Record Collection N° 240: Neil Diamond “The Bang Years 1966-1968” (Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011)

Als Neil Diamond beim Songschreiben seine Muse gefunden hat: The Bang Years 1966-1968 bietet einen Überblick über Neil Diamonds frühes, großartiges Schaffen in den 1960ern – ein wundervoller Mix aus lebensfrohem Pop und schwermütigen Balladen.

The Bang Years 1966-1968 dokumentiert ein faszinierendes frühes Kapitel des im Jänner 1941 in Brooklyn, New York geborenen Sängers und bietet einen Überblick über Neil Diamonds Schaffen in den 1960ern. Mit den 23 hier gesammelten Songs und den ehrlichen autobiografischen Liner Notes von Neil Diamond entsteht ein bewegendes, lebendiges Porträt eines aufstrebenden, endlich etwas reißen wollenden, hungrigen Sängers und Songschreibers, der seinem Talent vertraut, und mit seinen Songs seiner inneren Leere zu Leibe rückt.

Mit 16 bekam Neil Diamond, der Sohn einer polnisch-russischen Einwandererfamilie jüdischen Glaubens, zum Geburtstag eine Gitarre geschenkt. Er wollte Sänger werden und seine eigenen Lieder schreiben. Nach Jahren des Scheiterns versuchte er, das Songschreiberhandwerk im legendären New Yorker Brill Building zu erlernen, einer Hitfabrik, wo professionelle Songschreiber-Teams wie Jerry Leiber und Mike Stoller, Carole King und Gerry Goffin oder Ellie Greenwich und Jeff Barry am laufenden Band wunderbare Pophits komponierten und produzierten. Leider und Stoller etwa Jailhouse Rock oder King Creole für Elvis Presley, King und Goffin Will You Still Love Me Tomorrow von den Shirelles oder The Loco-Motion für Little Eva, Greenwich und Barry Be My Baby oder Baby, I Love Youfür die Ronettes. Ein ähnlich großer Wurf gelang Neil Diamond im Brill Building, wo Ellie Greenwich ihm die Türen geöffnet hatte und Leiber und Stoller ihn als bezahlten Songschreiber unter Vertrag nahmen, aber nicht. Noch nicht.

Mitte der 1960er stand Neil Diamond daher das Wasser bis zum Hals. Als herzlich erfolgloser Möchtegernsänger und Auftragssongschreiber kämpfte er ums künstlerische und finanzielle Überleben. Er war frustriert, weil der Erfolg auf sich warten ließ, er aber schon eine kleine Familie zu ernähren hatte und der Schritt, schlussendlich in einem „normalen“ Job versauern zu müssen, bedrohlich näher rückte.

Nach dem Rauswurf aus dem Brill Building,weil ihm keine Hitkompositionen gelangen, ging Neil Diamond plötzlich der Knopf auf. „Ich setzte mich hin und machte, was ich immer machte, wenn ich glücklich und begeistert war. Ich schrieb Songs, aber dieses Mal nicht einfach Songs, sondern Lieder, die meine echten Gefühle ausdrückten. Es war, als ob ich mein Inneres anzapfte“, notiert Diamond in seinen Liner Notes von The Bang Years. Und er nutzte die Kontakte, die er im Brill Building geknüpft hatte. Ellie Greenwich, der er anvertraut hatte, dass er eigentlich seine eigenen Songs schreiben und singen wollte, empfahl ihn an Atlantic Records weiter, wo er für den von den Atlantic-Bossen gegründeten Ableger Bang Records unter Vertrag genommen wurde.

Die 23 Songs auf The Bang Years, die Neil Diamond 1966 und 1967 für Bang Records aufgenommen hat, wurden großteils von Ellie Greenwich und Jeff Barry produziert, finden sich fast alle auf seinen ersten beiden Alben, und sind hier im originalen Mono-Sound zu hören – ein grandioser Mix aus lebensfrohem, ausgelassenem Pop und üppigen, schwermütigen, aber auch genießerisch schwelgenden Balladen.

Schon Diamonds erste Single Solitary Man, eine Art mürrisch-melancholischer Country-Ballade, knackte im Frühjahr 1966 die US-Charts. „Mein Leben hatte sich damit für immer verändert“, meint Diamond. Mit dem überschäumenden, liebestrunkenen, mit einem Latin Groove gepfefferten Gute-Laune-Song Cherry, Cherry, einem Drei-Akkord-Rock’n’Roll-Wunder, gelang Neil Diamond dann der erste eigene Top-Ten-Hit, während The Monkees mit seinem Knaller I’m A Believer einen Nummer-1-Hit hatten. Solitary Man und Cherry, Cherry stammen von Diamonds 1966er Debütalbum The Feel Of Neil Diamond. Auf beide Songs und etliche andere von The Bang Years wollte Diamond zu Recht in seinen Konzerten nie verzichten.

Auf Cherry, Cherry folgen die theatralische Ballade Girl, You’ll Be A Woman Soon, sein 2. Top-Ten-Hit in den USA, von seinem zweiten Album Just For You (1968), das Jahre später Urge Overkill grandios coverten für den Soundtrack von Quentin Tarantinos Kultfilm Pulp Fiction. Das schwungvolle, schon im später typischen Neil-Diamond-Stil scheinbar schwebende Kentucky Woman, seine letzte Single für Bang Records, vom Oktober 1967, das ein Jahr später von Deep Purple gecovert wurde. Der Rhythm and Blues-Groover Thank The Lord For The Night Time und der stramme Rocker You Got To Me. Neil Diamonds eigene mitreißende Version von I’m A Believer und Red Red Wine, das 1969 ein großer jamaikanischer Reggae-Hit für Tony Tribe war, in den 1980ern in England nochmal für UB 40. Der knackige aufgekratzte, pure Pop von The Boat That I Row, den 1967 die schottische Sängerin Lulu zum Hit machte. Im hymnischen Do It vermag man schon den künftigen Neil Diamond zu hören, beim majestätischen The Long Way Home und dem klingelnden Folkrocker I’ve Got The Feeling (Oh No No) ist es nicht anders. Someday Baby hat den düsteren Beat von Velvet Underground.

Zwischendrin eingestreut sind einige energiegeladene Coverversionen, die von Neil Diamonds Einflüssen künden und alle von seinem 1966er Debütalbum stammen, das zweiteJust For You brachte nur noch selbstverfasste Songs. New Orleans (Gary U.S. Bonds), Monday, Monday (The Mamas and The Papas), Red Rubber Ball (Paul Simon), La Bamba (Ritchie Valens), Hankie Panky (Tommy James and the Shondells, geschrieben von Ellie Greenwich und Jeff Barry).  

Am Ende machen sich Shilo, Diamonds erste große Powerballade, die er mit seiner starken Baritonstimme, festem Einzelgänger-Blick und mächtigen Koteletten grandios präsentiert, und das bluesige The Time Is Now, die B-Seite von Kentucky Woman, schon auf den ernsten, grüblenden Singer-Songwriter-Pfad, den Neil Diamond nach den wenigen Jahren bei Bang Records, wo er wegen künstlerischer und finanzieller Differenzen das Weite suchte, beschritten hat.

Neil Diamond The Bang Years 1966-1968, Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011

© Bang Years Pic by the author.

Record Collection N° 161: John Lennon & Yoko Ono “Double Fantasy” (Geffen Records, 1980)

„Double Fantasy“ war das letzte Album von John Lennon, das kurz vor seinem Tod veröffentlicht wurde, und das er sich mit Yoko Ono, der Liebe seines Lebens, teilte. Eine Herzensangelegenheit.

Double Fantasy war John Lennons erstes Album nach fünf Jahren, in denen er sich als Hausmann ins Dakota Building In Manhattan zurückzog, den Haushalt führte, makrobiotisch kochte und sich um ihrer beiden kleinen Sohn Sean Ono kümmerte, während Yoko Ono in ihrem Büro ein paar Stockwerke weiter unten Geschäfte machte. Die Kritiken für Double Fantasy waren als am 17. November 1980 im United Kingdom und in den USA veröffentlicht wurde, nicht gerade berauschend. Vor allem, weil es sich nur um ein halbes neues Album von John Lennon handelte, da Lennon sich das Album mit Yoko Ono, der Liebe seines Lebens, teilte. Auf der Innenhülle der Platte stand über den abgedruckten Songlyrics: DOUBLE FANTASY – A Heart Play by John Lennon & Yoko Ono.

Auf jeden der sieben Songs von John folgte einer von Yoko, teils direkte Antworten auf den Song von John davor. Mit Hard Times Are Over, hat Yoko, die John “Mutter” nannte, das letzte Wort auf Double Fantasy. Im Roman Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens (2020) des US-Autors Tom Barbash, einer spannenden Mischung aus Realem und Erfundenem, lebt der junge Ich-Erzähler mit seiner Familie im Dakota Building, wo John Lennon und er Freunde werden. Über Double Fantasy denkt der junge Mann so: „Es hieß so, weil er und Yoko wollten, dass das Album nur zur einen Hälfte aus seinen Songs bestand und zur anderen aus ihren. Ich war nicht der Einzige, den diese Neuigkeit enttäuschte.“

Dem deutschen Autor Frank Goosen geht es in seiner Beatles-Huldigung in der KiWi-Musikbibliothek (2020) ähnlich: „Auf der Platte wechselten sich Songs von John Lennon und Yoko Ono ab. Ich kann nicht sagen, dass mich das begeisterte.“ Weil Goosen die Songs von John Lennon auf Double Fantasy aber toll fand, stellte er nach Erscheinen des 1984 posthum veröffentlichten Albums Milk and Honey, auf dem es wieder im Wechsel Stücke von John und Yoko gab, eine Seite einer C90-Cassette mit allen John Lennon Songs von beiden Platten zusammen. Heute hätte er, so schreibt Goosen, diese Lennon 80 Playlist immer noch auf seinem iPhone.

Natürlich habe ich so etwas auch versucht, und eine Playlist mit den sieben Lennon-Songs von Double Fantasy und den sechs Lennon-Songs von Milk and Honey, darunter starke Stücke wie I’m Stepping Out, Nobody Told Me oder Borrowed Time und die berührend fragile Klavierballade Grow Old With Me, zusammengestellt. Mit diesen dreizehn Songs wäre Double Fantasy wohl ein klasse Comeback-Album von John Lennon geworden. Und zugleich ein hell strahlendes Signal in Richtung einer würdigen Zukunft, wenn nicht geschehen wäre, was am 8. Dezember 1980 geschehen ist. Aber Lennon wollte so ein Comeback-Album eben nicht. Und ich muss zugeben, beim Hören meiner Lennon 1980-Playlist, in der ich am Ende auch noch seine Double-Fantasy-Songs in der Stripped-Down-Version von 2010 drangefügt habe, fehlt mir Yoko Onos oft hysterischer (in Kiss Kiss Kiss echt orgiastischer) Avantgarde-Pop dann doch – irgendwie.

In ihrer tiefenentspannten Gelassenheit und liebevollen Sanftheit waren John Lennons Songs und das konsequente des Double-Fantasy-Konzepts aber ebenso radikal, wie die Beatles wegen Yoko in die Luft zu sprengen, danach zum friedensbewegten Power-To-The-People-Agitator zu werden und auf seinem ersten richtigen Soloalbum in einer musikalischen Psychotherapie seine Seelenqualen bloßlegte.

Mit dem modernen amerikanischen Rockmusik-Produzenten Jack Douglas (Cheap Trick, Aerosmith) und Topmusikern wie den Gitarristen Earl Slick (David Bowie) und Hugh McCracken (Steely Dan, Billy Joel, Paul McCartney), dem Bassisten Tony Levin (Peter Gabriel, Paul Simon, Lou Reed) oder dem Schlagzeuger Andy Newmark (Roxy Music, Pink Floyd, David Bowie) führte John Lennon auf Double Fantasy die schon mit dem 1973er Album Mind Games begonnene Amerikanisierung seines Sounds konsequent fort.

Viele seiner Songs auf Double Fantasy und Milk and Honey schrieb John Lennon nach einem gefährlichen Segel-Turn, der seine kreativen Kanäle wieder geöffnet hatte, auf den Bahamas. Lennons Lyrics lesen sich wie schon seit Beatles-Zeiten oft wie Tagebucheintragungen. Im modernisierten Doo-Wop von (Just Like) Starting Over passiert genau das, was der Songtitel sagt. In Watching The Wheels bekennt er, dem Weltentreiben jetzt mal gelassen zuzusehen. Im so kraftvoll wie seine früheren Soloplatten rockenden I’m Losing You, gesteht er, Yoko untreu gewesen zu sein. Woman ist eine von Herzen kommende Liebeserklärung an Yoko und die Frauen der Welt, eine beachtliche Wandlung für den misogynen Macker, der Lennon früher gewesen sein soll. Im funky Rhythm & Blues-Kracher Cleanup Time besingt John seine und Yokos neue Häuslichkeit. Im beschwingten Dear Yoko beschwert er sich aber, dass Yoko zu wenig Zeit mit ihm verbringe. Im wunderbar frohen Wiegenlied Beautiful Boy (Darling Boy) singt Lennon nicht nur eine seiner besten Textzeilen („Life is what happens to you while you‘re busy making other plans“), er deklariert auch seine grenzenlose väterliche Liebe für seinen und Yokos Sohn Sean, eine väterliche Liebe, die John selbst nie kennengelernt hatte.

Nicht wenige Kritiker verrissen Double Fantasy, als es 1980 veröffentlich wurde. John Lennons Ermordung nur drei Wochen später änderte die Einschätzung (und auch den kommerziellen Erfolg) der Platte schlagartig. Und je mehr Zeit vergeht, desto heller strahlt die Schönheit von Double Fantasy, und ehrlich noch mehr jene von John Lennons Liedern auf der Platte.

Ich habe mit Sicherheit keine andere Platte so oft ohne Pause gehört wie Double Fantasy, in den Wochen nachdem John Lennon so tragisch ums Leben gekommen ist. Vielleicht auch weil ich unterschwellig dachte, die schreckliche Tat vom 8. Dezember 1980 so ungeschehen machen zu können.

John Lennon & Yoko Ono Double Fantasy, Geffen Records, 1980

© Double Fantasy Pics photographed by the author

Record Collection N° 50: The Beatles: „A Hard Day’s Night“ (Parlophone/EMI, 1964/2009)

„A Hard Day’s Night“, das dritte Album der Beatles, veröffentlicht am 10. July 1964, ist zur Hälfte der Soundtrack ihres famosen ersten gleichnamigen Kinofilms in Schwarzweiß, die Songs erklingen in leuchtendem Bunt. In der zweiten Hälfte gibtes weitere famose selbstgeschriebene Songs der Fab Four aus Liverpool. Man kann getrost sagen, dass A Hard Day’s Night das erste Meisterwerk der Beatles in Albumlänge ist.

John, Paul, George & Ringo waren gerade von ihrer Heimatstadt Liverpool nach London, der Popmetropole der Swinging Sixties, umgezogen. A Hard Day’s Night war ihr dritter Longplayer innerhalb von 18 Monaten. Und das erste Album der noch immer blutjungen Musiker, das allein mit Eigenkompositionen bestückt ist. Zudem der einzige Longplayer der Beatles, auf dem sich ausschließlich Kompositionen des Songschreiberteams Lennon/McCartney befinden.

Die A-Seite der originalen Vinyl-LP ist der Soundtrack des grandiosen, superwitzigen, supersympathischen gleichnamigen Kinofilms. In der rasanten Handlung mit halbfiktiven Alltagsszenen aus der Turbokarriere der Beatles spielen ihre Songs natürlich keine Neben- sondern die Hauptrolle. Beatlemania in Bild und Ton. In Spielfilmlänge und überschäumender Laune. Mit vier gutaussehenden, ungemein coolen, charismatischen Hauptdarstellern, superwitzigen Schnellfeuerdialogen. Mit der berühmtesten Band der Welt. Der allerbesten Band sowieso. Und dem obercoolen Beatle, Ringo Starr.

Vom gewaltigen Eröffnungsakkord des Titelstücks an gibt es praktisch nur Hits zu hören, und solche, die Hits hätten werden können. Zuerst die glorreichen Sieben aus dem Film: A Hard Day’s Night, John Lennons ungestümer Titel-Rocker, der den zunehmenden Karrierestress der Beatles widerspiegelt und zugleich eine Art Arbeiterklasseblues ist – während Lennons markige Stimme durch Refrain und Strophen führt, übernimmt Paul McCartney die Bridge, die er mit seiner heiser aufgerauten Rock’n’Roll-Stimme singt, ein elektrisierender Effekt. Ringo Starr rockt heißer als jeder Brandstifter, George Harrison spielt das markante Fade Out auf seiner neuen 12-saitigen Rickenbacker-Gitarre. Diese prägte den Sound des ganzen Albums und sollte in den USA bald The Byrds wachrütteln. I Should Have Known Better startet mit einer von Bob Dylan abgekupferten Mundharmonika, danach legt John Lennon ungewohnt aufgekratzt und glückselig los, während Harrisons 12-Saiten-Rickenbacker ihm den Weg weist. Unvergessen wie die Fab Four im Film während einer Bahnfahrt zu diesem Song Karten spielen, eingesperrt im Postwagon, wo sie zu den Instrumenten greifen.

Die wunderschöne Ballade If I Fell singen John und Paul im Duett. Songautor John Lennon zeigt, dass er nicht nur rocken, sondern es auch mal romantisch kann, wenngleich die besungenen Liebesverwirrungen die für ihn typische wehmütig-bittere Note haben. Für I’m Happy Just To Dance With You darf mal George Harrison ans Mikro, der voll auf Mr. Superlässig macht und glatt damit durchkommt. Worauf Paul McCartney sich mit And I Love Her, einer wunderschönen Liebesballade in einem zauberhaften Arrangement aus Akustikgitarren und Bongos, als allerfeinster Popromantiker erweist. Tell Me Why dagegen ist simple, mitreißende uptempo Beatmusik über eine unglückliche Liebe, die John Lennon flehend besingt, während McCartney und Harrison ihn mit glasklarem Harmoniegesang stützen.

Paul McCartneys raue Rock’n’Roll-Stimme Marke Little Richard kommt in Can’t Buy Me Love zum Tragen, einem prickelnden Song, der ausnahmsweise außerhalb der Abbey Road Studios in Paris aufgenommen und schon vor dem fertigen Album veröffentlicht wurde. Prompt ein weiterer Nummer-1-Hit, und die erste Single der Band, die nur einen einzigen Sänger in den Vordergrund stellt. Die sieben weiteren Songs auf der B-Seite der Originalplatte halten die exzellente Qualität von Seite A. Allen voran McCartneys herrlich melodiöses, nachdenkliches Things We Said Today. Lennons rauer Rocker When I Get Home, der das häusliche Glück idealisiert, und sein packendes Liebeswerben in You Can’t Do That.

Die 13 Songs auf A Hard Day’s Night sind ein großer Entwicklungssprung für die Beatles. Sie sind als Songschreiber gereift, was die Songtexte, komplizierten Akkordfolgen, die gesteigerte Raffinesse der Melodien anlangt, aber auch als Arrangeure, Musiker und Studiokünstler. Das wird auch am volleren, aufwändigeren Sound deutlich. Dieser ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass man nicht mehr bloß auf zwei Tonspuren aufnahm, sondern Produzent George Martin jetzt Vier-Spur-Rekorder einsetzte. George Harrisons klingelnde, 12-saitige Rickenbacker, John Lennons stramme Rhythmusakkorde, Paul McCartneys melodiös-druckvolle Bassläufe, Ringo Starrs minimalistische, energiegeladene Beats, die bestechend brillanten Gesangsharmonien – sie sind so klar und deutlich wie noch nie zu hören auf den aktuellen 2009er Beatles Remasters. Egal, ob in Mono oder in Stereo.

Dass John Lennon und Paul McCartney jetzt häufiger getrennt Songs schrieben, ist auf A Hard Day’s Night deutlich zu bemerken. Zugleich hielten die beiden aber an ihrer professionellen Songschreiberpartnerschaft zugunsten des größeren Ganzen fest und halfen sich gerne immer wieder gegenseitig aus. Die Klischeebilder von Lennon, dem Rebell, Revolutionär, Neuerer, und  McCartney, dem Softie, Kitschkomponisten, Karrieristen sind aber nicht mehr als Mythen in Tüten. Auf A Hard Day’s Night zeigt sich John Lennon besonders kreativ und ist bei der überwiegenden Zahl der Songs federführend. Doch Paul McCartneys wenige Beiträge können voll mit Lennons Songs mithalten. Das Resultat ihrer kreativen Chemie trieb die Beatles zum ersten  Höhepunkt auf dem Weg zur Popband von epochalen Dimensionen.

Ende Juli 1964 katapultierte sich A Hard Day’s Night auf den ersten Platz der britischen Charts und thronte dort ganze 21 Wochen lang. Und das voll verdient, weil es das erste Meisterwerk der Beatles im Albumformat war.

The Beatles A Hard Day’s Night, Parlophone/EMI, 1964/2009

Record Collection N° 49: The Beatles „With The Beatles” (Parlophone/EMI, 1963/2009)

Beatlemania pur. „With The Beatles“ ist das zweite Album der Fab Four, ein Yeah-Yeah-Yeah-Wunder aus Liverpool. Veröffentlicht wurde es vor sechzig Jahren am 22. November 1963 im britischen United Kingdom, der Heimat der Beatles. Am europäischen Festland gab es die Platte schon zwei Wochen früher, dort war es aber das Debütalbum von John, Paul, George and Ringo.

Vorne auf dem Plattencover – das ikonische Schwarzweißfoto der Fab Four aus Liverpool, das den ganz frühen Fotos der Band nachempfunden ist, welche die mit der Band befreundete Fotografin Astrid Kirchherr in Hamburg geknipst hat. In den orginalen Linernotes des Albums, die auch im Booklet der pipifein remasterten 2009er Neuauflage von With The Beatles abgedruckt sind, schreibt Pressemann Tony Barrow im November 1963: „The Beatles haben die Erfolgsformel wiederholt, die ihre erste LP Please Please Me zum am schnellsten verkaufenden Album von 1963 machte.“

Es stimmt. Die 33 Minuten neuer Beatles-Musik auf With The Beatles, diese 14 frisch eingespielten neuen Songs sind Please Please Me, Teil 2 – ungeniert und das mit Recht, voller Selbstbewusstsein.

1963 explodierte die Karriere der Beatles. Beatlemania überall. Auf das im März veröffentlichte Debütalbum folgten rasch mit dem bluesigen From Me To You (April) und dem explosiven Yeah-Yeah-Yeah-Wunder She Loves You (August) zwei nur als Singles veröffentlichte Nummer-1-Hits. Und gar nur eine Woche nach der Veröffentlichung von With The Beatles brachte die Band mit dem vor freudiger Energie nur so vibrierenden Lennon/McCartney-Duett I Want To Hold Your Hand schon wieder einen neuen, nur auf Single veröffentlichten Hit in die Läden, der 1964 auch die USA erobern sollte.

Die Aufnahmen für With The Beatles starteten Mitte Juli 1963, als in Großbritannien die Beatlemania schon voll im Rollen war, eingeschoben zwischen Tourneen, Radio- und TV-Shows und sonstigen Verpflichtungen der vier Musiker. Allzu viel Zeit für die Arbeit im Aufnahmestudio blieb da nicht. Ein paar Stunden mehr wie noch beim Debüt sollen es schon gewesen sein, man hört die zusätzliche Studiozeit ebenso wie die bereits im Aufnahmestudio gewonnene Erfahrung. Einerseits wirken die härteren Stücke nicht mehr ganz so rau und ungeschliffen wie noch auf Please Please Me, andererseits ist eine gesteigerte Raffinesse in Stücken wie dem wunderbaren All My Loving mit seinen wirbelnden Akkordgirlanden oder in Paul McCartneys süß romantischer Schmachtballade Till There Was You deutlich zu bemerken.

With The Beatles übernimmt von Please Please Me die zündende Mixtur von eigenen Song-Orginalen, die unterwegs auf Tour geschrieben wurden, und bewährten Rock & Roll- und Rhythm & Blues-Krachern aus der Liveshow der Beatles. Es versucht auch, die dramaturgische Klammer des Debüts zu wiederholen: Das stürmische It Won’t Be Long reicht mit seinen frenetischen Yeah-Schreien zwar nicht ganz an I Saw Her Standing There heran, aber wie viele Songs können das schon? Und am Ende gelingt den Beatles mit dem Motown-Stomper Money (That’s What I Want) ein brennender Soul-Rocker, der es mit der Ekstase von Twist And Shout aufnehmen kann. Es ist wieder John Lennon, der sich hier die Stimmbänder in Fransen brüllt.

Neben Money finden sich unter den Coverversionen noch zwei weitere Songs aus der Detroiter Soul-Hitfabrik Motown. Smokey Robinson & The Miracles’ You Really Got A Hold On Me, für das sich Lennon einmal mehr voll Inbrunst die Stimmbänder blutig röhrt. Auch in Please Mister Postman agiert er an vorderster Front, unterstützt von den gekonnten Vokalharmonien Paul McCartneys und George Harrisons. McCartney setzt dann mit  Till There Was You einen wunderbaren romantischen Höhepunkt. George Harrison singt Chuck Berrys Roll Over Beethoven zwar mitreißend – das ratternde Schlagzeug von Ringo Starr stiehlt ihm aber fast die Show. Auch weil George nicht ganz so kraftvoll rüberkommt wie  John Lennon ein Jahr später im anderen Chuck-Berry-Klassiker Rock And Roll Music auf dem vierten Beatles-Album Beatles For Sale.

So gut die Coverversionen auf With The Beatles sind, noch besser sind die acht von ihnen selbstgeschriebenen Songs, die das Herz der Platte bilden. Darunter auch das trotz fetzigem Gitarrensolo noch leicht blasse Don’t Bother Me, der erste von George Harrison geschriebene und gesungene Beatles-Song. Am allerbesten in seiner simplen, hinreißenden Schönheit und dem jugendlichem Überschwang ist Paul McCartneys All My Loving. Fast genauso gut: It Won’t Be Long und die schmerzlich schöne Lennon-Ballade All I’ve Got To Do. Not A Second Time, eine weitere bittere Midtempo-Ballade von John Lennon über eine enttäuschte Liebe mit einer umso reichhaltigeren Melodie und einem verzerrten Piano-Solo von Produzent George Martin. Little Child, einer ihrer besten eigenen, frühen Rocker. Und das noch härter rockende I Wanna Be Your Man, das sich schon einige Wochen zuvor die Rolling Stones für ihre zweite Single ausliehen, mit dem supercoolen Ringo als Sänger. Alles einmal mehr in Mono statt Stereo noch eine Spur brisanter tönend. Vor allem You Really Got A Hold On Me und Money sind an Intensität und Spannung im originalen Mono-Mix kaum zu überbieten. Beatlemania pur.

The Beatles With The Beatles, Parlophone/EMI, 1963/2009

Leonard Cohen: Mehr Licht für die Welt

„There’s a crack, a crack in everything / That’s how the light gets in“ – Leonard Cohen (21.9.1934 – 7.11.2016)

Leonard Cohens Körper schien in seinen letzten Lebensjahren immer mehr zu schrumpfen. Auf der Bühne kauerte er sich zusammen, schien niederzuknien und verstärkte so noch den Eindruck der Gebrechlichkeit, des Vergehens, der Endlichkeit. Die Videos, die ihn an der Seite seines Sohnes Adam zeigten, wie er seine neuen Songs kommentierte, zeigten, dass Cohens Physis schwächer wurde. Aber: Sein Talent, seine Schaffenskraft, sein Intellekt, seine Poesie blieben ungebrochen. Und die goldene Stimme, die Gott ihm geschenkt hatte, sie wurde immer mächtiger, auf der Konzertbühne wie im Tonstudio. Zuletzt erhob der Sänger sie zu Lebzeiten auf dem Album You Want It Darker.

Ich wollte damals keine Kritik von You Want It Darker schreiben, weil ich die Finalität, die er in seinen neuen Liedern adressierte, noch nicht gekommen wissen wollte und hoffte, dass der Albumtitel von Leonard Cohen vielleicht doch bloß ironisch gemeint war. Ich wollte auch mit keiner weiteren Lobpreisung, die You Want It Darker ob der geballten lyrischen, vokalen und stimmlichen Kraft gebührt, in den Chor der Vorabnachrufschreiber einstimmen. Das erschien mir angesichts von Leonard Cohens schwindender Lebenskraft vorschnell leichenfledderisch.

Stattdessen zog ich es vor, allein mit Leonard Cohen allein Zwiesprache zu halten. Wie ich es oft in den letzten vierzig Jahren getan hatte. Ich spürte in den acht Liedern auf You Want It Darker einmal mehr seine hoffnunggebende Kraft, seine Spiritualität, seine Weisheit, aber auch seinen ungebrochenen Humor.

Leonard Cohen ist  am 7. November 2016, verstorben. You Want It Darker ist ein würdiger Schlusspunkt für sein wundervolles Lebenswerk, auch wenn mit dem posthum veröffentlichten Thank You For The Dance, das sein Sohn Adam fertigstellte, 2019 noch ein weiteres wunderbares Album folgte. Er lebte ein erfülltes Leben. Ein Bild von einem Mann, der die Frauen liebte, und die Frauen liebten ihn. So wie die kurz vor ihm verstorbene  Marianne Ihlen (So Long Marianne), der er in einem Abschiedsbrief schrieb, dass er spüre, er werde ihr schon bald nachfolgen, und sie möge ihm aus dem Jenseits schon mal die Hand reichen.

Leonard Cohen war ein genialer Poet, Dichter, Denker, Philosoph, Sänger, Songschreiber und der Inbegriff einer unfassbaren Coolness. Ohne ihn je persönlich kennengelernt zu haben, war er mir seit den 1970ern ein Freund, vielleicht auch weil wir beide an einem 21. September geboren wurden, vor allem aber mit seinen Liedern, mit denen er mehr Licht in die Welt brachte.  

 

 

 

 

Record Collection N° 334: Popincourt “We Were Bound To Meet” (Milano Records, LP, CD, 2023)

Drei sei eine magische Zahl, heißt es. Kein Wunder, dass “We Were Bound To Meet”, Album Nummer drei, erneut den magischen Popincourt-Goldstaub versprüht.

Was haben so wundervolle Songs wie A New Dimension To Modern Love, The First Flower  Of Spring, The Things That Last, Blue Winter, The Last Beams Of The Setting Sun, Spreading Golden Dust oder This Must Be Heaven gemeinsam? Sie entstammen alle einer kleinen, aber umso feineren Pariser Indie-Pop-Manufaktur, betrieben vom französischen Singer/Songwriter und Gitarristen/Multiinstrumentalisten Olivier Popincourt, und vielleicht in einer Seitengasse im gleichnamigen 11. Arrondissement situiert.

Seit 2014 widmet sich der britischste aller französischen Indie-Pop-Musiker hauptsächlich seinem kurz Popincourt genannten, von Gitarren- und Keyboards, britischem New Wave und Power Pop und Mod Beat, einer Dosis Jazz und auch ein wenig Klassik geprägten Musikprojekt. Auf die exquisiten Langspielplatten A New Dimension To Modern Love (2016) und A Deep Sense Of Happiness folgt nun Album Nummer drei  We Were Bound To Meet (offizielle Veröffentlichung: 15. September 2023), das erneut den magischen Popincourt-Goldstaub versprüht. A Deep Sense Of Happiness schien im Herbst 2020 mit seiner schweren Melancholie und tristem Weltschmerz die dunklen Pandemie-Jahre schon vorwegzunehmen. Die Stimmungslage war so mies, dass Popincourt gegen Ende des Jahres daran dachte, überhaupt keine Platten mehr aufzunehmen.

Dagegen fühlt sich We Were Bound To Meet drei Jahre später leichter, lichter, luftiger an. Auch angesichts von Kriegen quasi vor der Haustür, globalen Krisen und Liebeswirren, die in den Songs verhandelt werden. Und diese neue Leichtigkeit tut Popincourt gut, und sie hat vielleicht auch damit zu tun, dass in sechs (von zehn) der neuen Songs die Songwriting-Last auf mehrere Schultern verteilt ist. Auf die famose Gabriela Giacoman, sonst Sängerin bei der französischen Pop-Moderniste-Band French Boutik und praktisch von Anfang bei Popincourt als nicht wegzudenkende Gästin mit dabei, und auf die Sängerin und Flötistin Susanne Shields sowie den gleichgesinnten französischen Singer/Songwriter Olivier Rocabois.

Aufgenommen wurde We Were Bound To Meet unter der Regie von Olivier Bostvironnois im l’Entresol Sound Studio in Courbevoie, das am Rande des Pariser Ballungsraums liegt, und zwei weiteren Studios. Olivier ist nicht nur an der akustischen und elektrischen Gitarre ein As, er spielt auch noch Bass und verschiedene Orgeln (Wurlitzer, Vox continental, etc.). Zudem unterstützen ihn exzellente Musikerinnen und Musiker wie Bostvironnois (Klavier und Fender Rhodes E-Piano), Schlagzeuger Guillaume Glain, Susanne Shields (Lead und Backing Vocals, Flöte), Gabriela Giacoman (Lead und Backing Vocals), Marilou Tee (Backing Vocals) sowie ein klassisches Streichquartett.

Schon der erste Song Wire Crossed Lovers schwingt sich mit einem klaren perlenden Gitarrenlauf und einer hoffnungsfrohen Melodie in lichte Höhen und man darf seine ersten Zeilen Couldn’t wait to meet you/Two long springs and summers/Scared I’d lose my mind/Two lonely falls and summers auch als Ausdruck der Erleichterung deuten, das die beklemmenden Pandemiejahre vorüber sind, auch wenn sie von einer Liebesbeziehung künden. Das hinreißende Our Winds, Our Strengths, Our Crimes entzückt im Refrain mit einer Frauenstimme, die Popincourts Gesang doppelt, und ist ein eindeutiges Lamento über eine gescheiterte Liebe, aber eines, das einen nicht runterzieht, weil es abgeklärt Resümee zieht. Die zauberhafte Ballade The Road To Recovery, die durch Susanne Shields‘ Gesang in die Nähe von britischem 1970er Jahre Folkrock rückt, schließt mit ihrer hoffungsvollen Lyrik an den Albumauftakt an, Feeling good on the road to recovery/I feel relieved, und schwebt getragen von Gefühlen der Unbeschwertheit Richtung Freiheit und einem neuen Anfang im Leben.

Dieses Hoch gipfelt im wunderbaren Titelsong mit seinem Leben und Liebe feiernden Elan, We were bound to meet/A reason to believe/So clear and sweet/How could we be wrong?/I found the place where I belong, was für ein Popincourt-Klassiker. Das der Feder von Rocabois und Popincourt entsprungene Little Rainfall, Intense Sunshine schaltet beim Hochgefühl ein, zwei Gänge runter, aber schön. Das von Gabriela Giacoman geschriebene und gesungene Love On The Barricades ist die weniger pessimistische Schwester des apokalyptischen New Wave-Krachers While The Ship Sinks auf A Deep Sense Of Happiness und endet mit einem Hochgefühl, I kiss you on the barricades/We‘re here right now so let’s enjoy tonight, mitreißend wie nur was. Die schöne Ballade My Secret Place bewegt mit Emotionen, die unter die Haut gehen und einigen quasi dahinschmelzenden, auf Französisch gesungenen Zeilen – eine Novität für Popincourt. Auch im forschen Gitarrenbeat Late To The Party sind Leichtigkeit und  Zuversicht spürbar, I could see the future/It looks promising much brighter. The Worst Of Lullabies ist der vielleicht düsterste Song des Album, aber musikalisch brillant mit Streichquartett in Szene gesetzt. Mit der herzergreifenden Ballade Song For Yeu schließt sich der Kreis der besungenen Liebeswirren, I wish I could stay for a few days/On the cliffs getting lost in our gaze/Times have changed but that light will always shine/And bring new sounds in my mind.

Kann eine Platte, deren Lieder vornehmlich von schlecht gelaufenen und kaputt gegangenen Beziehungen handeln, die optimistische Botschaft All you need is love aussenden? We Were Bound to Meet kann.

Popincourt: We Were Bound To Meet, Milano Records, 2023

© Cover Pics snapped by the author.

B-logbook: 30.07.2023: Popincourt – “We Were Bound To Meet”. Vinyl LP, Test Pressing, 2023.

Now playing: Popincourt „We Were Bound To Meet“, vinyl LP, test pressing. Official album release September 15, 2023. What a Sunday morning pleasure!

B-logbook: 29.07.2023: Popincourt – “We Were Bound To Meet”. Album, LP/CD, 2023.

This was brought by the postman, a special parcel from Paris, mailed by Olivier Popincourt. Popincourt‘s third album We Were Bound To Meet. LP, CD, and a vinyl LP test pressing as a special present! We Were Bound To Meet will be officially released midst September. But it will be already my soundtrack of this weekend. What a superb new addition to my record collection. Merci, Olivier.

Record Collection N° 121 Bruce Springsteen „Working On A Dream” (Columbia Records, 2009)

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Working On A Dream ist eine hoffnungsvoll schwelgende, mitunter überschwänglich romantische, aber auch durch und durch persönliche Liedersammlung, in der sich Licht und Schatten, Freude und Leid, Erfüllung und Verlust abwechseln.

Seit US-Präsident Ronald Reagan seinen Hit Born In The USA in den 1980ern für den Wahlkampf missbrauchte, ist Bruce Springsteen nicht mehr so sehr fehlgedeutet worden wie bei seinem 16. Studioalbum Working On A Dream. Working On A Dream ist aber nicht die Vertonung von Barack Obamas „Yes We Can“-Manifest, obwohl Springsteen für Obama damals persönlich wahlgekämpft hat. Es geht auf dem Album auch nicht darum, den zerbrochenen amerikanischen Traum zu restaurieren. Working On A Dream ist zwar eine hoffnungsvoll schwelgende, aber auch durch und durch persönliche Liedersammlung, in der sich Licht und Schatten, Freude und Leid, Erfüllung und Verlust abwechseln.

Der Traum, an dem Bruce Springsteen in den 13 Songs des Albums arbeitet, ist der von einem geglückten, liebevollen Leben. Verglichen mit Springsteens Kommentaren zur tristen Lage der USA auf dem Vorgänger Magic vom Herbst 2007, ist Working On A Dream fast eine politikfreie Zone. Das ist kein Schaden. Der Boss überreicht uns stattdessen eine beseelte, romantische Pop-Platte. So wie Born In The USA anno 1984 die üppiger produzierte, optimistischere, mitreißendere Version  des düsteren, trostlos tristen Nebraska (1982) war, so ist Working On A Dream ein poppiger, aufwändig arrangierter, romantischer Nachfolger des härter rockenden, kaltblütigeren Magic (2007). Der amerikanischen Krise zum Trotz feiert der Boss hier Leben, Liebe und Freundschaft. Die Verbindungsstücke zwischen beiden Alben sind die schwelgenden Girls In Their Summer Clothes und I’ll Work For Your Love, die schon auf Magic andeuteten, was Springsteen mit Working On A Dream im Sinn haben könnte.

Eine Schlüsselrolle hat auch Brendan O’Brien, der als Produzent alle Alben Springsteens mit der E Street Band seit ihrer 1999er Comeback-Welttournee betreute und mit jedem Album bemüht ist, den typischen, bombastischen Sound der E Street Band auf Platte weiter zu optimieren. Bruce Springsteen schrieb für Working On A Dream lupenreine Popsongs. Working On A Dream vielleicht romantischste und sanfteste Platte mit der E Street Band überhaupt. Von der achtminütigen Schuld-und-Sühne-Ballade Outlaw Pete über den souligen New-Jersey-Rocker My Lucky Day, den Titelsong, der sich selig was pfeift, und die in Queen Of The Supermarket angehimmelte Wurstverkäuferin im Supermarkt bis zu den eingängigen, in überschwängliche Sixties-Pop-Arrangements gekleideten Songs wie This Life, Kingdom Of Days und Surprise, Surprise. Springsteen singt mit seiner schmachtenden Roy-Orbison-Stimme, die er schon auf Born To Run entdeckte.

Am Ende stehen The Last Carnival, ein Trauersong für den verstorbenen E Street Band Keyboarder Danny Federici, und The Wrestler, der Titelsong für den Ringerfilm mit Mickey Rourke, in dem sich ein kaputter, alter Kämpfer ein letztes Mal aufbäumt. Von einem solchen Tief war Springsteen damals so weit entfernt wie eh und je.

Bruce Springsteen Working On A Dream, Columbia Records, 2009

(Erstveröffentlicht in: now! N° 75, Februar 2009, komplett überarbeitet im Juli 2023)

Record Collection N°168: Bruce Springsteen “Letter To You” (Columbia Records, 2020)

Post von Bruce Springsteen: So mitreißend und livehaftig haben der Boss und die E Street Band auf Platte seit Jahrzehnten nicht mehr geklungen: Play Loud!

Bruce Springsteens 20. Studioalbum Letter To You wurde schon 2019 aufgenommen, und ist keine besonders politische Platte, dafür eine, die von Gedanken über Vergänglichkeit und Sterblichkeit geprägt ist. Und es ist Springsteens erstes Album mit seiner legendären East Street Band seit 2014. Und zugleich das erste, auf dem der quasi klassische, kraftvoll mitreißende E Street Band Sound wiederkehrt. Springsteen kündigte schon für Herbst 2020 ein neues Album mit der E Street Band an, als er im Sommer 2019 gerade die Soloplatte Western Stars veröffentlicht hatte. Letter To You erschien planmäßig, die geplante Welttournee mit der E Street Band, die im Frühjahr 2021 hätte starten sollen, dann wieder anno 2022, beide Male war die Corona-Pandemie dagegen.

Letter To You wurde im November 2019 an vier, fünf Tagen in jenem Studio aufgenommen, das Springsteens Frau Patti Scialfa und ihm gehört. Mit allen Musikern der E Street Band –Steve Van Zandt (Gitarre, Vocals), Roy Bittan (Klavier, Vocals), Nils Lofgren (Gitarre, Vocals), Charlie Giordano (Orgel, Vocals) bis Gary Tallent (Bassgitarre, Vocals), Max Weinberg (Schlagzeug, Vocals), Jake Clemons (Saxophon) und Patti Scialfa (Vocals) – wurde zur selben Zeit alles live im Studio aufgenommen, Gesang und alle Musiker in einem Take, es gibt auf der Platte nur ganz wenige Overdubs, vor allem einige Gitarrensoli vom Boss. Das Resultat: ein raues, livehaftiges Album, das viel mehr mit E Street Klassikern  wie Born To Run, Darkness On The Edge Of Town, The River oder Born In The USA gemeinsam hat als mit dem üppig orchestrierten Country-und-California-Pop von Western Stars und buchstäblich danach schreit, live auf der Bühne gespielt zu werden. Es wird mächtig gerockt mit ganz viel Soul Power: Play Loud!

Während Bruce Springsteen auf Western Stars short stories von Cowboys, Tramps und Outlaws erzählte, ist Letter To You ein sehr persönliches Album, über Springsteen selbst und die E Street Band, ihre Freundschaft und die Magie ihrer Musik. Gemeinsam ist beiden Alben, dass sie gesanglich die vielleicht besten Momente in Bruce Springsteens Karriere einfangen. Ein Schlüsselerlebnis für das Entstehen der Songs von Letter To You war der Tod von Georg Theiss, dem Sänger der Sixties-Band The Castiles, der sich Bruce Springsteen als 15-Jähriger anschloss. Dass er nun der einzige Überlebende seiner ersten Band ist, der Last Man Standing quasi, dürfte die jahrelange Blockade gelöst haben, als es um das Schreiben neuer Songs für die E Street Band ging.

An die Vergangenheit knüpfen auch drei alte Songs aus den frühen 1970ern noch vor Springsteens Debütalbum Greetings From Ashbury Park, von denen es bisher nur Demo-Aufnahmen gab. Lyrisch erinnern Janey Needs A Shooter, Song For Orphans und If I Was The Priest, dem Springsteen seinen Plattenvertrag mit Columbia Records verdanken soll, daher an den dylanesken Wortschwall seines ersten Albums. Der allgewaltige Wumms der E Street Band holt sie aber mit links in die Gegenwart. Obwohl Letter To You ein hundertprozentiges E Street Band Album ist, zu dem Steve Van Zandt Springsteen wohl all die Jahre seit Born In The USA überreden wollte, beginnt es mit der leisen, aber tief berührenden Ballade One Minute You’re Here – und „next minute you’re gone“. Vergänglichkeit, Tod und Abschied spielen eine große Rolle, wenn mit 71 Jahren die Einschläge näher kommen. Mit dem Titelsong und Burnin‘ Train wird aber auf die E Street abgebogen, volle Fahrt voraus bis zum rauschenden, hoffnungsvollen Schluss I’ll See You In My Dreams.

Dazwischen lassen der Boss und die E Street Band aber nie nach: Last Man Standing holt genauso wie The Power Of Prayer mit voller Kraft die Jahre der Jugend und vergangene Sommer ins Hier und Jetzt, wie auch das überwältigende Ghosts, in dem sich Springsteen an sich selbst, seine Helden und seine an den Tod verlorenen Freunde erinnert: „I’m alive and I’m coming home“. Als man Bruce Springsteen und die E Street Band gerade im Pandemiejahr 2020 dringend brauchte, waren sie voll da.

Bruce Springsteen Letter To You, Columbia Records, 2020

© Letter To You Pics shot by the author