Record Collection N° 317: Al Green “I Can’t Stop” (Blue Note Records, 2003)

Die Welt hatte ihn wieder: Nach vielen Gospelplatten und modernistischen Soundversuchen war Soul-Prediger Al Green anno 2003 wiedervereint mit seinem alten klassischen Produzenten Willie Mitchell. Möge seine Stimme nie verstummen.

Ich bin befangen. Nicht nur, dass ich praktisch jede Soul-Platte von Al Green besitze und liebend gern höre, bin ich von diesem Mann auch einmal Ende eines Interviews, zu dem er glücklich lächelnd Stunden zu spät erschienen ist, gesegnet worden. Damals war gerade Al Greens erste weltliche Soul-Platte nach vielen Jahren erschienen. Jahre, in denen Green als Kirchenoberster und Prediger in Memphis, Tennessee, seiner eigenen Full Gospel Tabernakel Church vorstand, und seine süße, einschmeichelnde Samtstimme und unvergleichliche Stimmbanderotik nur noch in Gottes Dienst stellte. Der angebliche Grund: Mitte der 1970er, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, als Al Green wohl der beste und nach zahlreichen wunderbaren Hits wie Tired Of Being Alone und Let’s Stay Together auch der erfolgreichste Soul-Sänger war, soll sich eine eifersüchtige Freundin vor seinen Augen erschossen haben, es gibt aber auch andere schreckliche Versionen. Für den Sänger jedenfalls ein Zeichen Gottes, sein Lotterleben schleunigst zu ändern.

Das 1993 aufgenommene, leicht modernistische Album Don’t Look Back hatten die Musiker der Fine Young Cannibals und jüngere Dancefloor-Produzenten für Green geschrieben und produziert. Für das nach einer weiteren zehnjährigen Soul-Pause aufgenommene Album I Can’t Stop hat sich Al Green mit seinem Entdecker und Mentor Willie Mitchell, dem 75-jährigen Produzenten und Co-Autor seiner alten Songs und Platten zusammengetan, und mit  vielen seiner früheren Musiker wie den Hodges-Brüder an Gitarre und Bass zusammengetan und in Mitchells Studio in Memphis die neuen Songs geschrieben und gesungen.

Angefangen beim magischen Titelsong klingt I Can’t Stop wundersamer Weise so, als wäre die Zeit so um 1974 herum stehen geblieben. Die herrliche Stimme von Al Green hat kaum gelitten,  und Mitchell und seine Studioband versorgen sie mit dem nötigen, sanften, funkigen Groove, heißen Gitarren-Licks, knackigen Bässen, fetten Drums und schneidigen, glühenden Bläsersätzen. Und wenn Al Green nach den ersten fünf Songs, von denen eh schon einer schöner als der andere ist, umgarnt von hingehauchten Frauenstimmen und zartesten Streichern Not Tonight anstimmt und in ein sagenhaftes Liebessäuseln verfällt, ist man wieder mitten im siebten Soul-Himmel. Soul-Ekstase pur. Manna für die Seele.

Al Green I Can’t Stop, Blue Note Records, 2003

(Erstveröffentlicht in now! N° 23, November 2003, komplett überarbeitet im April 2023)

(c) Pics taken by the author