Bob Dylan: Nobel oder nicht? Poet oder keiner?

bob-dylan-nobelpreis-literatur-2016-grundDer Nobelpreis für Literatur 2016 geht an Bob Dylan? Die Entscheidung der alljährlich die Nobelpreise vergebenden Schwedischen Akademie für den großen Bobster sorgt weiter für Turbulenzen im Medienmeer. Den jüngst 75 Jahre alt gewordenen Sänger und Songschreiber selbst schien die Auszeichnung für seine „poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition“ gar nicht sonderlich zu rühren. Jedenfalls gab Dylan dazu wochenlang keinen Mucks von sich.

Auch als ihn Mitarbeiter der Schwedischen Akademie telefonisch zu erreichen versuchten, hob er das Telefon nicht ab. Man rätselte auch, ob Dylan am 10. Dezember seinen Literaturnobelpreis in Stockholm persönlich von der Akademie entgegennehmen oder wie anno 1964 der französische Existentialist Jean-Paul Sartre die höchste literarische Auszeichnung überhaupt ablehnen würde. Schließlich hatte der naturgemäß sture Künstler inzwischen auch den kurz auf seiner offiziellen Website stolz blinkenden Hinweis auf den Gewinner des Literaturnobelpreises 2016 wieder entfernen lassen.

Jetzt meldete sich der Meister zwei Wochen nach der Verkündung der Nobelpreisakademie überraschend doch zu Wort. Der Literaturnobelpreis hätte ihn quasi sprachlos gemacht, so Bob Dylan, das sei alles nur schwer zu glauben. Er hätte nie davon zu träumen gewagt. Aber er plane jetzt definitiv,  zur Verleihung in Stockholm zu kommen, wenn es ihm möglich sein sollte. Punkt. Freude bei der Akademie.

bob-dylan-cover-bringing-it-all-back-homeEreifern tun sich eh andere. So oder so. Denis Scheck etwa, renommierter Literaturkritiker der ARD, entrüstet sich: „Die Auszeichnung von Bob Dylan ist ein Witz.“  Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier strahlt hingegen, er freue sich so sehr, als hätte er selbst den Literaturnobelpreis gewonnen. Dramatiker Peter Turrini zeigt sich in Heinz Sichrowskys Literatursendung erLesen auf ORF III verärgert über Dylans Auszeichnung. Schließlich sei Dylan ja ein Liedersänger, kein Poet oder Schriftsteller. Wie bitte? Büchermoderator Heinz Sichrowsky, selbst ein klassisch gebildeter, hochkultureller Schöngeist, meint, er hätte sich gefreut, als er von Dylans Ehrung erfuhr. Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger wiederum bleibt von der Diskussion über Dylans literarische Qualitäten oder Nichtqualitäten sympathisch unberührt. Schließlich huldigt sie lieber Leonard Cohen, den sie für den erotischsten Sänger überhaupt hält, wie sie jüngst in Interviews anlässlich ihres 80. Geburtstages verriet.

Der dermaßen angehimmelte, 82-jährige Cohen wiederum erklärt sowohl die Auszeichnung, als auch die ganze Aufregung darüber für unnötig, denn Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur zu verleihen sei in etwa so, als würde man auf dem Mount Everest eine Plakette mit der Aufschrift „Höchster Berg der Welt“ anbringen.

bob-dylan-cover-time-out-of-mindDiskussion beendet. Oder doch nicht. Furioser Auftritt von Sigrid Löffler. Die Grand Dame der deutschsprachigen Literaturkritik und einst ein Viertel von Marcel Reich-Ranickis legendärer TV-Sendung Das Literarische Quartett, wettert naturgemäß schlecht gelaunt gegen die Stockholmer Entscheidung: „Eine fantastische Fehlentschei-dung.“ Bob Dylan sei doch kein Poet, und seine Songtexte wären keine Literatur, da sie ohne Musik ja gar nicht allein als Kunstwerk bestehen könnten. Außerdem lägen Dylans große Leistungen in längst vergangenen Zeiten. Weit daneben ist erst recht vorbei. Hat die gestrenge Literaturkritikerin schon von Bob Dylans auch lyrisch brillanten Alterswerken wie Time Out Of Mind (1997) oder Modern Times (2006) gehört? Und warum sollte ein Sprachkünstler wie Bob Dylan kein Poet sein? Vielleicht wäre es angebracht, einmal die Lyrics von „Mr. Tambourine Man“ (1964) oder „Things Have Changed“ (1997) und anderen Liedern im 2004 erstmals erschienenen BUCH (= Literatur?) Lyrics 1962-2001 mit sämtlichen Songtexten von Bob Dylan (das bald in einer upgedateten Neuauflage erscheinen soll) so ganz ohne Musikbegleitung nachzulesen und einmal nur die Worte wirken zu lassen?

Apropos gesungene Lyrik? Liegt das Liedhafte nicht naturgemäß im Wesen der Lyrik? Waren zum Beispiel nicht auch die lyrischen Werke mittelalterlicher Dichter wie Walther von der Vogelweide gesungene Lieder, und gelten diese heute nicht als Klassiker der Literatur? Waren die mittelalterlichen Minnesänger nicht so etwas wie die ersten, von Burg zu Burg, von Fest zu Fest herumreisenden Popsänger? Auch der vielfach preisgekrönte Schriftsteller Salman Rushdie sieht Bob Dylan im großen Kontext der Songpoesie. Schon seit Orpheus in der griechischen Antike, der selbst die Steine mit seinem Gesang zu Tränen rühren konnte, seien Lied und Poesie immer eng verbunden gewesen, so Rushdie, und „Dylan ist der brillante Erbe dieser Bardentradition. Eine großartige Wahl.“

bob-dylan-cover-highway-61-revisitedBleibt zu fragen, worum es in der Diskussion um Bob Dylans Literaturnobelpreis wirklich geht? Vielleicht um eine grundsätzliche Auseinandersetzung über den Wert oder Unwert der Popkultur? Um die Überlegenheit der wertvollen, anspruchsvollen Literatur und Kunst überhaupt  im Vergleich mit der minderwertigen, oberflächlichen Pop- und Rockmusik? War dieses Match nicht längst zugunsten des Pop, der Populär- und Alltagskultur entschieden? Hat nicht schon Peter Handke 1966 als literarischer Jungstar mit Beatlesfrisur den damaligen führenden deutschsprachigen Großschriftstellern wie Günter Grass oder Heinrich Böll ihre „läppische Literatur“ und ihre „Beschreibungsimpotenz“ vorgehalten und die ebenso läppische kontemporäre Literaturkritik beklagt? Hat Handke nicht (singbare) Gedichte wie „Der Text des rhythm-and-blues“ (1966) geschrieben, die nicht zuletzt von Bob Dylan beeinflusst waren? Hat Handke nicht in den „Regeln für die Schauspieler“ zu seinem Avantgarde-Schauspiel Publikumsbeschimpfung (1966) unter anderem notiert, dass sich die Akteure den Song „Tell Me“ von den Rolling Stones anhören und die Filme der Beatles ansehen sollen?

Und das aus gutem Grund. Schließlich stammt die wohl beste, treffendste und wirkungsmächtigste Lyrik der letzten vierzig, fünfzig Jahre aus der von der Hochkultur als Unterhaltungsklimbim geringgeschätzten Pop- und Rockkultur: von großartigen Sprachkünstlern wie Leonard Cohen, Joni Mitchell, John Lennon & Paul McCartney, Motown-Soul-Legende Smokey Robinson, Hal David, dem kongenialen Songtexter von Komponist Burt Bacharach, Paul Simon, Bruce Springsteen, Paddy McAloon (Prefab Sprout) oder Morrissey (The Smiths).

Vielleicht schmerzt der Literaturnobelpreis für Bob Dylan deshalb die Sachverwalter der anspruchsvollen, ach so bedeutenden Literatur und Kunst so sehr, weil er schlecht vernarbte Wunden wieder aufreißt: Man kann es drehen und wenden wie man will, aber beginnend mit Bill Haley und Elvis Presley in den 1950ern hat die Pop- und Rockkultur der (vor allem) 1960er und 1970er nicht nur die Kunst, sondern die Welt überhaupt verändert. Man muss daher im Schlussplädoyer einmal mehr Bruce Springsteens legendäre Songzeile aus seinem Lied „No Surrender“ (1984) anführen: „We learned more from a three-minute-record, baby, than we ever learned in school.“ Selbst wenn Springsteens Worte sentimental verklärte Übertreibung sein mögen, sie treffen ins Schwarze. Autsch.

Oasis: Der Rausch der Euphorie

oasis-cover-be-here-now„Be Here Now“, das dritte Studioalbum von Oasis, veröffentlich am 21. August 1997, am Höhepunkt der Britpop-Euphorie, war schon bei Erscheinen heftig umstritten. Die Anfang Oktober 2016 als überüppige Deluxe Edition erschienene Neuauflage mit 2 ½ Stunden Bonusmaterial zu den 71 Minuten des Originalalbums ist es nicht weniger. Selbst Noel Gallagher meint heute, Oasis hätten „Be Here Now“ zur Zeit seiner Entstehung nicht aufnehmen sollen, da die Band durch die laufenden Tourneen erschöpft und in einem desolaten Zustand war. Dennoch seien Oasis nach einer schwierigen Amerikatournee wie Idioten sofort wieder ins Studio gehirscht. Das mag aus Gallaghers heutiger Sicht stimmen, aber ich mochte das Album mit seinem manifestartigen Powerhymnen damals und mag es auch jetzt noch in der Brexit-Ära, in der so viele utopische Träume zerplatzt sind und nicht nur Europa in einer großen Krise steckt. Ich mag es, obwohl ich in der Britpop-Rivalität zwischen Oasis und Blur immer auf Seiten von Blur stand und Damon Albarn & Co. bis heute den Gallagher-Brüdern vorziehe. Die folgende Kritik ist im Original auf „Spiegel online“ im August 1997 erschienen und jetzt von mir nach Wiederhören der zwölf, meist über fünf, sechs, aber auch bis zu neun Minuten langen originalen Songs von „Be Here Now“ upgedatet worden.

Die beste Pop- und Rockmusik reflektiert nicht einfach die Zeit, in der sie entsteht – sie absorbiert den Zeitgeist und saugt ihn tief in sich ein. Wenn diese These des amerikanischen Musikkritikers Greil Marcus stimmt, dann ist „Be Here Now“ das Beste, was England in diesen Monaten passieren kann. Der perfekt passende Pop- und Rock-Sound, die richtige Platte zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort. Absorbierte Aufbruchsstimmung, auf Millionen Scheiben materialisiert.

Ein jüngst veröffentlichtes Foto zeigt den 30-jährigen Oasis-Boss und Songschreiber Noel Gallagher, wie er stolz die erste Testpressung von „Be Here Now“ in Händen hält. Das darauf notierte Datum: 1. Mai 1997. Der Tag, an dem Tony Blair und die New Labour Party – die im Wahlkampf von Oasis unterstützt wurden – die englischen Parlamentswahlen mit einem Erdrutschsieg gewannen und damit gut zwei Jahrzehnte konservativer Regierung der Geschichte überantworteten.

Seither vibriert Britannien: „Be Here Now“ – frei übersetzt: „Jetzt voll da!“ Die Zukunft, sie kann, sie soll kommen, sofort! Da ist es nur folgerichtig, dass sich auf „Be Here Now“ praktisch eine mitreißende Gallagher-Hymne an die andere reiht, von der hübsch sentimentalen Ballade „Don’t Go Away“ einmal abgesehen. „D’You Know What I Mean?“ fragen Oasis zum Auftakt. Diese zugleich erste Single schraubt sich euphorisch in die Höhe, ohne auf Antwort zu warten. „Stand By Me“ kann als pathetisches Liebeslied gedeutet werden, aber auch als Durchhalteparole: Gehen wir unseren Weg miteinander! Gemeinsam in bessere Zeiten! Die magnetische Melodie des Songs akzeptiert keinen Widerstand und zieht Band und Zuhörer auf Wolke sieben oder so. Alles gleitet empor. Wo es tatsächlich hingeht, das weiß niemand so recht. Tony Blair nicht und Oasis erst recht nicht: „Nobody knows the way it’s gonna be…“ Nur eins ist sicher: „It’s Gettin‘ Better (Man!!)“ Das verkündet Sänger Liam Gallagher zu einer weiteren dynamisch pulsierenden Melodie. Und er beschwört dieses Mantra zwei nicht enden wollende Minuten lang. Alles wird gut! „It’s gonna be okay!“ Und zwar „All Around the World“, wie es der finale Song, eine endlos epische Ballade in „Hey Jude“-Manier, aus übervollem Herzen prophezeit.

Die Fortschritts-Parolen von „Be Here Now“ sind eine Sache, ihre musikalische Inszenierung eine andere. Sie verharrt in der Vergangenheit. So mitreißend Oasis musizieren: sie spielen erzkonservativen Rock ’n‘ Roll. Sie kopieren die besten Momente aus vierzig Jahren (englischer) Rockgeschichte und bauen sie immer wieder neu zusammen. Das Rezept funktioniert: Ein bisschen Rolling Stones, The Who, The Kinks oder The Jam, einen Schuss Sex Pistols, eine Prise der feinen Komponier- und Arrangier-Kunst der amerikanischen Songschreiberlegende Burt Bacharach und eine Überdosis Beatles. Und jede Menge Wall of Sound, dieser von Girl-Group-Produzent Phil Spector in den 1960ern erfundenen Klangmauer, für die im Aufnahmestudio zahllose Instrumentenspuren übereinandergelegt wurden, um maximalen Druck zu machen. Was Noel Gallagher auch auf „Be Here Now“ versucht, mit angeblich bis zu dreißig Gitarrenspuren pro Track.

Bloß: anno 1997 ist das so wenig revolutionär wie das Spielsystem der deutschen Fußballnationalmannschaft. Oasis reduzieren sich bewusst in ihren musikalischen Möglichkeiten und Ideen, weil sie eben nur eine Rock ’n‘ Roll-Band sein wollen, wie Noel Gallagher und sein Sängerbruder gerne selbst zu Protokoll geben. Was Oasis dennoch über die vielen anderen aktuellen Gitarrenbands stellt? Zum einen die mitreißenden, hymnischen Songs, die Energie, und der gewaltige, grandiose Sound. Aber vor allem ist es die charismatische Stimme von Sänger Liam Gallagher, eine Mischung aus dem punkigen Furor von Sex Pistole Johnny Rotten und der raue Soul von Beatle John Lennon. Erst Liams Stimme gibt den Songs von Noel ihr gewisses Etwas, ihre Seele, ihren unverwechselbaren Charakter. Ohne Noel Gallaghers sechs Jahre jüngeren Bruder Liam wären Oasis nicht mal halb so gut. Das weiß Noel, und er weiß auch, dass Oasis kein weiteres Album dieser Art mehr produzieren sollten. Aber Noel verspricht: beim nächsten Mal wird alles anders, nämlich modern! Denn sonst ist Oasis bald von vorgestern, da hilft dann auch keine britische Zeitgeistinfusion mehr.

Oasis, „Be Here Now“, Creation Records, 1997

(Spiegel Online, 22.8.1997 – im Oktober 2016 überarbeitete Fassung)

 

Turntable / Plattenspieler N° 11: Popincourt „A New Dimension to Modern Love”

popincourt-cover-a-new-dimension-to-modern-loveOkay, das mit der LP des Tages ist nicht ganz richtig. Momentan noch jedenfalls. Ich habe Popincourts wunderbares Debütalbum „A New Dimension to Modern Love“, das im  Juni nach mehreren vorausgegangenen Singles und EPs veröffentlicht wurde, noch gar nicht als Vinyl-LP. Wie auch? Ich kenne Popincourt ja erst seit zwei, drei Tagen und musste mich erst mal mit einem Kaufdownload bescheiden, der nun aber auf Dauerrotation läuft, während die LP in den USA, im  (Online-)Shop von Popincourts amerikanischem Indielabel „Jigsaw Records“ in Seattle an der US-Westküste, auf meine Bestellung wartet.

Popincourt sind ein Bandprojekt des in Paris lebenden Sängers, Songwriters und Multiinstrumentalisten (Gitarre, Keyboards, Percussion) Olivier Popincourt, ein seit Jahren mit diversen Projekten aktiver französischer Musiker mit deklariert britischem Popgeschmack. Unterstützt wird Popincourt auf „A New Dimension to Modern Love“ von Hervé Bouétard, dem Drummer von Neo-Chansonier Bertrand Burgalat, Ken Stringfellow (Posies, Big Star, R.E.M.) am Bass, Sängerin Gabriela Giacoman (French Boutik – eine Mod-Pop-Combo aus Paris) sowie Soundtrack-Komponist Sébastien Souchois, der die vielen jazzigen Bläsersätze arrangierte und im Studio als Produzent fungierte.

Kennengelernt habe ich Popincourt durch einen Tipp meines von mir höchst geschätzten „Facebook“-Freundes Brent Cash aus Athens, Georgia, selbst ein großartiger Musiker, Songschreiber und Sänger, welcher der Welt zwei wunderbare, lebensverbessernde LPs – „How Will I Know If I’m Awake“ (2008) und „How Strange It Seems“ (2011) – geschenkt hat. Brent postete auf Facebook Folgendes: Give a listen to my friend (in Paris) Olivier’s new project „Popincourt“. It gathers those elements of The Style Council you all love (the funky vintage electric pianos/cool male-female vocal interplay) into soulful melodic odes that are equal parts Blue Note and Marvin Gaye. Ken Stringfellow plays bass on it. What else do you need? Espresso shots not included… http://www.popincourtmusic.com/

Mein Kommentar nach erstem Hören: The Style Council, Blue Note, Marvin Gaye – that triggers something. I like what I hear. Beautiful.

Der gute Brent hat nicht nur in Sachen Popincourt, vielleicht nach dem elften Pariser Arrondissement benannt, so was von recht. Weitere Internetrecherchen und Hörproben auf der Website von „Jigsaw Records“ , gestalteten sich eindrucksvoll. Die Rezeptur von Popincourts Musik folgt einer gesunden Diät. Zu den genannten Ingredienzien – Style Councils französelndem 1983er Kultalbum „Café Bleu“, dem samten-verschwenderischen Sound von Marvin Gayes Soulklassiker „What’s Going On“ und dem kulinarischen „Blue Note“ Jazz – kommen auf „A New Dimension to Modern Love“ noch die Small Faces, Paul Wellers erste Combo The Jam, eine Prise Elvis Costello, aber auch kalifornischer Sunshine-Pop der 1960er und 1970er. Und: britischer 1980er Indie-Pop-Rock Marke Aztec Camera und Prefab Sprout. Olivier Popincourt scheint die Melodien und den Gesangsstil von Roddy Frame und Paddy McAloon so sehr inhaliert zu haben, dass er gar nicht anders kann, als viele seiner Lieder in der Manier dieser beiden zu schmachten, und das kann er richtig gut.

Die Songs von Popincourt, genau. Oden an die Liebe, wohin man hört. Mit charmant-bezaubernden, gefühlvollen Melodien und oft romantischen Titeln wie „The First Flower of Spring“, „Want You to Be A Souvenir“ oder „The Things That Last“, der Albumtitel „A New Dimension to Modern Love“ ist Programm. Achtung Klischeealarm, Paris, Stadt der Liebe und so. Doch genug gesagt. Nun wird die LP bestellt.

Popincourt „A New Dimension to Modern Love”, Jigsaw Records, 2016

Update – November 19th 2016: The review above is a recommendation – just for the love of music. A New Dimension to Modern Love” by super-fantastic French pop combo Popincourt, led by singer, songwriter & multi-instrumentalist Olivier Popincourt, is still my favourite new album these days. I’d love to get the vinyl LP still, but as far as I know there’s still no official distribution over here, neither for CD nor LP, so I still have to be content with the commercial digital download available. However, I listen daily to these delightful songs, to Popincourt’s wonderful music and more than only once. And I now embedded at the end the video to the beautiful song „The First Flower of Spring“ in this praise of „A New Dimension to Modern Love“.

The Rolling Stones: Unter dem blauen Mond

rolling-stones-cover-blue-lonesomeIm Advent also. Die Hoffnungen auf eine Schnellschussveröffentlichung des neuen Studioalbums der Rolling Stones am 6. Oktober 2016 haben sich nicht erfüllt. Auch wenn die PR-und Marketingleute der Band in der Woche vor dem ominösen Datum ein massives Tamtam im Internet veranstaltet haben, wurden am 6. Oktober doch nur die Gerüchte bestätigt, dass die Rockveteranenband noch in diesem Jahr ein neues Studioalbum veröffentlichen wird.

„Blue & Lonesome“, das elf Jahre nach ihrem letzten Longplayer „A Bigger Bang“ am 2. Dezember 2016 erscheint, ist das 23. Studioalbum der Rolling Stones. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die eigenen neuen Songs, an denen die Band im Frühjahr im Britisch Grove Studio in Westlondon gearbeitet hat und dabei laut Produzent Don Was, der seit 1994 der Hausproduzent der Stones ist, voll an die Wand gefahren sein soll. Mit den stonesifizierten Coverversionen alter Bluessongs von Howlin‘ Wolf und Little Walter bis Jimmy Reed oder Otis Rush holte sich die Band an den drei Tagen, an denen die zwölf Lieder aufgenommen wurden, neue Kreativität und Kraft. Beispiel gefällig? Die standesgemäß hochoktanige erste Single „Just Your Fool“, die im 1954er Original vom Bluesmann Buddy Johnson und dessen Schwester Ella stammt.

Eric Clapton, der gerade im Nachbarstudio aufnahm, soll bei zwei Songs auf einer von Keith Richards Gitarren mitgejammt haben. Es heißt, er hätte sich ganz so wie damals in den frühen 1960ern gefühlt, als er, der Geradenochteenager, erste Konzerte der Rolling Stones in Londoner Vororten besuchte. Nicht nur damit schließt sich ein Kreis: Mit ihrer Faszination für den amerikanischen Blues und dem Spielen alter Blueslieder haben die Stones vor mehr als fünfzig Jahren als Musiker begonnen begonnen, mit der Aufbereitung alter Bluessongs veröffentlichen sie nun vielleicht ihr wirklich letztes Studioalbum. Nicht, dass den Stones nicht noch mehr zuzutrauen wäre, aber sie werden schließlich nicht jünger. Und weil die Zeit auf niemanden wartet, auch nicht auf die Urheber dieser legendären Songzeile, könnte es sein, dass die Rolling Stones weiter Gas geben und schon im nächsten Jahr ein weiteres Studioalbum veröffentlichen werden. Dieses Mal vielleicht mit eigenen Songs. Allerdings sei die Band trotz guter neuer Songs von Mick Jagger und Keith Richards, der erst 2015 mit „Crosseyed Heart“ eine würdige dritte Soloplatte vorlegte, noch weit davon entfernt, eine weitere Platte fertig zu haben, bremst Don Was alle Erwartungen.

Als die Rolling Stones erst die Titelseite ihrer offiziellen Website sowie ihr ikonisches Logo in Blaurot tauchten, ließ das wegen der Flaggenfarben Kubas auch auf eine Ankündigung der DVD-Veröffentlichung  von „Havana Moon – The Rolling Stones Live in Cuba“ am 11. November 2016  schließen. Ende September wurde der beeindruckende Konzertfilm weltweit in Kinos, etwa im Halleiner Stadtkino, einem der schönsten österreichischen Kinosäle, in Sondervorstellungen gezeigt. Zwei im Internet lancierte 10-Sekunden-Clips, welche die Stones bei der Arbeit im Aufnahmestudio zeigen, wiesen dann aber doch auf das nunmehr offiziell bestätigte neue Studioalbum hin.

rolling-stones-cover-blue-lonesome-bookletEin neues Studioalbum der Rolling Stones? Sind die nicht schon viel zu alt? Saft- und kraftlos? Hochnotpeinlich? Iwo. Auch wenn die Stones diesen Quatsch nun schon seit irgendwann in den 1970ern in schöner Regelmäßigkeit über sich lesen und anhören können, wird er dadurch nicht richtiger. Die Band ist nicht nur naturgemäß durch viele Höhen und Tiefen gegangen, die Rolling Stones sind die erste Band der Rockgeschichte, die diesen Weg mit dem Mumm und der Neugier von Pionieren seit mehr als fünf Dekaden beschritten hat. Und er scheint noch nicht zu Ende. Schauen wir mal, so Keith Richards, wohin dieser Weg die Stones noch führen wird. Jedenfalls sind Richards, Mick Jagger, Charlie Watts und Ronnie Wood, der jetzt auch schon über vier Jahrzehnte ein Rolling Stone ist, seit Jahren musikalisch wieder super drauf und prächtig in Form. Davon zeugen trotz weniger neuer Songs und Studioalben ihre vielen Konzerte rund um den Globus, wie im Frühjahr 2016 in der kubanischen Hauptstadt Havanna oder Anfang Oktober ihr Konzert in der kalifornischen Wüste beim „Desert Trip Festival“.

Schon zuvor resultierten aus ihren Konzerten und Tourneen mehrere hochwertige, mitreißende Livealben und -DVDs: etwa die Rückkehr in den Londoner Hyde Park im Sommer 2013 oder die im doppelten Wortsinn einmalige Liveaufführung des kompletten „Sticky Fingers“ Longplayers 2015 in einem kleinen Club in Los Angeles. Auch die in „Havana Moon“ dokumentierte Show in der kubanischen Hauptstadt vor mehr als einer Million Menschen im März 2016 zeigt die Stones in brillanter Form, mit großem Elan und mitreißender Spielfreude. Das Einzige, was man an dem Film bekritteln kann, ist, dass Regisseur Paul Dugdale nicht weniger als fünf Songs der Setlist herausgeschnitten hat, obwohl der Streifen trotz seiner zwei Stunden nie langatmig wirkt. Ich hätte eine halbe Stunde mehr jedenfalls genossen. Aber die fünf Tracks wurden wohl für die DVD-Veröffentlichung von „Havana Moon“ am 11. November als Bonustracks reserviert. Ein weiterer Appetitmacher für „Blue & Lonesome“, das ab Dezember auch auf zwei 180g Vinyl-LPs die Plattenspieler rocken wird.

The Rolling Stones „Blue & Lonesome“, Polydor, 2016 – Die Songs:  „Just Your Fool“ / „Commit A Crime” / „Blue And Lonesome” / „All Of Your Love” / „I Gotta Go” / „Everybody Knows About My Good Thing” / „Ride ‚Em On Down” / „Hate To See You Go” / „Hoo Doo Blues” / „Little Rain” / „Just Like I Treat You” / „I Can’t Quit You Baby”