Der Nobelpreis für Literatur 2016 geht an Bob Dylan? Die Entscheidung der alljährlich die Nobelpreise vergebenden Schwedischen Akademie für den großen Bobster sorgt weiter für Turbulenzen im Medienmeer. Den jüngst 75 Jahre alt gewordenen Sänger und Songschreiber selbst schien die Auszeichnung für seine „poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition“ gar nicht sonderlich zu rühren. Jedenfalls gab Dylan dazu wochenlang keinen Mucks von sich.
Auch als ihn Mitarbeiter der Schwedischen Akademie telefonisch zu erreichen versuchten, hob er das Telefon nicht ab. Man rätselte auch, ob Dylan am 10. Dezember seinen Literaturnobelpreis in Stockholm persönlich von der Akademie entgegennehmen oder wie anno 1964 der französische Existentialist Jean-Paul Sartre die höchste literarische Auszeichnung überhaupt ablehnen würde. Schließlich hatte der naturgemäß sture Künstler inzwischen auch den kurz auf seiner offiziellen Website stolz blinkenden Hinweis auf den Gewinner des Literaturnobelpreises 2016 wieder entfernen lassen.
Jetzt meldete sich der Meister zwei Wochen nach der Verkündung der Nobelpreisakademie überraschend doch zu Wort. Der Literaturnobelpreis hätte ihn quasi sprachlos gemacht, so Bob Dylan, das sei alles nur schwer zu glauben. Er hätte nie davon zu träumen gewagt. Aber er plane jetzt definitiv, zur Verleihung in Stockholm zu kommen, wenn es ihm möglich sein sollte. Punkt. Freude bei der Akademie.
Ereifern tun sich eh andere. So oder so. Denis Scheck etwa, renommierter Literaturkritiker der ARD, entrüstet sich: „Die Auszeichnung von Bob Dylan ist ein Witz.“ Der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier strahlt hingegen, er freue sich so sehr, als hätte er selbst den Literaturnobelpreis gewonnen. Dramatiker Peter Turrini zeigt sich in Heinz Sichrowskys Literatursendung erLesen auf ORF III verärgert über Dylans Auszeichnung. Schließlich sei Dylan ja ein Liedersänger, kein Poet oder Schriftsteller. Wie bitte? Büchermoderator Heinz Sichrowsky, selbst ein klassisch gebildeter, hochkultureller Schöngeist, meint, er hätte sich gefreut, als er von Dylans Ehrung erfuhr. Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger wiederum bleibt von der Diskussion über Dylans literarische Qualitäten oder Nichtqualitäten sympathisch unberührt. Schließlich huldigt sie lieber Leonard Cohen, den sie für den erotischsten Sänger überhaupt hält, wie sie jüngst in Interviews anlässlich ihres 80. Geburtstages verriet.
Der dermaßen angehimmelte, 82-jährige Cohen wiederum erklärt sowohl die Auszeichnung, als auch die ganze Aufregung darüber für unnötig, denn Bob Dylan den Nobelpreis für Literatur zu verleihen sei in etwa so, als würde man auf dem Mount Everest eine Plakette mit der Aufschrift „Höchster Berg der Welt“ anbringen.
Diskussion beendet. Oder doch nicht. Furioser Auftritt von Sigrid Löffler. Die Grand Dame der deutschsprachigen Literaturkritik und einst ein Viertel von Marcel Reich-Ranickis legendärer TV-Sendung Das Literarische Quartett, wettert naturgemäß schlecht gelaunt gegen die Stockholmer Entscheidung: „Eine fantastische Fehlentschei-dung.“ Bob Dylan sei doch kein Poet, und seine Songtexte wären keine Literatur, da sie ohne Musik ja gar nicht allein als Kunstwerk bestehen könnten. Außerdem lägen Dylans große Leistungen in längst vergangenen Zeiten. Weit daneben ist erst recht vorbei. Hat die gestrenge Literaturkritikerin schon von Bob Dylans auch lyrisch brillanten Alterswerken wie Time Out Of Mind (1997) oder Modern Times (2006) gehört? Und warum sollte ein Sprachkünstler wie Bob Dylan kein Poet sein? Vielleicht wäre es angebracht, einmal die Lyrics von „Mr. Tambourine Man“ (1964) oder „Things Have Changed“ (1997) und anderen Liedern im 2004 erstmals erschienenen BUCH (= Literatur?) Lyrics 1962-2001 mit sämtlichen Songtexten von Bob Dylan (das bald in einer upgedateten Neuauflage erscheinen soll) so ganz ohne Musikbegleitung nachzulesen und einmal nur die Worte wirken zu lassen?
Apropos gesungene Lyrik? Liegt das Liedhafte nicht naturgemäß im Wesen der Lyrik? Waren zum Beispiel nicht auch die lyrischen Werke mittelalterlicher Dichter wie Walther von der Vogelweide gesungene Lieder, und gelten diese heute nicht als Klassiker der Literatur? Waren die mittelalterlichen Minnesänger nicht so etwas wie die ersten, von Burg zu Burg, von Fest zu Fest herumreisenden Popsänger? Auch der vielfach preisgekrönte Schriftsteller Salman Rushdie sieht Bob Dylan im großen Kontext der Songpoesie. Schon seit Orpheus in der griechischen Antike, der selbst die Steine mit seinem Gesang zu Tränen rühren konnte, seien Lied und Poesie immer eng verbunden gewesen, so Rushdie, und „Dylan ist der brillante Erbe dieser Bardentradition. Eine großartige Wahl.“
Bleibt zu fragen, worum es in der Diskussion um Bob Dylans Literaturnobelpreis wirklich geht? Vielleicht um eine grundsätzliche Auseinandersetzung über den Wert oder Unwert der Popkultur? Um die Überlegenheit der wertvollen, anspruchsvollen Literatur und Kunst überhaupt im Vergleich mit der minderwertigen, oberflächlichen Pop- und Rockmusik? War dieses Match nicht längst zugunsten des Pop, der Populär- und Alltagskultur entschieden? Hat nicht schon Peter Handke 1966 als literarischer Jungstar mit Beatlesfrisur den damaligen führenden deutschsprachigen Großschriftstellern wie Günter Grass oder Heinrich Böll ihre „läppische Literatur“ und ihre „Beschreibungsimpotenz“ vorgehalten und die ebenso läppische kontemporäre Literaturkritik beklagt? Hat Handke nicht (singbare) Gedichte wie „Der Text des rhythm-and-blues“ (1966) geschrieben, die nicht zuletzt von Bob Dylan beeinflusst waren? Hat Handke nicht in den „Regeln für die Schauspieler“ zu seinem Avantgarde-Schauspiel Publikumsbeschimpfung (1966) unter anderem notiert, dass sich die Akteure den Song „Tell Me“ von den Rolling Stones anhören und die Filme der Beatles ansehen sollen?
Und das aus gutem Grund. Schließlich stammt die wohl beste, treffendste und wirkungsmächtigste Lyrik der letzten vierzig, fünfzig Jahre aus der von der Hochkultur als Unterhaltungsklimbim geringgeschätzten Pop- und Rockkultur: von großartigen Sprachkünstlern wie Leonard Cohen, Joni Mitchell, John Lennon & Paul McCartney, Motown-Soul-Legende Smokey Robinson, Hal David, dem kongenialen Songtexter von Komponist Burt Bacharach, Paul Simon, Bruce Springsteen, Paddy McAloon (Prefab Sprout) oder Morrissey (The Smiths).
Vielleicht schmerzt der Literaturnobelpreis für Bob Dylan deshalb die Sachverwalter der anspruchsvollen, ach so bedeutenden Literatur und Kunst so sehr, weil er schlecht vernarbte Wunden wieder aufreißt: Man kann es drehen und wenden wie man will, aber beginnend mit Bill Haley und Elvis Presley in den 1950ern hat die Pop- und Rockkultur der (vor allem) 1960er und 1970er nicht nur die Kunst, sondern die Welt überhaupt verändert. Man muss daher im Schlussplädoyer einmal mehr Bruce Springsteens legendäre Songzeile aus seinem Lied „No Surrender“ (1984) anführen: „We learned more from a three-minute-record, baby, than we ever learned in school.“ Selbst wenn Springsteens Worte sentimental verklärte Übertreibung sein mögen, sie treffen ins Schwarze. Autsch.