Record Collection N° 50: The Beatles: „A Hard Day’s Night“ (Parlophone/EMI, 1964/2009)

„A Hard Day’s Night“, das dritte Album der Beatles, veröffentlicht am 10. July 1964, ist zur Hälfte der Soundtrack ihres famosen ersten gleichnamigen Kinofilms in Schwarzweiß, die Songs erklingen in leuchtendem Bunt. In der zweiten Hälfte gibtes weitere famose selbstgeschriebene Songs der Fab Four aus Liverpool. Man kann getrost sagen, dass A Hard Day’s Night das erste Meisterwerk der Beatles in Albumlänge ist.

John, Paul, George & Ringo waren gerade von ihrer Heimatstadt Liverpool nach London, der Popmetropole der Swinging Sixties, umgezogen. A Hard Day’s Night war ihr dritter Longplayer innerhalb von 18 Monaten. Und das erste Album der noch immer blutjungen Musiker, das allein mit Eigenkompositionen bestückt ist. Zudem der einzige Longplayer der Beatles, auf dem sich ausschließlich Kompositionen des Songschreiberteams Lennon/McCartney befinden.

Die A-Seite der originalen Vinyl-LP ist der Soundtrack des grandiosen, superwitzigen, supersympathischen gleichnamigen Kinofilms. In der rasanten Handlung mit halbfiktiven Alltagsszenen aus der Turbokarriere der Beatles spielen ihre Songs natürlich keine Neben- sondern die Hauptrolle. Beatlemania in Bild und Ton. In Spielfilmlänge und überschäumender Laune. Mit vier gutaussehenden, ungemein coolen, charismatischen Hauptdarstellern, superwitzigen Schnellfeuerdialogen. Mit der berühmtesten Band der Welt. Der allerbesten Band sowieso. Und dem obercoolen Beatle, Ringo Starr.

Vom gewaltigen Eröffnungsakkord des Titelstücks an gibt es praktisch nur Hits zu hören, und solche, die Hits hätten werden können. Zuerst die glorreichen Sieben aus dem Film: A Hard Day’s Night, John Lennons ungestümer Titel-Rocker, der den zunehmenden Karrierestress der Beatles widerspiegelt und zugleich eine Art Arbeiterklasseblues ist – während Lennons markige Stimme durch Refrain und Strophen führt, übernimmt Paul McCartney die Bridge, die er mit seiner heiser aufgerauten Rock’n’Roll-Stimme singt, ein elektrisierender Effekt. Ringo Starr rockt heißer als jeder Brandstifter, George Harrison spielt das markante Fade Out auf seiner neuen 12-saitigen Rickenbacker-Gitarre. Diese prägte den Sound des ganzen Albums und sollte in den USA bald The Byrds wachrütteln. I Should Have Known Better startet mit einer von Bob Dylan abgekupferten Mundharmonika, danach legt John Lennon ungewohnt aufgekratzt und glückselig los, während Harrisons 12-Saiten-Rickenbacker ihm den Weg weist. Unvergessen wie die Fab Four im Film während einer Bahnfahrt zu diesem Song Karten spielen, eingesperrt im Postwagon, wo sie zu den Instrumenten greifen.

Die wunderschöne Ballade If I Fell singen John und Paul im Duett. Songautor John Lennon zeigt, dass er nicht nur rocken, sondern es auch mal romantisch kann, wenngleich die besungenen Liebesverwirrungen die für ihn typische wehmütig-bittere Note haben. Für I’m Happy Just To Dance With You darf mal George Harrison ans Mikro, der voll auf Mr. Superlässig macht und glatt damit durchkommt. Worauf Paul McCartney sich mit And I Love Her, einer wunderschönen Liebesballade in einem zauberhaften Arrangement aus Akustikgitarren und Bongos, als allerfeinster Popromantiker erweist. Tell Me Why dagegen ist simple, mitreißende uptempo Beatmusik über eine unglückliche Liebe, die John Lennon flehend besingt, während McCartney und Harrison ihn mit glasklarem Harmoniegesang stützen.

Paul McCartneys raue Rock’n’Roll-Stimme Marke Little Richard kommt in Can’t Buy Me Love zum Tragen, einem prickelnden Song, der ausnahmsweise außerhalb der Abbey Road Studios in Paris aufgenommen und schon vor dem fertigen Album veröffentlicht wurde. Prompt ein weiterer Nummer-1-Hit, und die erste Single der Band, die nur einen einzigen Sänger in den Vordergrund stellt. Die sieben weiteren Songs auf der B-Seite der Originalplatte halten die exzellente Qualität von Seite A. Allen voran McCartneys herrlich melodiöses, nachdenkliches Things We Said Today. Lennons rauer Rocker When I Get Home, der das häusliche Glück idealisiert, und sein packendes Liebeswerben in You Can’t Do That.

Die 13 Songs auf A Hard Day’s Night sind ein großer Entwicklungssprung für die Beatles. Sie sind als Songschreiber gereift, was die Songtexte, komplizierten Akkordfolgen, die gesteigerte Raffinesse der Melodien anlangt, aber auch als Arrangeure, Musiker und Studiokünstler. Das wird auch am volleren, aufwändigeren Sound deutlich. Dieser ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass man nicht mehr bloß auf zwei Tonspuren aufnahm, sondern Produzent George Martin jetzt Vier-Spur-Rekorder einsetzte. George Harrisons klingelnde, 12-saitige Rickenbacker, John Lennons stramme Rhythmusakkorde, Paul McCartneys melodiös-druckvolle Bassläufe, Ringo Starrs minimalistische, energiegeladene Beats, die bestechend brillanten Gesangsharmonien – sie sind so klar und deutlich wie noch nie zu hören auf den aktuellen 2009er Beatles Remasters. Egal, ob in Mono oder in Stereo.

Dass John Lennon und Paul McCartney jetzt häufiger getrennt Songs schrieben, ist auf A Hard Day’s Night deutlich zu bemerken. Zugleich hielten die beiden aber an ihrer professionellen Songschreiberpartnerschaft zugunsten des größeren Ganzen fest und halfen sich gerne immer wieder gegenseitig aus. Die Klischeebilder von Lennon, dem Rebell, Revolutionär, Neuerer, und  McCartney, dem Softie, Kitschkomponisten, Karrieristen sind aber nicht mehr als Mythen in Tüten. Auf A Hard Day’s Night zeigt sich John Lennon besonders kreativ und ist bei der überwiegenden Zahl der Songs federführend. Doch Paul McCartneys wenige Beiträge können voll mit Lennons Songs mithalten. Das Resultat ihrer kreativen Chemie trieb die Beatles zum ersten  Höhepunkt auf dem Weg zur Popband von epochalen Dimensionen.

Ende Juli 1964 katapultierte sich A Hard Day’s Night auf den ersten Platz der britischen Charts und thronte dort ganze 21 Wochen lang. Und das voll verdient, weil es das erste Meisterwerk der Beatles im Albumformat war.

The Beatles A Hard Day’s Night, Parlophone/EMI, 1964/2009

Record Collection N° 85: Paul Weller “22 Dreams” (Island Records, 2008)

Mit seinem formidablen neunten Studioalbum “22 Dreams” zelebrierte Modfather Paul Weller nicht nur seinen 50. Geburtstag. Mit diesem überbordenden kreativen Füllhorn, dessen musikalische Offenheit, stilistische Verzweigungen und große Energie bis heute fasziniert, bewies er zudem, dass er noch immer weit mehr kann als nur traditionellen Altherren-Rock, auf den er sich einige Jahre lang spezialisiert hatte.

Einer der größten und nachhaltigsten Irrtümer der (nicht nur) britischen Popkritik: Die Überdosis Ignoranz, Unverständnis, Häme, mit der man in den 1980ern und darüber hinaus Paul Wellers The Style Council begegnete, seiner nächsten famosen Band nach The Jam. Wellers Wagnis, The Jam auf dem Höhepunkt des Erfolgs aufzulösen, war nicht zuletzt ein Akt der künstlerischen Befreiung, der ihm ermöglichte, mit The Style Council einen weit abenteuerlicheren musikalischen Weg zu gehen denn mit seinem punkigen Gitarrenrocktrio. Ob jazzige Exkursionen, gefühlvolle, streichergetragene Soulballaden, französische Chansons, Electrofunk, Klassikausflüge, Synthiepop, überkandidelte Vokalarrangements oder elektronische House Music – die Spielfreude und stilistische Bandbreite des Style Council suchte in den 1980ern ihresgleichen.

Aber erst als Paul Weller nach seinem brillanten Solodebüt Paul Weller (1992), einer kreativen Brücke zwischen der stilistischen Vielfalt von The Style Council und rockigeren Grooves, und einer Reihe fantastischer Songs wie Above The Clouds mit dem Album Wild Wood noch traditioneller rockte, klopften ihm die Kritiker wieder auf die Schultern. Und auch die Erfolge in den Charts stellten sich wieder ein. Doch trotz der Erfolge mit dem angegrauten konservativen Altherren-Rock,  für den ihn Rockmuseumsdirektor Noel Gallagher stets verehrte, gelangen dem Modfather seine besten Soloplatten wie Stanley Road (1995), Illumination (2002) oder As Is Now (2005), wenn er sich vom einengenden Korsett des Dad Rock befreite. Besonders förderlich für Paul Wellers neue kreative Blüte war, dass er sich sich mit seiner musikalischen Geschichte aussöhnte, live wieder sowohl Songs von The Jam als auch von The Style Council zu spielen begann und seinen mannigfaltigen musikalischen Vorlieben und Einflüssen erneut freien Lauf ließ.

Paul Wellers besonders ambitioniertes neuntes Soloalbum 22 Dreams ist der Gipfel dieser Entwicklung und ein selbst gemachtes Geschenk zum 50. Geburtstag. Ein überbordendes kreatives Füllhorn, dessen musikalische Offenheit, stilistische Verzweigungen und große Energie faszinieren. Produziert hat Paul Weller die nur 21, nicht 22 Songs mit Soundmeister Simon Dine von Noonday Underground, der schon die besten Stücke von Illumination mitgestaltete. Von Wellers angestammter Begleitband der letzten Jahre ist nur mehr Gitarrist Steve Cradock dabei, der aber auch Schlagzeug oder Keyboards spielt, dazu kommen Gäste wie Ex-Blur-Gitarrist Graham Coxon, der britische Rock-Exzentriker Robert Wyatt und eben Noel Gallagher. Mit ihnen wagt sich Paul Weller an elektronische Klangcollagen, abwegige Instrumentalstücke, zarte Pianostücke, versponnenen Folkrock, intensive Gefühlsballaden, schönsten Blue Eyed Soul, fulminante Stromgitarrenrocker und ein bizarres Rezitativ, in dem kein anderer als Gott selbst spricht oder so. Und neben einigen kleinen Ausrutschern, die  halt sein müssen, gelingen ihm durchwegs Songs, die zu seinen guten und besten zählen: Der an The Style Council erinnernde Streichersoul von Empty Ring; der frisch funkige Motown trifft auf Bossa Nova Groover Cold Moments; der zauberhafte Gitarrenpop von All I Wanna Do (Is Be With You) und Have You Made Up Your Mind; die Gänsehautballaden Why Walk When You Can Run, Invisible und Where’er Ye Go; der Folkrock von Black River und Sea Spray; die elektrisierenden Rocksongs 22 Dreams und Echoes Round The Sun.

Mit all seinem kreativen Überschwang ist 22 Dreams, schlicht ein Meisterwerk. Eine prächtige Doppel-LP im Klappcover, mit einem schönen Booklet im LP-Format und abgedruckten Songtexten, die Paul Weller auch als Lyriker sehr inspiriert zeigen.

Paul Weller, 22 Dreams, Island Records, 2008

(Erstveröffentlicht als Album des Monats in now!, Nr. 69, Juni 2008, im Mai 2023 komplett überarbeitet)

Record Collection N° 317: Al Green “I Can’t Stop” (Blue Note Records, 2003)

Die Welt hatte ihn wieder: Nach vielen Gospelplatten und modernistischen Soundversuchen war Soul-Prediger Al Green anno 2003 wiedervereint mit seinem alten klassischen Produzenten Willie Mitchell. Möge seine Stimme nie verstummen.

Ich bin befangen. Nicht nur, dass ich praktisch jede Soul-Platte von Al Green besitze und liebend gern höre, bin ich von diesem Mann auch einmal Ende eines Interviews, zu dem er glücklich lächelnd Stunden zu spät erschienen ist, gesegnet worden. Damals war gerade Al Greens erste weltliche Soul-Platte nach vielen Jahren erschienen. Jahre, in denen Green als Kirchenoberster und Prediger in Memphis, Tennessee, seiner eigenen Full Gospel Tabernakel Church vorstand, und seine süße, einschmeichelnde Samtstimme und unvergleichliche Stimmbanderotik nur noch in Gottes Dienst stellte. Der angebliche Grund: Mitte der 1970er, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, als Al Green wohl der beste und nach zahlreichen wunderbaren Hits wie Tired Of Being Alone und Let’s Stay Together auch der erfolgreichste Soul-Sänger war, soll sich eine eifersüchtige Freundin vor seinen Augen erschossen haben, es gibt aber auch andere schreckliche Versionen. Für den Sänger jedenfalls ein Zeichen Gottes, sein Lotterleben schleunigst zu ändern.

Das 1993 aufgenommene, leicht modernistische Album Don’t Look Back hatten die Musiker der Fine Young Cannibals und jüngere Dancefloor-Produzenten für Green geschrieben und produziert. Für das nach einer weiteren zehnjährigen Soul-Pause aufgenommene Album I Can’t Stop hat sich Al Green mit seinem Entdecker und Mentor Willie Mitchell, dem 75-jährigen Produzenten und Co-Autor seiner alten Songs und Platten zusammengetan, und mit  vielen seiner früheren Musiker wie den Hodges-Brüder an Gitarre und Bass zusammengetan und in Mitchells Studio in Memphis die neuen Songs geschrieben und gesungen.

Angefangen beim magischen Titelsong klingt I Can’t Stop wundersamer Weise so, als wäre die Zeit so um 1974 herum stehen geblieben. Die herrliche Stimme von Al Green hat kaum gelitten,  und Mitchell und seine Studioband versorgen sie mit dem nötigen, sanften, funkigen Groove, heißen Gitarren-Licks, knackigen Bässen, fetten Drums und schneidigen, glühenden Bläsersätzen. Und wenn Al Green nach den ersten fünf Songs, von denen eh schon einer schöner als der andere ist, umgarnt von hingehauchten Frauenstimmen und zartesten Streichern Not Tonight anstimmt und in ein sagenhaftes Liebessäuseln verfällt, ist man wieder mitten im siebten Soul-Himmel. Soul-Ekstase pur. Manna für die Seele.

Al Green I Can’t Stop, Blue Note Records, 2003

(Erstveröffentlicht in now! N° 23, November 2003, komplett überarbeitet im April 2023)

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Record Collection N° 45: Al Green “Lay It Down” (Blue Note Records, 2008)

Der Soul-Prediger jubiliert und schmachtet auf seinem bislang letztem Studioalbum wie in seinen besten Jahren. Weil seine Stimme nichts von ihrer Brillanz verloren hat, und er fest in seinem Glauben an die irdische und die himmlische Liebe verankert ist.

Soul-Prediger Al Green kehrte schon auf seinen ersten beiden Platten für das legendäre Jazz-Label Blue Note Records vom Gottesdienst zurück zu irdischeren Herzens- und Liebesdingen. Also zum bewährten Memphis-Soul-Sound seiner 1970er-Hitalben wie Let’s Stay Together (1972) und I’m Still In Love With You (1972), die er mit dem Produzenten Willie Mitchell für dessen Plattenfirma Hi Records aufgenommen hat. Da Mitchell wieder höchstpersönlich an den Mischpultreglern drehte und viele der alten Musiker von früher mit im Studio waren, funktionierten sowohl I Can’t Stop (2003) als auch Everything’s OK (2005) prächtig, vor allem, auch weil Al Greens Stimme nichts von ihrer Brillanz verloren hatte. Nach Jahren des Irrlichterns hatte der Soul-Sänger seine Muse wiedergefunden, beide Platten wurden zurecht hoch gelobt.

Sein 2008 veröffentlichtes, vorerst letztes Studioalbum Lay It Down ist sogar noch besser geworden. Wir hören seinen allerfeinsten herzwärmenden, seelemassierenden Soul – im Namen der Liebe. Wo die beiden Vorgängeralben aber nur zaghaft versuchten, etwas zu modernisieren, wirkt Lay It Down nicht mehr wie aus der Zeit gefallen. Statt Willie Mitchell fungiert dieses Mal nämlich mit Ahmir „?uestlove“ Thompson, dem Schlagzeuger der HipHop-Experten The Roots, ein viel jüngerer Musikus als Produzent. Er sorgt mit Keyboarder James Poyser (Erykah Badu), Bassist Adam Blackstone (Jill Scott) und den Bläsern der Dap-Kings (Sharon Jones, Amy Winehouse) für einen modernen und zugleich klassischen Soul Sound. Auch Al Greens jüngere Duett-Partner, die Neo-Soul-Stars Corinne Bailey Rae (Take Your Time), John Legend (Stay With Me) und Anthony Hamilton (You’ve Got The Love I Need) fügen sich wunderbar ein ins stimmige Klangbild, besonders schön Al Greens Duett mit Corinne Bailey Rae.

Die elf neuen Songs sind definitiv in Reichweite von Al Greens 1970er Klassikern wie Let’s Stay Together oder Tired Of Being Alone. Schon der Titelsong, der das Album im Duett mit Anthony Hamilton eröffnet, glüht beseelt wie nur was: Über zarten E-Gitarren-Licks, sehnsüchtigen Orgelseufzern, delikaten Streicher- und Bläser-Arrangements schmachtet Al Green wie kein Zweiter. Seine unwiderstehliche Stimme gleitet mühelos zwischen tieferen Lagen und luftigen Falsetttönen hin und her. Auch No One Like You, Take Your Time oder All I Need zeigen den Soul-Prediger von seiner allerbesten Seite. Alles in allem zählt Lay It Down – makellos gesungen, großartig musiziert, voll mit superben Songs – wohl zu Al Greens fünf, sechs besten Longplayern, und das will etwas heißen. Da original alter bzw. nach alt klingender Soul, ob von Amy Winehouse Duffy, Rumer oder Sharon Jones, bei Erscheinen von Lay It Down wieder einmal Saison hatte, hätten vielleicht auch jüngere Semester den Soul Man, den Preacher Man Al Green neu für sich entdecken können. Das ist nicht wirklich passiert. Es wäre ihr Gewinn gewesen.

Al Green Lay It Down, Blue Note Records, 2008

(Erstveröffentlicht in now! N° 70, Juli/August 2008, komplett überarbeitet im April 2023)

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Record Collection N° 312: Adriano Celentano „Svalutation“ (Clan Celentano, 1976)

Svalutation ist das 16. Studioalbum des legendären italienischen Sängers, eines seiner besten in den 1970er Jahren.

Nach längerer Pause, verursacht durch eine Serie erfolgreicher Kinokomödien, ließ Adriano Celentano Mitte der 1970er auch musikalisch wieder aufhorchen. Svalutation, sein sechzehntes Albumist seine beste Platte aus dieser Zeit. Getextet hat alle Songs Adriano Celentano selbst, die Musik dazu stammt von Gino Santercole und auch Luciano Beretta, die beide seit den frühen 1960ern zum sogenannten Clan Celentano gehörten, der  stets mehr war als nur eine eigene Plattenfirma, sondern eine Art kreativer, oft umstrittener, skandalumwitterter Künstler-Gang. Ins Leben gerufen hat der fortwährend Unangepasste und Rebellische den Clan schon im Jahr 1961, weil er mit seiner Plattenfirma unzufrieden war und deshalb sein eigenes Label „Clan Celentano“ startete.

Der famose Titelsong Svalutation tönte anno 1976 zu Recht aus vielen Radios und passte damals recht gut zwischen die ersten Pubrock- und punkigen New-Wave-Platten, die sich in meiner Plattenkiste drängten. Außerdem hat er hat seither nicht nur nichts an Energie und Charme eingebüßt, die darin geäußerte Politik- und Wirtschaftskritik scheint heute angesichts der vielen Krisen nicht weniger aktuell und gültig. Aber wie Adriano Celentano alles lässig weg rockt, hat schon große Klasse. Nicht von ungefähr wurde der erste italienische Rock & Roller, anno 1979 von Ian Dury and the Blockheads in der Single Reasons To Be Cheerful, Part 3 neben Elvis Presley, den Marx Brothers, John Coltrane und anderen als einer der Gründe, frohgemut und heiter sein zu können, genannt und von Dury als „Adi Celentano“ tituliert.

Aber auch die anderen canzoni, besonders La Camera 21, I Want To Know, Pt. I & II, La Neve oder La Barca, sind eine cool charmante Mixtur aus lyrischen Singer-/Songwriter-Balladen, Italo-Pop, Soul-Gesäusel, schwülstigen Streichern und Disco-Grooves auf den Spuren von Giorgio Moroder und der Bee Gees.

1977 und 1979 folgten mit Disco Dance, inklusive einer Disco-Version seines unsterblichen Sommerhits Azzurro sowie einer unwiderstehlich geschmalzten Interpretation des Soul-Klassikers Don’t Play That Song (Ben E. King, Aretha Franklin, zuletzt auch Bruce Springsteen), und Soli zwei weitere hörenswerte, noch mehr disco-infizierte Alben. Zumal Adriano Celentano mit einer hinreißenden Selbstverständlichkeit und natürlichen Strahlkraft rockt und schmachtet, dass alles runtergeht wie Honig. Tutto bello.

Adriano Celentano, Svalutation, Clan Celentano, 1976

Record Collection N° 42: Paul McCartney “Egypt Station” (Capitol Records, 2018)

On the turntable: Egypt Station

Paul McCartney müsste nichts mehr beweisen, aber er beweist seine Extraklasse mit „Egypt Station“ einmal mehr.

Mein Album des Jahres 2020? Paul McCartneys Egypt Station. Was sonst? Wer 2018, wenn nicht Paul McCartney? Der Sir und ewige Beatle. Weil Paul McCartney erstens damals und überhaupt, der coolste Mensch auf diesem Planeten ist. Weil Paul McCartney zweitens 2018 angesagt war wie nur wer. Beispiele? Die lässige Carpool-Karaoke-Sause in Liverpool mit dem  superlustigen James Corden von der „Late Late Show“, Großbritanniens Humorgeschenk an die USA. Das famose Minikonzert in der New Yorker Grand Central Station zur Veröffentlichung von Egypt Station, das live auf YouTube war. Überhaupt Maccas cooler YouTube Kanal und seine ganze hippe Präsenz in der digitalen Welt der Online-Medien. Die superfantastischen Konzerte seiner laufenden „Freshen Up“-Tournee mit seiner großartigen Band, die in einem grandiosen zweieinhalb Stunden Gig vor zehntausenden euphorischen Fans beim Austin City Limits Fest (gibt’s auch auf YouTube in guter TV-Qualität) gipfelten. Und yeah, weil das alles so gut lief für ihn, war Paul McCartney 2018 angesagt ist wie nur wer. Und das bei Jung und Alt. Ein Blick ins Publikum seiner Konzerte bestätigt das, aber pronto.

Drittens ist Egypt Station nicht irgendein weiteres neues Album von Paul McCartney, sein 18. Soloalbum halt, sondern eines, bei dem man von Anfang an sicher ist, dass der ewige Beatle, nicht einfach auf Nostalgie-Walz in der Penny Lane unterwegs ist. Man gneißt gleich, dass der Paul McCartney mit Egypt Station noch mal so richtig was reißen will. Und yeah, das hat voll geklappt, Egypt Station war sein erstes Nummer-1-Album in den USA überhaupt.

„Freshen Up“ war nicht nur das Motto der neuen Tournee, sondern auch das Motto der neuen, nach dem Cover-Gemälde von Macca benannten Platte, die Paul McCartney größtenteils alleine aufgenommen hat oder mit den Musikern seiner Live-Band; in den Londoner Abbey Road Studios, in seinem Heimstudio am Land in Sussex und in Los Angeles. Produziert hat bis auf die Single Fuh You (Ryan Tedder von One Republic) Greg Kurstin, der Typ vom amerikanischen Electro-Pop-Duo The Bird and the Bee, der auch schon mal für Adele oder Beck als Produzent arbeitete. Aber was sind schon Namen.

Was zählt ist, dass an Egypt Station alles superfrisch, modern, heutig, zeitgeistig im positiven Sinn ist – alles total präsent und voll relevant, 100% Paul McCartney. Die Produktion, der Sound, die Musik, die schöne Melodien und knackigen Hooklines. Die pointierten Songlyrics. McCartneys Stimme. Jeder der 16 Songs packt einen wie nur was. Von den nonstop aufeinander folgenden Volltreffern auf den ersten Plattenseiten,  I Don’t Know, Come On To Me, Happy With You, Who Cares, Fuh You, Confidante, People Want Peace und weiteren mehr bis zu den komplexeren, nicht weniger spannenden Stücken Despite Repeated Warnings und Hunt You Down/Naked/C-Link auf der vierten Seite. Jeder Song hier lohnt es, näher hinzuhören und sich darauf einzulassen.

Apropos frisch: Paul McCartneys naturgemäß tiefer und brüchiger gewordene Stimme steht seinen neuen Songs genauso gut wie Sir Paul sein nun endlich natürlich ergrauender Beatles-Pilzkopf. Beides lässt ihn nur noch präsenter, realer, authentischer, erscheinen. Ehrlich, wenn ich mal 80Jahre alt bin, wäre ich gern so wie Paul McCartney jetzt. Wäre das nicht cool?  Paul McCartney ist definitiv der coolste Mensch auf unserem Planeten.

Paul McCartney Egypt Station, Capitol Records, 2018

© Egypt Station Pic by Klaus Winninger