorgen auf der Fifth Avenue in den Büros seiner Plattenfirma Virgin Records. Dreißig Minuten sollte  das Gespräch  mit  David Bowie dauern, dreißig Minuten derentwegen ich extra acht Stunden lang über den Atlantik in die USA geflogen bin. Dreißig Minuten, in denen man nur einen kleinen Teil jener Fragen stellen kann, die man David Bowie unbedingt stellen möchte. Dem Mann, der in den 1970ern in die Rolle von Kunstfiguren wie Ziggy Stardust schlüpfte und mit Alben wie „Hunky Dory“, „Ziggy Stardust“, „Low“ und „Heroes“ die Popmusik revolutionierte. Anfang der 1980er Jahre wurde er mit dem Megaerfolg des Albums „Let’s Dance“ zum Superstar, fiel danach aber in eine kreative Krise. Erst im Laufe  der 1990er Jahre sollte David Bowie eine kreative Renaissance gelingen, seither ging es für Bowie künstlerisch nur noch bergauf. Der Anlass für unser Gespräch war das im Oktober 1999 veröffentlichte Album „Hours …“.

New York City, Manhattan, Fifth Avenue, in den Büros von Virgin Records. Im cool gestylten Besprechungsraum, eigentlich ein riesiges Loft, ist alles vorbereitet. Duftkerzen brennen, auf dem Tisch liegen eine neue Packung Zigaretten, ein Feuerzeug und ein Aschenbecher. Leicht verspätet schlendert David Bowie entspannt zur Tür herein, braungebrannt, fit und jugendlich wirkend, nicht einmal die grauen Bartstoppeln machen ihn älter. Den dunkelbraunen Pagenkopf vom Coverfoto des neuen Albums Hours hat er schon wieder blond gefärbt. Die größte Überraschung aber: David Bowie ist unglaublich charmant, freundlich, humorvoll und gesprächig. Keine Spur mehr von dem mürrischen, schüchternen, verschlossenen Menschen, der er einmal gewesen sein soll. Der David Bowie von 1999 scheint, vielleicht auch wegen seiner glücklichen Ehe mit dem somalischen Supermodel Iman, mit sich und der Welt soweit es halt geht im Reinen zu sein. Auch wenn die Songs von Hours die Probleme und Ängste seiner Generation thematisieren. „Mit Zwanzig glaubte ich alles zu wissen“, sagt er, „heute weiß ich, dass es keine Gewissheit und Sicherheit geben kann. Aber ich bin froh, dass es mich noch gibt und ich mein Dasein heute genießen kann.“

Klaus Winninger: In Ihrer Rede an der Universität von Berkeley, wo Sie das Ehrendoktorat bekommen haben, erwähnten Sie, dass John Lennon Ihr wahrscheinlich wichtigster Mentor war. Das überrascht, weil Lennon ein Künstler war, der wie kein anderer seine Gefühle in seinen Liedern offenbarte. Während Sie nicht gerade dafür bekannt sind, in Ihren Songs eine persönliche Beichte abzulegen.

David Bowie: Es war auch nicht dieser Aspekt, der mich an John faszinierte. Er war natürlich ein großartiger Songschreiber, aber was mich angesprochen hat, war mehr sein unabhängiger Geist, seine Weigerung sich einordnen zu lassen. Ich bewunderte die Art, wie er sich seinen Weg durch die Musik, durch sein Leben und seine Karriere bahnte. Er rannte nie der Herde nach. Sogar innerhalb der Rockwelt war er ein Rebell. Und dann war da diese andere Seite an ihm, seine Neigung, sich auch Dingen anzunehmen, die nichts mit Rockmusik zu tun hatten. Das habe ich als sehr stimulierend und lehrreich empfunden, denn ich war all dieser Rocktypen, die sich nur mit sich selbst und ihrer Musik beschäftigen, müde geworden. Einfach nur ein Rockmusiker zu sein, hat mich noch nie interessiert. John hatte ein viel weiteres Spektrum. Er war radikal loyal zu seiner Frau Yoko, er beschäftigte sich mit bildender Kunst, dem Theater und praktisch allem, was um ihn herum in seiner Kultur passierte.

KW: Sehen Sie sich selbst auch so?

David Bowie: Es ist nicht heute mehr so leicht, ganz allein seinen eigenen Weg zu gehen, weil die Herde (lacht) aufgeholt und  jene Arbeitsmethoden übernommen hat, die Leute wie John Lennon, Brian Eno oder ich bevorzugt haben. Früher waren wir die Ausnahme, am Ende des 20. Jahrhunderts ist es die Regel, auch von anderen Sachen als der Rockmusik selbst inspiriert zu sein und viele verschiedene Sachen und Stile zu vermischen. Außer in Amerika vielleicht. Die Amerikaner sind eine puristische Nation, die sehr an traditionellen Werten hängt. Wenn man hier neue, aufregende Musik hören will, muss man sich für Black Music interessieren, im weißen amerikanischen Rock gibt es kaum Aufregendes. Überall sonst befindet sich die Rockmusik in einem chaotischen, bruchstückhaften Stadium, und das empfinde ich als einen sehr gesunden Zustand.

KW: Aber es wird dadurch für Sie auch schwieriger sich von anderen abzuheben, oder?

David Bowie: Ich bin immer noch ich. Der Prozess, wie wir alle arbeiten, mag ähnlich sein, aber das Resultat meiner Bemühungen bin unverkennbar ich. Ich klinge wie David Bowie. Die Leute wissen, was sie von mir bekommen.

KW: Heute klingt aber nicht nur David Bowie wie David Bowie. Das tun öfter auch Blur oder Placebo oder Suede oder selbst Marilyn Manson. Schmeichelt Ihnen der Einfluss, den Sie auf die jüngere Musikergeneration haben, oder geht Ihnen diese Verehrung manchmal auch auf die Nerven?

David Bowie: Nein, allein schon deshalb nicht, weil ich ihre Musik nicht so oft höre. Ich drehe nie das Radio auf. Andererseits war es ja eine meiner Ambitionen, in der Rockmusik etwas zu verändern. Es tut gut, wenn man sieht, dass man wirklich etwas bewegt und jemanden beeinflusst hat. Und ich denke, manche meiner Ideen setzen sie sogar besser um als ich selbst. Placebo etwa sind großartig. Sie nehmen ja nicht nur meine Ideen, sondern auch die von Sonic Youth und anderen und mixen viele verschiedene Stile sehr clever zu einer eigenen Identität zusammen. Und sie haben eine dunkle Seite in ihren Songs, die ich sehr mag. Ich mag auch Suede sehr, Brett Anderson macht seine Sache als alter Romantiker sehr gut. Was Marilyn Manson anlangt, ich weiß nicht so recht, er ist ganz okay, aber ohne seinen Look bleibt nicht viel über. Rein musikalisch ist er ein Nichts im Vergleich zu seinem musikalischen Mentor Trent Raznor von Nine Inch Nails. Raznor ist ein exzellenter Songschreiber und Produzent, der immer besser wird, ihn wird es noch lange geben.

KW: Empfinden Sie ihre Vergangenheit bei der Arbeit an neuen Projekten mitunter als Hindernis, etwas Neues zu schaffen?

David Bowie: Nein, nie.

KW: Aber Sie zitieren seit dem Album Black Tie, White Noise häufiger Ihre alten Platten. Auch Ihr neues Album Hours hat starke Ähnlichkeiten mit den Songs und dem Sound von Hunky Dory oder bestimmten Passagen auf Young Americans und Scary Monsters.

David Bowie: Sie haben recht. Aber vergessen Sie nicht, ich habe mich bei meiner Arbeit bis zu einem gewissen Grad immer auf mich selbst bezogen. Ich schaffe es nicht, das alles völlig beiseite zu lassen, also taucht es in veränderter Form wieder auf und wird von mir neu kombiniert. Das inspiriert mich. Im letzten Jahr habe ich zum ersten Mal praktisch überhaupt keine andere Musik gehört als meine eigenen Platten. Ich wollte wissen, was daraus resultiert.

KW: Oft scheint es so, dass die Plattenfirma, bei der Sie gerade unter Vertrag sind, lieber Ihre alten Werke vermarktet als ein neues Album?

David Bowie: Den Eindruck habe ich nicht. Zurzeit etwa bekomme ich von Virgin Records die größtmögliche Unterstützung. Sie haben mich jetzt sogar weltweit unter Vertrag genommen, weil Sie an meine Arbeit glauben.

KW: Aber hatten Sie nicht schon des Öfteren Probleme mit Plattenfirmen, weil Ihre neuen Platten zu wenig verkaufen?

David Bowie: Solche Probleme hatte ich nie. (Lacht) Die Verkaufszahlen meiner Platten schwanken auch nicht sehr stark. Machen wir uns nichts vor, in kommerzieller Hinsicht waren meine Platten keine großen Erfolge. Ausgenommen Let’s Dance, Tonight und Never Let Me Down und die beiden Alben von Tin Machine. Und nicht alle davon gelten als große künstlerische Erfolge. Meine künstlerisch besten Platten haben sich weit nicht so gut verkauft wie Let’s Dance. Aber kommerzieller Erfolg interessiert mich nicht mehr, und er hat mir auch nicht wirklich gut getan.

 KW: Sie sind also nicht auf einen Hit aus und höhere Albumverkaufszahlen?

David Bowie: Nein, denn ich habe ein sehr stabiles, loyales Publikum. Die Reaktion auf meine Platten ist seit bald dreißig Jahren sehr ähnlich. Es gibt keine richtigen Flops, weil mir meine Fans seit vielen Jahren die Treue halten und fast überall hin folgen. Ich habe das Gefühl, dass ich praktisch tun kann, was ich will, und dass der harte Kern meiner Fans sich alles anhört, was ich produziere.

KW: Dass sich ein Künstler so frei entwickeln und entfalten kann, ist in der heutigen Musikindustrie aber nicht mehr üblich.

David Bowie: Ja, ich habe Glück gehabt. Ich bin froh, dass ich kein neuer junger Künstler mehr bin. Als ich anfing, unterstützte einen die Plattenfirma noch, so dass man sich über eine Reihe von Alben entwickeln konnte. Aber wenn du heute als Neuling von deinem ersten Album nicht genug verkaufst, dann ist deine Karriere auch schon wieder vorbei. Das ist grässlich.

KW: Glauben Sie, dass das Internet mit seinen neuen Vertriebsmöglichkeiten die Musikindustrie revolutionieren wird, weil es jungen Musikern ermöglicht, ohne Plattenfirma ein Publikum zu finden?

David Bowie: Es wird auf jeden Fall immer jemanden brauchen, der Werbung für sie macht. Denn wenn es eine Million neuer Künstler im Internet gibt, muss man sie erst einmal finden. Das Internet hat viele Vorteile – wenn die Leute von dir gehört haben und wissen, wo deine Website ist. (Lacht) Dann können Sie sich deine Musik herunterladen. Aber wenn jeder neue Musiker ins Internet geht, gibt es dort so viele Künstler, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht.

KW: Produziert die Musikindustrie nicht sowieso viel zu viele Platten?

David Bowie: Ja, natürlich. Eine Menge junger Talente wird völlig übersehen, weil man sie nie hören wird können. Das ist tragisch, aber es ist so. Wir haben heute eine gigantische Massenproduktion, weil Musik nur noch eine Karrieresache ist. Du kannst Banker werden oder Taxifahrer oder in einer Rockband spielen. Musik ist nicht mehr revolutionär. Das Internet selbst ist eine Revolution. Ein neues Transportmedium von Information, das völlig neue, aufregende Möglichkeiten eröffnet. Wäre ich heute 19 Jahre alt, würde ich lieber mit dem Internet arbeiten als Musik zu machen. Musik erzeugt und transportiert kaum noch revolutionäre Ideen.

KW: Beim Hören der Songs ihres neues Albums Hours … hatte ich den Eindruck, dass Sie darin zwar nicht ihr Herz ausschütten, aber mehr von sich preisgeben als auf früheren Platten?

David Bowie: Ja, das stimmt. Aber ich habe auch früher nie groß Geheimnisse gemacht über mein Leben. Ich habe es nur privat gehalten. Dieses Album war insofern schwierig zu schreiben, weil ich eine bestimmte Angst und einen Schmerz einfangen wollte, den viele Menschen meiner Generation fühlen. Ich selbst hatte aber (lacht) eine wirklich gute Zeit in den letzten zwölf Jahren. Mein Leben war fantastisch, weil ich meine Frau Iman kennengelernt habe, die richtige Person, mit der ich mein Leben teilen kann. Seit den späten 1980ern bin ich sehr glücklich. Und nicht nur privat, auch als Künstler ist seither alles ziemlich gut für mich gelaufen. Ich habe das Gefühl, dass alle Platten, die ich in den Neunzigern gemacht habe, meinen besten Fähigkeiten zum Zeitpunkt ihrer Produktion entsprechen.

KW: Das „Ich“ in den Songs meint also nicht unbedingt Sie? Und die  Person, die sich in Thursday’s Child in den Schlaf weint, sind Sie auch nicht selbst?

David Bowie: (Lacht) Nein, ich habe beim Schreiben der Songs mehr wie ein Schriftsteller gearbeitet. Ich musste mich bei Bekannten und Freunden umsehen und schildern, wie sie ihr Leben empfinden – als eine Serie von Fehlern, zerbrochenen Beziehungen, verpassten Gelegenheiten und Sachen, die sie lieber anders gemacht hätten. Ich selbst bereue nichts, was ich getan oder auch nicht getan habe in meinem Leben. Ich denke sowieso nicht viel über meine Vergangenheit nach und auch nicht über die Zukunft, ich halte mich lieber an die Gegenwart.

KW: Manche Textzeilen erinnern aber stark an Ereignisse oder Personen aus ihrem Leben?

David Bowie: Na ja, bei manchen Stellen habe ich schon auf bestimmte Dinge in meinem Leben zurückgegriffen. Aber da musste ich ziemlich weit zurückdenken, um solche Situationen zu finden und sie in einen Song einbauen zu können.

KW: Sie sagen, Sie wollten für Hours … Songs über Menschen ihres Alters schreiben. Das ist bei in die Jahre gekommenen Rockmusikern nicht gerade üblich. Mick Jagger schreibt immer noch Songs, die der Befindlichkeit eines viel Jüngeren entsprechen.

David Bowie: Interessanterweise mag mein Sohn dieses neue Album sehr, obwohl er gerade mal 27 Jahre ist. Es ist ihm viel lieber als z.B. 1. Outside, sagt er, weil die Songs eine Beziehung zu seinem Leben hätten. Das hat mich überrascht, aber wahrscheinlich geht es in den Songs auch um allgemeine menschliche Ängste und Bedürfnisse. Ich war jedenfalls froh, dass er Hours … nicht nur für die Platte eines alten Mannes hält. Vielleicht hat das umgekehrt damit zu tun, dass Menschen meines Alters oft so fühlen wie junge Leute. Obwohl man, wenn man selbst Zwanzig ist, kaum glauben kann, dass ältere Leute auch noch menschliche Wesen sind.

KW: Wie kommen Sie selbst mit dem Älterwerden klar?

David Bowie: Ich hoffe, ich gehe damit verantwortungsvoll um. (Lacht) Was immer das heißen mag. Es gibt da ein Wohlgefühl, das man einem jüngeren Menschen nur schwer beschreiben kann. Vor allem, wenn man wie ich Glück und Erfolg hatte und ein gewisses Werk geschaffen hat. Obwohl man mit dem Älterwerden auch realisiert, dass die Arbeit selbst gar nicht so wichtig ist. Was immer mehr an Bedeutung gewinnt, sind die Beziehungen zu anderen Menschen, deine Familie und die Art, wie du mit jedem einzelnen Tag zurechtkommst. Es ist wichtig,  wenn man ins Bett geht, sagen zu können, besser hätte ich an diesem Tag nicht leben können. Und je mehr du so bewusst in der Gegenwart lebst, desto geringer werden auch deine Ambitionen und Ego-Probleme.

KW: Was treibt Sie dann an, weiter Songs zu schreiben und Platten zu produzieren?

David Bowie: Ich nehme jeden Tag voll in mich auf. Deswegen gibt es immer  ein Thema für mich, über das ich nachdenken und schreiben kann. Ich interessiere mich einfach für die Leute um mich herum und die Kultur und die Gesellschaft, in der ich lebe. Ich habe mir eine kindliche Neugierde bewahrt und eine gewisse Naivität. Das hilft mir ungemein, mich immer wieder neu zu stimulieren. Wie könnte mir da nichts mehr einfallen?

Ende. Die dreißig Minuten plus vielleicht sechs, sieben Minuten Nachspielzeit sind um. „Warum haben Sie mich nicht gefragt, was aus meinem Projekt für die Salzburger Festspiele geworden ist“, fragt David Bowie, als wir uns verabschieden. Er scheint gut informiert über mich, der ich zum Interview aus Salzburg angereist bin. „Ach, es hätte noch so viele Fragen gegeben“, antworte ich. „Das stimmt“, grinst der Mann, der endlich auf dem Planeten Erde angekommen zu sein scheint.

(Veröffentlicht in: Libro Journal, Oktober 1999, komplett überarbeitet im Jänner 2024)

Record Collection N° 161: John Lennon & Yoko Ono “Double Fantasy” (Geffen Records, 1980)

„Double Fantasy“ war das letzte Album von John Lennon, das kurz vor seinem Tod veröffentlicht wurde, und das er sich mit Yoko Ono, der Liebe seines Lebens, teilte. Eine Herzensangelegenheit.

Double Fantasy war John Lennons erstes Album nach fünf Jahren, in denen er sich als Hausmann ins Dakota Building In Manhattan zurückzog, den Haushalt führte, makrobiotisch kochte und sich um ihrer beiden kleinen Sohn Sean Ono kümmerte, während Yoko Ono in ihrem Büro ein paar Stockwerke weiter unten Geschäfte machte. Die Kritiken für Double Fantasy waren als am 17. November 1980 im United Kingdom und in den USA veröffentlicht wurde, nicht gerade berauschend. Vor allem, weil es sich nur um ein halbes neues Album von John Lennon handelte, da Lennon sich das Album mit Yoko Ono, der Liebe seines Lebens, teilte. Auf der Innenhülle der Platte stand über den abgedruckten Songlyrics: DOUBLE FANTASY – A Heart Play by John Lennon & Yoko Ono.

Auf jeden der sieben Songs von John folgte einer von Yoko, teils direkte Antworten auf den Song von John davor. Mit Hard Times Are Over, hat Yoko, die John “Mutter” nannte, das letzte Wort auf Double Fantasy. Im Roman Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens (2020) des US-Autors Tom Barbash, einer spannenden Mischung aus Realem und Erfundenem, lebt der junge Ich-Erzähler mit seiner Familie im Dakota Building, wo John Lennon und er Freunde werden. Über Double Fantasy denkt der junge Mann so: „Es hieß so, weil er und Yoko wollten, dass das Album nur zur einen Hälfte aus seinen Songs bestand und zur anderen aus ihren. Ich war nicht der Einzige, den diese Neuigkeit enttäuschte.“

Dem deutschen Autor Frank Goosen geht es in seiner Beatles-Huldigung in der KiWi-Musikbibliothek (2020) ähnlich: „Auf der Platte wechselten sich Songs von John Lennon und Yoko Ono ab. Ich kann nicht sagen, dass mich das begeisterte.“ Weil Goosen die Songs von John Lennon auf Double Fantasy aber toll fand, stellte er nach Erscheinen des 1984 posthum veröffentlichten Albums Milk and Honey, auf dem es wieder im Wechsel Stücke von John und Yoko gab, eine Seite einer C90-Cassette mit allen John Lennon Songs von beiden Platten zusammen. Heute hätte er, so schreibt Goosen, diese Lennon 80 Playlist immer noch auf seinem iPhone.

Natürlich habe ich so etwas auch versucht, und eine Playlist mit den sieben Lennon-Songs von Double Fantasy und den sechs Lennon-Songs von Milk and Honey, darunter starke Stücke wie I’m Stepping Out, Nobody Told Me oder Borrowed Time und die berührend fragile Klavierballade Grow Old With Me, zusammengestellt. Mit diesen dreizehn Songs wäre Double Fantasy wohl ein klasse Comeback-Album von John Lennon geworden. Und zugleich ein hell strahlendes Signal in Richtung einer würdigen Zukunft, wenn nicht geschehen wäre, was am 8. Dezember 1980 geschehen ist. Aber Lennon wollte so ein Comeback-Album eben nicht. Und ich muss zugeben, beim Hören meiner Lennon 1980-Playlist, in der ich am Ende auch noch seine Double-Fantasy-Songs in der Stripped-Down-Version von 2010 drangefügt habe, fehlt mir Yoko Onos oft hysterischer (in Kiss Kiss Kiss echt orgiastischer) Avantgarde-Pop dann doch – irgendwie.

In ihrer tiefenentspannten Gelassenheit und liebevollen Sanftheit waren John Lennons Songs und das konsequente des Double-Fantasy-Konzepts aber ebenso radikal, wie die Beatles wegen Yoko in die Luft zu sprengen, danach zum friedensbewegten Power-To-The-People-Agitator zu werden und auf seinem ersten richtigen Soloalbum in einer musikalischen Psychotherapie seine Seelenqualen bloßlegte.

Mit dem modernen amerikanischen Rockmusik-Produzenten Jack Douglas (Cheap Trick, Aerosmith) und Topmusikern wie den Gitarristen Earl Slick (David Bowie) und Hugh McCracken (Steely Dan, Billy Joel, Paul McCartney), dem Bassisten Tony Levin (Peter Gabriel, Paul Simon, Lou Reed) oder dem Schlagzeuger Andy Newmark (Roxy Music, Pink Floyd, David Bowie) führte John Lennon auf Double Fantasy die schon mit dem 1973er Album Mind Games begonnene Amerikanisierung seines Sounds konsequent fort.

Viele seiner Songs auf Double Fantasy und Milk and Honey schrieb John Lennon nach einem gefährlichen Segel-Turn, der seine kreativen Kanäle wieder geöffnet hatte, auf den Bahamas. Lennons Lyrics lesen sich wie schon seit Beatles-Zeiten oft wie Tagebucheintragungen. Im modernisierten Doo-Wop von (Just Like) Starting Over passiert genau das, was der Songtitel sagt. In Watching The Wheels bekennt er, dem Weltentreiben jetzt mal gelassen zuzusehen. Im so kraftvoll wie seine früheren Soloplatten rockenden I’m Losing You, gesteht er, Yoko untreu gewesen zu sein. Woman ist eine von Herzen kommende Liebeserklärung an Yoko und die Frauen der Welt, eine beachtliche Wandlung für den misogynen Macker, der Lennon früher gewesen sein soll. Im funky Rhythm & Blues-Kracher Cleanup Time besingt John seine und Yokos neue Häuslichkeit. Im beschwingten Dear Yoko beschwert er sich aber, dass Yoko zu wenig Zeit mit ihm verbringe. Im wunderbar frohen Wiegenlied Beautiful Boy (Darling Boy) singt Lennon nicht nur eine seiner besten Textzeilen („Life is what happens to you while you‘re busy making other plans“), er deklariert auch seine grenzenlose väterliche Liebe für seinen und Yokos Sohn Sean, eine väterliche Liebe, die John selbst nie kennengelernt hatte.

Nicht wenige Kritiker verrissen Double Fantasy, als es 1980 veröffentlich wurde. John Lennons Ermordung nur drei Wochen später änderte die Einschätzung (und auch den kommerziellen Erfolg) der Platte schlagartig. Und je mehr Zeit vergeht, desto heller strahlt die Schönheit von Double Fantasy, und ehrlich noch mehr jene von John Lennons Liedern auf der Platte.

Ich habe mit Sicherheit keine andere Platte so oft ohne Pause gehört wie Double Fantasy, in den Wochen nachdem John Lennon so tragisch ums Leben gekommen ist. Vielleicht auch weil ich unterschwellig dachte, die schreckliche Tat vom 8. Dezember 1980 so ungeschehen machen zu können.

John Lennon & Yoko Ono Double Fantasy, Geffen Records, 1980

© Double Fantasy Pics photographed by the author

Record Collection N° 162: John Lennon “Gimme Some Truth” (Universal Music International, 2020)

Eine allerfeinst zusammengestellte, kraftvoll und brillant klingende Kollektion der Solosongs von John Lennon  nach der Trennung der Beatles. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

Die erste Best-Of-Sammlung von John Lennon, Shaved Fish, war die einzige die zu Lennons Lebzeiten 1975 veröffentlicht wurde. Und sie sollte für eine lange Zeit auch die beste bleiben, obwohl nach der Ermordung des Ex-Beatle im Dezember 1980 eine Vielzahl an Lennon-Kollektionen erschienen ist, darunter die formidablen Working Class Hero: The Definitive Lennon (Doppel-CD, 2005) und Power To The People: The Hits (CD/DVD, 2010).

Mitunter waren das aber lieblos zusammengeschusterte Einzel-CDs oder überbordende Box Sets, die man interessehalber vielleicht ein paarmal hört und dann nie wieder, und sie verstauben im Regal. Auch von Gimme Some Truth, das zum 80. Geburtstag von John Lennon erschienen ist, gibt es gleich mehrere Editionen mit so vielen CDs oder LPs, das man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Übrigens hat es bereits 2010 eine pralle 4-CD-Box gleichen Namens gegeben, die ambitioniert wirkte, aber erneut mehr etwaswas für Sammlerregale war statt häufig gespielt zu werden.

Bei Gimme Some Truth anno 2020 machen zwei Fakten den Unterschied: Erstens wurden die 36 Songs dieser 2-CD-Deluxe-Edition von Johns Sohn Sean und Yoko Ono persönlich ausgewählt. Und es ist fast alles mit dabei, was für das Beste von John Lennon dabei sein sollte.  Ob Singles oder Albumtracks, die meisten sind natürlich sehr bekannt, aber oho: Give Peace A Chance, Cold Turkey, Instant Karma!, Power To The People, Gimme Some Truth, Jealous Guy und Imagine bis Whatever Gets You Thru The Night, Stand By Me, (Just Like) Starting Over, Watching The Wheels, Woman, Losing You oder Nobody Told Me erzählen John Lennons Geschichte nach der Trennung der Beatles. Das Spektrum seiner Themen – Seelenschmerz, Liebe, Friede, Religion, Rassismus, Politik, Anti-Beatles – ist präsent. Auch wenn sein ultimativer Trauma-Song Mother ebenso wie Woman Is The Nigger Of The World aus welchen Gründen immer weggelassen wurde, auf Working Class Hero war er 2005 jedenfalls noch zu finden. Dafür gibt es mit der Angela (über die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis) von Some Time In New York City und Angel Baby, ein Outtake der Aufnahmesessions des 1975er Album Rock ’n‘ Roll, zwei nicht so oft gehörte Songs von John Lennon.

Zweitens ist der remasterte Sound, der unter der Ägide von Sean Lennon abgemischt wurde und von der Plattenfirma als „Ultimate Remixes“ beworben wird, eine Offenbarung. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

John Lennon Gimme Some Truth, Universal Music International, 2020

Record Collection N° 130: John Lennon „John Lennon/Plastic Ono Band” (Apple Records, 1970)

Das erste Soloalbum von John Lennon nach dem Ende der Beatles, auf dem er sich seine inneren Qualen und Dämonen von der Seele schreit. John klingt, als ob seine Stimmbänder und sein Herz vor dem Mikrophon geblutet hätten.

Wenn man sich Peter Jackson’s phänomenale neue Dokumentation The Beatles: Get Back ansieht, ist unschwer zu erkennen, dass der Beatle John Lennon im Jänner 1969 alles andere glücklich ist, und nicht so recht eins mit sich selbst zu sein scheint. Dem ersten Soloalbum von Lennon waren die famosen Singles Give Peace A Chance, Cold Turkey und Instant Karma sowie das mit der Plastic Ono Band aufgenommene Livealbum Live Peace In Toronto 1969 vorangegangen. Nachdem sich die Beatles im April 1970 nach dem Ausstieg von Paul McCartney schlussendlich getrennt hatten, folgte am 11. Dezember 1970 mit John Lennon/Plastic Ono Band Johns erstes Soloalbum, seine kraftvollste, aufwühlendste, vielleicht auch berührendste Soloplatte, die einer Operation am offenen Herzen gleichkommt.

1970 war John Lennon einer der berühmtesten Männer auf dem Planeten Erde. Mit den Beatles hatte der Dreißigjährige in den 1960er Jahren die Popmusik revolutioniert. Bestärkt von seiner zweiten Frau, der japanischen Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono, engagierte er sich gegen Ende des Jahrzehnts in politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und wurde zu einer Art Gewissen des Rock’n’Roll – eine Bürde, die ihm ebenso zu schaffen machte wie der gigantische Erfolg der Beatles.

Im April 1970 nach der offiziellen Trennung der Beatles, flogen John und Yoko wenige Tage später nach Los Angeles, um sich einem besonderen Krisenherd zu widmen: John Lennons Psyche. Dass John Lennon nicht nur ein energiegeladener, schlagfertiger, selbstsicherer Mann war, schimmerte schon in Beatles-Songs wie I’m A Loser oder Help durch. Doch bei den Beatles verzierte Lennon seine Bekenntnisse noch mit gedrechselten witzigen, oft sarkastischen Wortspielen und oft aufwändigen musikalischen Arrangements. Um mit seinen inneren Dämonen zurecht zu kommen, unterzogen sich John und Yoko beim Therapeuten Dr. Arthur Janov aber einer Urschrei-Therapie, um die  tiefsten Wurzeln für seine persönlichen Probleme noch einmal zu durchleben und so ein besseres Selbstwertgefühl zu erlangen. Nebenbei schrieb John Lennon in Los Angeles in vier Monaten über dreißig neue Songs.

Zurück in London im Herbst 1970 führte John Lennon (Gesang, Gitarre, Klavier) die Urschrei-Therapie musikalisch fort. Unterstützt von der Plastic Ono Band mit Yoko Ono (Inspiration, Co-Produzentin), Ringo Starr (Schlagzeug), Alan White (Schlagzeug), Klaus Voormann (Bass), Billy Preston (Keyboards) und dem legendären 1960er-Jahre-Produzenten Phil Spector. Sein Gesang auf John Lennon/Plastic Ono Band gehört zu den intensivsten, leidenschaftlichsten vokalen Darbietungen des Rock’n‘Roll. Er klingt, als ob seine Stimmbänder und sein Herz vor dem Mikrophon geblutet hätten. Die Songs selbst haben simple Melodien, karge Arrangements, oft einen lauten, rauen Sound, starke Gefühle und brutal autobiographische Songtexte. In einer bis dahin nicht gekannten Offenheit und emotionalen Radikalität sang Lennon, was er in der Seele spürte, und versuchte der ihn erstickenden Verbitterung zu entkommen.

In Mother geht es um seine traumatische Kindheit und Jugend ohne Vater, und einer zu früh verstorbenen, abgöttisch geliebten Mutter. In Hold On John spricht er über einer berückenden Tremologitarre sich und Yoko, aber auch dem Hörer Mut zu, man müsse durchhalten, bis es am Ende des finsteren Tunnels wieder lichter wird. In I Found Out wettert Lennon über Ringo Starrs mächtigem Getrommel, dem heftig pumpenden Bass von Klaus Voormann und seiner eigenen widerspenstigen, schrillen Gitarre über das, was ihm gerade so gegen den Strich geht. Working Class Hero hat eine starke politische Botschaft, es geht um die seelischen  Verstümmelungen, die den Menschen generell so im Laufe des Lebens zugefügt werden, und um die Ausbeutung der Arbeiterklasse im speziellen. In der hypnotischen Klavierballade Isolation offenbart Lennon seine Angst vor Einsamkeit, und sehnt sich nach innerer Ruhe und Glück. In Remember ermahnt er sich, sich nicht von der Vergangenheit unterkriegen zu lassen. Love meditiert zauberhaft über die Natur der Liebe, zugleich ist die anrührende Klavierballade ein Liebeslied für Yoko.

Well Well Well hat etwas vom Bluesrock von I Want You (She’s So Heavy) auf Abbey Road, Lennon schwadroniert über Sex und Politik, und das schlechte Gewissen, es sich als reicher Liberaler in der Sonne gut gehen zu lassen, schließlich eskaliert alles in einer Schreiorgie. Look At Me hingegen ist ein zartes, charmantes Geflüster zwischen Liebenden, auf den Spuren der von Lennon für das White Album der Beatles in Indien geschriebenen Akustikgitarrenballaden (Dear Prudence, Julia). Im großen musikalischen Drama von God schreit Lennon alle Mythen raus, an die er nicht (mehr) glaubt: Gott, die Bibel, Buddha, Yoga, Elvis, Zimmerman (Dylan), die Beatles, Hitler, Jesus, Kennedy (J.F.K.) und so fort. Er glaube nur noch an sich selbst, so Lennon, an Yoko und sich selbst. Der Traum sei vorbei. Er sei das das Walross gewesen, jetzt wäre er nur noch John. Punkt. Der Schlusssong My Mummy’s Dead, ein fragiles Kinderlied, ist mit all seinem Schmerz kaum zu ertragen. Eine offene Wunde, wie sie auch das blutige Attentat eines irren Fans auf John Lennon am 8. Dezember 1980 in New York für immer in dieser Welt hinterlassen hat.

John Lennon John Lennon/Plastic Ono Band, Apple Records, 1970

Record Collection N° 33: The Beatles „Please Please Me“ (Parlophone, 1963)

„One, two, three, four!“ – Als Paul McCartney auf „Please Please Me“, dem 1963er Debütalbum der Beatles, eine Zeitenwende einzählte: den Urknall von Pop- und Rockmusik und den gesellschaftlichen Umbruch und Modernsierungsschub der 1960er Jahre.

„One, two, three, four!“ – Der 20-jährige Paul McCartney zählte so nicht nur den elektrisierenden Beat-Kracher I Saw Her Standing There, den Auftaktsong des Debütalbums der Beatles, ein – er behauptete später, eigentlich hätte er „One, two, three, f..k!“ gezählt. Pauls kecke Ansage ist jedenfalls die Initialzündung für den Urknall der Pop- und Rockmusik. Und für den gesellschaftlichen Umbruch und Modernisierungsschub der 1960er Jahre. Mit Please Plase Me  erfanden die Beatles die Beatmusik, also den Sound wie eine Rock- und Popband ab sofort klingen sollte. Energiegeladene Schlagzeug-Beats, melodiös pumpende Bassläufe, das scharfe, dynamische Duo von Rhythmus- und Sologitarre, leidenschaftlicher Gesang und betörende Gesangsharmonien.

Zehn der der 14 Songs von Please Please Mew wurden mit dem für die EMI arbeitenden Musikproduzenten George Martin, einem typisch britischen, vornehmen Gentleman, binnen zehn Stunden am 11. Februar 1963 in den Londoner Abbey Road Studios aufgenommen – obwohl die Beatles eigentlich gerade auf einer Tournee mit der englischen Popsängerin Helen Shapiro waren. Die Aufnahmen wurden aber rasch wegen des ersten britischen Nummer-1-Hits der Beatles, Please Please Me, angeordnet, mit dem sich die vier Musiker aus Liverpool sofort von den vielen anderen britischen Gitarrenbeatbands absetzen konnten, die Anfang der 1960er diesseits des Atlantiks beim Rock & Roll von Elvis Presley Feuer gefangen hatten.

Ihren rauen, furiosen Stromgitarren-Rock & Roll hatten die Beatles in Hunderten von Live-Auftritten in kleinen Szene- und Kellerlokalitäten wie dem Cavern Club in ihrer Heimatstadt Liverpool oder dem Star Club in Hamburg von der Pike auf gelernt, ebenso die schmusigen Herzdrückballaden zum Verschnaufen zwischendurch. Auf der Plattenhülle der von einer deutschen Programmzeitschrift „Hör Zu“ herausgegebenen Sonderauflage von Please Please Me lockte der Werbespruch „Die zentrale Tanzschaffe der weltberühmten Vier aus Liverpool“. Falsch war das nicht, denn selbst zu den langsameren Songs auf der Platte ließ sich ob ihres lässig schäkernden Grooves gut tanzen.

Die englische Originalhülle zeigte das legendäre Foto der Fab Four im Stiegenhaus des Londoner EMI-Hauptquartiers. Ende der 1960er stellten die Beatles mit langen Haaren und Bärten das Foto noch einmal nach – für das Cover des letztlich nicht realisierten Get Back-Albumprojekts. Auf der Cover-Rückseite die schlichte Vorstellung der vier jungen Musiker, man beachte die Reihenfolge: George Harrison (Sologitarre, noch keine 20 Jahre alt), John Lennon (Rhythmusgitarre, 22), Paul McCartney (Bassgitarre, 20), Ringo Starr (Schlagzeug, 22).

Vier Namen, die man sich fortan merken sollte. Ihr explosiver Mix aus Rock & Roll-Krachern und Schmachtfetzen – aus acht klasse Eigenkompositionen und sechs gut gewählten fremden Songs aus ihrem erprobten Live-Programm – kündigte Großes an. Eingerahmt wird Please Please Me von zwei der zündendsten Dynamitrocker, die die Beatles je aufgenommen haben. Das selbst geschriebene I Saw Her Standing There geht gleich zu Beginn gewaltig los. Die Lichter bläst am Ende der welterschütternde Rock’n’Roll von Twist and Shout aus, das sich die Beatles genauso selbstverständlich zu Eigen machen wie alle anderen Coverversionen der Platte.

Während John Lennon sich ohne Rücksicht auf seine malträtierten Stimmbänder durch Twist and Shout schreit, schmachtet er auch Burt Bacharachs Baby It’s You mit großer Leidenschaft. Paul McCartney kehrt in A Taste Of Honey schon einmal den charmant charismatischen Romantike hervor, allerdings einen mit rauer Schale. Und der von Carole King geschriebene Girl-Group-Hit Chains wird von John, Paul & George mit perlendem Harmonie-Gesang vorgetragen, der auf den 2009er Beatles-Remasters noch brillanter strahlt.

Die Gesangsparts zählen neben Bass und Schlagzeug zu den großen Gewinnern der 2009er Remasters des gesamten Beatles-Katalogs. Welche Nuancen der kraftvoll klare, transparenter abgestimmte Sound jetzt hörbar macht, tritt auch in Boys zu Tage, das Schlagzeuger Ringo singt. Die Rhythmus-Gruppe mit Ringo Starrs dynamischem Getrommel und Paul McCartneys druckvollem, hochmelodiösem Bassspiel ist eine Offenbarung und auch George Harrisons schneidige Sologitarre fetzt voll in der Manier von Country-Gitarrist Chet Atkins. Die Eigenkompositionen, die hier übrigens noch dem Duo McCartney/Lennon zugeschrieben sind – ab dem zweiten Album With The Beatles sollte es Lennon/McCartney heißen –, werden von den beiden Hitsingles Love Me Do und Please Please Me angeführt – zwei famose Rock’n’Roller, denen Misery oder There’s A Place nicht nachstehen. Süßlich säuselnd hingegen die Balladen P.S. I Love You, Ask Me Why und das von George Harrison gesungene Do You Want To Know A Secret.

Die 1987er CD-Ausgabe brachte die ersten vier Alben der Beatles im klassischen Mono-Sound, der stumpf und dumpf aus den Lautsprechern kam. Die 2009er Remasters präsentieren dagegen erstmals George Martins Stereo-Mix aus den 1960ern auf CD – mit der  gewöhnungsbedürftigen Links-/Rechts-Aufteilung von Instrumenten und Stimmen, die in vollem Effekt aber schon enormen Druck machen kann. Die in der The Beatles In Mono-Box neu remasterte, originale Monoversion klingt aber noch energiegeladener, rauer, wilder – voll auf den Punkt. Ganz abgesehen davon, dass die Beatles selbst aus dem läppischsten Plastikradio und der stumpfesten Küchenmaschine noch hinreißend rausrocken – so gut wie anno 2009 haben die Beatles seit den alten Vinyl-Platten der 1960er Jahren nicht mehr geklungen.

Please Please Me ist auch Jahrzehnte nach seinem Entstehen noch taufrisch, voll Charisma, jugendlicher Energie und unwiderstehlichem Enthusiasmus.

The Beatles Please Please Me, Parlophone, 1963/2009

© Please Please Me pics taken by the author.

Record Collection N° 145: Bob Marley & The Wailers „Catch A Fire” (Island Records, 1973)

Das im April 1973 veröffentlichte Album Catch A Fire  begründete Bob Marleys globalen Ruhm. Aber die internationale Version, die in London entstanden ist, unterscheidet sich von der schon 1972 in Kingston, Jamaika aufgenommenen Version.

Im Ghetto-Song Concrete Jungle schrauben sich über dem pulsierenden Rhythmus die klaren Gesangsharmonien von Bob Marley, Peter Tosh und Bunny Livingston empor: „No sun will shine in my day today …“ Aufgenommen wurden ihre Stimmen in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston, wo The Wailers 1972 ihr Debüt für Chris Blackwells Label Island einspielten. Die geschmeidigen Gitarrenläufe und das hart rockende Solo, die den ersten Song auf Catch A Fire ebenso prägen wie die Stimmen der Wailers wurden Monate später in London hinzugemischt. Dort unterzog Blackwell die von Marley mitgebrachten Bänder einer subtilen Soundpolitur, um die Reggae-Musik auch dem weißen Rockpublikum näher bringen zu können.

Chris Blackwells Idee war die große Chance für die Wailers. Ihre in den frühen 1960er Jahren mit fetzigem Ska gestartete Karriere stagnierte. Um die Jahrzehntwende produzierten sie mit dem legendär bekifften Produzenten Lee Perry eine Reihe jamaikanischer Hits wie Trenchtown Rock, abseits Jamaikas blieb ihre Musik aber ohne größere Resonanz. Blackwells dynamischer Mix eröffnete eine neue Dimension: Der Gitarrist Wayne Perkins gab nicht nur Concrete Jungle einen Kick, er zauberte auch die hypnotisch flirrenden Töne in Stir It Up aus seiner Steelgitarre. Der britische Keyboarder John Bundrick sorgte mit Synthesizer und Orgel für intensive  Klangfarben und gab No More Trouble das an Stevie Wonder erinnernde Klavinett-Riff.

Auf dem originalen stylishen Cover, der Nachbildung eines Zippo-Feuerzeugs, wurden nur die Namen der Wailers genannt.Es brauchte  bis 2001, dass allen beteiligten Musikern ihre Credits gewährt wurden. Auf der in diesem Jahr veröffentlichten Deluxe Edition von Catch A Fire konnte man zum ersten Mal auf einer zweiten CD auch die Originalversionen der Songs hören – so wie die Wailers sie 1972 in Kingston, Jamaika aufgenommen hatten. Zudem gibt es mit High Tide Or Low Tide und All Day All Night hier auch die beiden souligeren Stücke, die Chris Blackwell damals nicht auf dem Album haben wollte. Die ursprünglichen Aufnahmen verzichten auf raffinierte Klangeffekte und setzen auf einen simplen, raueren und intimeren Sound. Der lose, weitschweifige one drop rhythm der Barrett Brüder pumpt hypnotisch aus den Boxen, Peter Toshs monoton minimale Gitarrenriffs und die süßen, aber messerscharfen Gesangssätze schneiden durch die dicken Ganja-Schwaden. Kinky Reggae – ein gedämpfter, cooler Groove mit spirituellen Vibes.

Neben Bob Marley als dem Hauptsongschreiber und Leadsänger steuerte Peter Tosh zwei Songs bei, 400 Years und Stop That Train, welche die Verbrechen der Sklaverei anklagten. Mit den ausnahmslos starken Songs wurde Catch A Fire zum ersten richtigen Album des Reggae, der zuvor vor allem auf die Veröffentlichung von Singles konzentriert war. Die Kritik an der Unterdrückung und Ausbeutung der entrechteten Dritte-Welt-Bevölkerung, die urbanen Getto-Stories und die leidenschaftliche Liebeslyrik bewirkten, dass der charismatische Bob Marley bald mit Songschreibern wie Bob Dylan, Stevie Wonder oder Curtis Mayfield verglichen wurde. Innerhalb der Wailers kam es zu Eifersüchteleien und Machtkämpfen. Ein Jahr und ein weiteres Album später hatten Peter Tosh und Bunny Livingston die Band schon verlassen: Bob Marley setzte seinen Weg mit den neu formierten Wailers fort.

Das Album: Catch A Fire

Aufgenommen 1972 in Kingston, Jamaika, und London, England.  Veröffentlicht: 13. April 1973. Chartsplazierung: Keine (England), 171 (USA). Band: Bob Marley (Gesang, Akustikgitarre), Peter McIntosh, später Tosh (Piano, Orgel, Gitarre, Gesang), Bunny Livingston (Congas, Bongos, Gesang), Aston Barrett (Bass), Carlton Barrett (Schlagzeug) sowie John Bundrick (Synthesizer, Orgel), Wayne Perkins (Leadgitarre) u.a. Produzenten: Bob Marley & The Wailers & Chris Blackwell.

Bob Marley & The Wailers Catch A Fire, Island Records, 1973

© Catch A Fire Pics shot by the author.

Record Collection N° 139: The The „Soul Mining” (Epic, 1983)

Vor rund vierzig Jahren erschien mit „Soul Mining“ eines der besten Pop-Alben der 1980er Jahre. Es war Matt Johnsons erstes Album unter dem Spitznamen The The und ist ein Selbstporträt des Künstlers als nachdenklicher junger Mann – gequält von emotionalen Schwankungen, Sehnsüchten, Weltschmerz und gerettet von der heilenden Kraft der Popmusik.

Wenn der Morgen graut, und die Nadel sich in die Plattenrille senkt und der Countdown beginnt: „Six, five, four, three, two, one … zero!“, knistert es und schon detoniert der erste Beat. „All my childhood dreams are bursting at the seams“, röchelt der Sänger, ein schmächtiger, blasser Bursche, der den schmerzvollen Blues vom Erwachsenwerden singt. Ein dreiundzwanzigjähriger Melancholiker, der auf der Suche nach seiner verlorenen Jugend und irgendeinem Sinn in seinem Leben ist: „I’ve been waiting for tomorrow / All of my life.“ Eine drückende Katerstimmung schiebt sich über das Morgengrauen. „You didn’t wake up this morning / Because you didn’t go to bed”, grübelt Matt Johnson mit tiefer, rauchiger Stimme in This Is The Day, dem zentralen Song von Soul Mining. „Du hast beobachtet / Wie das Weiße in deinen Augen rot wird”, sinniert er weiter und schmachtet eine verführerische Melodie wie aus einem Chanson.

Paris stand bei der britischen Popintelligenz in den frühen 1980ern hoch im Kurs, Songs wurden in Anlehnung an Romane von Camus geschrieben, Alben nannte man Café Bleu, postmoderne französische Philosophen wurden für den theoretischen Überbau zitiert. Die Musik schwankt zwischen düsteren, pessimistischen Post-Punk-Experimenten, Lärmexzessen und  strahlender, geiler Pop-Euphorie. Am Grad zwischen Depression und Glückseligkeit balancierend, produziert Matt Johnson, ein genialischer britischer Songschreiber, Lyriker, Multiinstrumentalist und Sänger, sein zweites Album Soul Mining. In der offiziellen Diskografie gilt sein Debütalbum Burning Blue Soul von 1981 heute als erste Platte von The The, es gibt seit 2004 auch eine Neuauflage mit eigenem Cover im punkig-expressiven Grafikstil der ersten The-The-Platten, erschienen ist es damals aber unter Matt Johnsons Namen, klarer Fall von Geschichtsklitterung.

Soul Mining ist und bleibt Matt Johnsons erstes Album unter dem Firmennamen The The, inzwischen ist die Ende der 1970er Jahre gegründete Band wieder ein Einmannbetrieb mit Gastmusikern. „Der Kalender an der Wand zählt die Tage runter“, brummt die Raucherstimme, während ein Akkordeon und eine Fiedel sich über harschen Computerbeats wiegen, und Matt hinabsteigt in das Kellergewölbe seiner Seele. Unterwegs verfängt er sich in Selbstmitleid und Selbstzweifel, versucht sich loszureißen und amüsiert sich königlich über seine Jammerei und über das Wehklagen von allen anderen.

Matt Johnson besingt auf Soul Mining nicht weniger als das Gewicht der Welt, das schmerzlich auf seinen jungen Schultern lastet. Die sieben Songs auf Soul Mining (auf einer CD-Edition ist noch die wunderbare Single Perfect angehängt, die den ersten Vinyl-LPs als 12-Inch-Vinyl beigelegt war) sind verdichtetes Leben und romantische Fiktion. Ein Pop-Album, das den Künstler als nachdenklichen jungen porträtiert Mann – gequält von  Gefühlsschwankungen und brennenden Begierden, bedrängt von seinem Weltschmerz,  gerettet von seinem schwarzen Humor und der heilenden Kraft der Popmusik. „My head is like a junk shop / in desperate need of repair”, heult der Sänger in The Sinking Feeling,  und folgert gewitzt: „Am besten gehe ich gleich wieder ins Bett.“ Matt Johnson verpackt seine emotionale Nabelschau nicht in fragilen Folkrock, tröge Rock-Balladen oder schaurige Industrial-Hämmer, er inszeniert sie lieber als modernen, kraftvoll melodiösen Electro-Pop, der einen voll berührt. „Something always goes wrong / when things are going right“, behauptet er im Titelsong. Das mag so sein. Aber auf Soul Mining läuft gar nichts falsch, doch war Matt Johnson je wieder so gut?

Soul Mining: Aufgenommen von Herbst 1982 bis Frühjahr 1983 in London und New York. Veröffentlicht: Oktober 1983. Charts-Platzierung: 27 (UK). Musiker: Matt Johnson (Synthesizer, Percussion, Gesang), Zeke Manyika (Schlagzeug), Camelle G. Hinds (Bass), Thomas Leer (Synthesizer), Jools Holland (Klavier) und andere. Produzenten: Matt Johnson & Paul Hardiman.

The The Soul Mining, Epic, 1983

Record Collection N° 128: John Lennon „Shaved Fish” (Apple Records, 1975)

Shaved Fish, John Lennons einzige Best-Of-Platte seiner Solojahre in den 1970ern nach Trennung der Beatles, war dem Autor ein treuer Begleiter in seinen Teenagerjahren.

Von John Lennons Musik nach dem Split der Beatlessind eine Unmenge von Compilations veröffentlicht worden, fast alle aber erst nach seinem Tod im Dezember 1980. Zuletzt anlässlich seines 80. Geburtstags Gimme Some Truth in verschiedenen Formaten, obwohl es bereits 2010 eine pralle 4-CD-Compilation mit demselben Namen gegeben hat.

Shaved Fish ist die erste und einzige Best-Of-Platte von Lennons Solojahren nach dem Ende der Beatles, die 1975 auf Apple Records veröffentlicht wurde. Am Cover steht aber gar nicht sein Name John Lennon, bloß Lennon Plastic Ono Band. Das Album eröffnet mit John Lennons erster Solosingle Give Peace A Chance, die 1969 noch zu Zeiten der Beatles veröffentlicht wurde, hier allerdings von fast fünf Minuten Länge auf 58 Sekunden gekürzt wurde und direkt in Lennons Drogenentzugsdrama Cold Turkey übergeht. Darauf folgen mit Instant Karma und Power To The People zwei frühe, starke Singles mit der Plastic Ono Band, und Mother vom ersten Soloalbum Lennons, in dem er sich sein qualvolles Kindheitstrauma, nie wirklich eine Mutter gehabt zu haben, von der Seele schreit. Woman Is The Nigger Of The World, ein von Yoko Ono beeinflusstes, aufrüttelndes feministisches Manifest, beendet die A-Seite von Shaved Fish.

Die B-Seite beginnt mit der utopischen Ballade Imagine, John Lennons bekanntestem, vielleicht zartesten und wundervollsten Song. Darauf folgen der funky Nummer-1-Hit Whatever Gets You Thru The Night, den der Ex-Beatle auch bei seinem letzten Live-Auftritt gemeinsam mit Elton John gesungen hat, die Ballade Mind Games, der Titelsong von Lennons 1973er Album, und das psychedelisch angehauchte #9 Dream vom Album Walls And Bridges von 1974. Am Ende geht Lennons und Yoko Onos Weihnachtshymne Happy Xmas (War Is Over) im Fade Out wieder in Give Peace A Chance über.

Shaved Fish war 1975 ein ganz wichtiger Neuzugang in meiner noch kleinen Plattensammlung, die ich meinen Eltern in einem der ersten Supermärkte am Rande von Linz, wo es auch ein Regal mit Schallplatten gegeben hat, beim Lebensmittelgroßeinkauf herausgeleiert habe. Schallplatten waren neben halbwegs modischen Klamotten der einzige Grund, warum ich diese Einkaufsfahrten mitmachte. Shaved Fish wurde schnell ein treuer Begleiter in meinen Teenagerjahren.

John Lennon Shaved Fish, Apple Records, 1975