Neil Diamond: Live In Concert – Cooler als erlaubt

Wegen seiner angegriffenen Gesundheit kann Neil Diamond, der am 24. Jänner seinen 83. Geburtstag feiern konnte, nicht mehr live auftreten oder gar auf Tournee gehen. Was bleibt ist die Erinnerung an seine großartigen Konzerte wie am 27. Mai 2008, wo Neil Diamond in der ausverkauften, vollauf begeisterten Münchner Olympiahalle seine brillanten Qualitäten als Sänger und Entertainer zelebrierte.

Es brauchte nur wenige Minuten, bis Neil Diamond seine Fans in der vollen Münchner Olympiahalle auf die richtige Betriebstemperatur brachte. Ein einziger Song genügte: Diamond spielte zum Auftakt One More Bite Of The Apple seines gerade neuen Albums Home Before Dark, das Kultproduzent Rick Rubin betreut hatte. Man verstand sofort, was den damals 67-jährigen Sänger und Songschreiber mit der grundtraurigen Baritonstimme auch nach fünfzig erfolgreichen Karrierejahren weiter angetrieben hat.

Das Singen, die Songschreiberei, die Bühne, sie ließen Neil Diamond nicht los. Er wollte es noch einmal wissen und suchte eine neue kreative Herausforderung, obwohl er es längst viel gemütlicher hätte haben können in seiner pompösen Villa in Los Angeles, wohin der in Brooklyn, New York, als Sohn einer jüdischen Familie geborene Musiker schon in den 1970ern übersiedelt war, und wo ihn die gepflegte Fadesse geplagt haben dürfte. „Did it once / You can do it once more yeah“, beschwor Diamond seine Muse in One More Bite Of The Apple. Er wollte sich selbst beweisen, dass er sein Songschreiberhandwerk immer noch meisterhaft beherrschte, das er in den 1950ern und 1960ern im Brill Building, dieser legendären New Yorker Popfabrik, erlernt hatte. Und doch musste Neil Diamond lange um seine Anerkennung als großer amerikanischer Songschreiber ringen, weil ihn die hochgestochene Popkritik und Popgeschichtsschreibung als Schlagerlieferanten denunzierte. Verstehen muss man das nicht.

Mit One More Bite Of The Apple begann Neil Diamond also am 27. Mai 2008 seine Live-Show. Die schwarze Akustikgitarre geschultert, durchschritt der Entertainer das Spalier seiner mit vier Backgroundsängerinnen verstärkten elfköpfigen Veteranenband, um am Bühnenrand sein musikalisches Glaubensbekenntnis zu erneuern. Seine Band war eine bunte Mischung aus dem Buena Vista Social Club und einer Showband aus Las Vegas. Diamond sah in seinen engen, schwarzen Jeans, dem schwarzem Westernhemd und dem mit Goldfäden durchwirktem dunklen Sakko verdammt cool aus. Die Bühne gehörte ihm. Sein Charisma unwiderstehlich, sein Gesang grandios, man spürte und glaubte ihm jede Zeile. Dass er ein routinierter, sympathischer Entertainer ist, demonstrierte eine technische Panne nach dem dritten Song. Die drahtlosen Ohrhörer, mit denen der Sänger seine Stimme hätte hören sollen, funktionierten plötzlich nicht mehr. Als ein Roadie minutenlang an Diamond herumnestelte, um das Problem zu beheben, überbrückte dieser die Peinlichkeit mit lässigem Geplauder, das ihn dem Publikum noch näher brachte: „Don’t leave! You will be entertained this evening one way or another!“ – Es folgen, gleich zwei Versionen von „Sweet Caroline“ hintereinander, einmal spontan ohne, einmal mit funktionierenden Ohrhörern gesungen. „Did I do it good?“ Was für eine Frage, Mr. Diamond!

Die Halle tobte. Neil Diamond hatte schon in diesem Moment gewonnen. Seine allerbestens aufspielende Band sowie die superbe Setlist, die immer wieder mit alten, durch funky Latin-Rhythmen aufgepeppten Hits wie I’m A Believer oder Cherry, Cherry auflockert wurde, tat das Übrige. Dann folgten mehrere Songs des 1976 von Robbie Robertson (The Band) produzierten Klassikers Beautiful Noise, einem der besten Alben des Sängers. Diamond war damals auch beim Abschiedskonzert von The Band auf der Bühne, und somit auch im von Martin Scorsese gedrehten Konzertfilm The Last Waltz. Bob Dylan soll damals Neil Diamond hinter der Bühne bösartig verhöhnt haben. Aber selbst ein Bob Dylan kann irren. Weshalb Rick Rubin nach seinen Produktionen für Country-Altstar Johnny Cashauch Neil Diamond rehabilitieren wollte. Home Before Dark, nach dem 2005er Werk 12 Songs schon die zweite Zusammenarbeit der beiden, hievte den Sänger mit seinen jetzt in spartanische Arrangements gekleideten Songs zum ersten Mal in seiner Laufbahn gleichzeitig auf den ersten Platz der Albumscharts auf beiden Seiten des Atlantiks.

Auch in seinen neuen Liedern ging es Neil Diamond um seine Hauptthemen – um Sehnsucht, Einsamkeit, Hunger nach Liebe und zwischenmenschlicher Nähe, um einen Sinn im Leben. Den tiefschürfenden Titelsong von Home Before Dark sang er im Münchner Konzert nach zwei zartbitteren Songs aus seinem alten Kinofilm The Jazz Singer allein zur Akustikgitarre am Barhocker. Es folgten die wehmütigen Sehnsuchtsballaden Brooklyn Roads, I Am… I Said und Solitary Man – alles größte Singer/Songwriter-Kunst. Daran konnten auch die etwas kitschig inszenierten You Don’t Bring Me Flowers und Song Sung Blue nicht rütteln. Rick Rubin wusste nur zu gut, warum er ein Jahr lang Nachrichten auf Diamonds Anrufbeantworter hinterlassen hatte, um mit ihm arbeiten zu können. Neil Diamond gebührt größter Respekt.

Neil Diamond, Olympiahalle München, 27. Mai 2008 – Die Setlist:

One More Bite Of The Apple / Holly Holy / Street Life / Sweet Caroline (spontan ohne Monitorkopfhörer)  / Sweet Caroline / Beautiful Noise / Lady Oh / If You Know What I Mean / Cherry, Cherry / Thank The Lord For The Night Time / Hello Again / Love On The Rocks / Home Before Dark / Don’t Go There / Pretty Amazing Grace / Crunchy Granola Suite / Done Too Soon / Brooklyn Roads / I Am… I Said / Solitary Man / I’m A Believer / You Don’t Bring Me Flowers / Song Sung Blue / Man Of God / Hell Yeah / Cracklin’ Rosie / Brother Love’s Travelling Salvation Show

 (Erstveröffentlicht in: now! N° 69, Juni 2008, im Jänner 2024 komplett überarbeitet)

Record Collection N° 240: Neil Diamond “The Bang Years 1966-1968” (Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011)

Als Neil Diamond beim Songschreiben seine Muse gefunden hat: The Bang Years 1966-1968 bietet einen Überblick über Neil Diamonds frühes, großartiges Schaffen in den 1960ern – ein wundervoller Mix aus lebensfrohem Pop und schwermütigen Balladen.

The Bang Years 1966-1968 dokumentiert ein faszinierendes frühes Kapitel des im Jänner 1941 in Brooklyn, New York geborenen Sängers und bietet einen Überblick über Neil Diamonds Schaffen in den 1960ern. Mit den 23 hier gesammelten Songs und den ehrlichen autobiografischen Liner Notes von Neil Diamond entsteht ein bewegendes, lebendiges Porträt eines aufstrebenden, endlich etwas reißen wollenden, hungrigen Sängers und Songschreibers, der seinem Talent vertraut, und mit seinen Songs seiner inneren Leere zu Leibe rückt.

Mit 16 bekam Neil Diamond, der Sohn einer polnisch-russischen Einwandererfamilie jüdischen Glaubens, zum Geburtstag eine Gitarre geschenkt. Er wollte Sänger werden und seine eigenen Lieder schreiben. Nach Jahren des Scheiterns versuchte er, das Songschreiberhandwerk im legendären New Yorker Brill Building zu erlernen, einer Hitfabrik, wo professionelle Songschreiber-Teams wie Jerry Leiber und Mike Stoller, Carole King und Gerry Goffin oder Ellie Greenwich und Jeff Barry am laufenden Band wunderbare Pophits komponierten und produzierten. Leider und Stoller etwa Jailhouse Rock oder King Creole für Elvis Presley, King und Goffin Will You Still Love Me Tomorrow von den Shirelles oder The Loco-Motion für Little Eva, Greenwich und Barry Be My Baby oder Baby, I Love Youfür die Ronettes. Ein ähnlich großer Wurf gelang Neil Diamond im Brill Building, wo Ellie Greenwich ihm die Türen geöffnet hatte und Leiber und Stoller ihn als bezahlten Songschreiber unter Vertrag nahmen, aber nicht. Noch nicht.

Mitte der 1960er stand Neil Diamond daher das Wasser bis zum Hals. Als herzlich erfolgloser Möchtegernsänger und Auftragssongschreiber kämpfte er ums künstlerische und finanzielle Überleben. Er war frustriert, weil der Erfolg auf sich warten ließ, er aber schon eine kleine Familie zu ernähren hatte und der Schritt, schlussendlich in einem „normalen“ Job versauern zu müssen, bedrohlich näher rückte.

Nach dem Rauswurf aus dem Brill Building,weil ihm keine Hitkompositionen gelangen, ging Neil Diamond plötzlich der Knopf auf. „Ich setzte mich hin und machte, was ich immer machte, wenn ich glücklich und begeistert war. Ich schrieb Songs, aber dieses Mal nicht einfach Songs, sondern Lieder, die meine echten Gefühle ausdrückten. Es war, als ob ich mein Inneres anzapfte“, notiert Diamond in seinen Liner Notes von The Bang Years. Und er nutzte die Kontakte, die er im Brill Building geknüpft hatte. Ellie Greenwich, der er anvertraut hatte, dass er eigentlich seine eigenen Songs schreiben und singen wollte, empfahl ihn an Atlantic Records weiter, wo er für den von den Atlantic-Bossen gegründeten Ableger Bang Records unter Vertrag genommen wurde.

Die 23 Songs auf The Bang Years, die Neil Diamond 1966 und 1967 für Bang Records aufgenommen hat, wurden großteils von Ellie Greenwich und Jeff Barry produziert, finden sich fast alle auf seinen ersten beiden Alben, und sind hier im originalen Mono-Sound zu hören – ein grandioser Mix aus lebensfrohem, ausgelassenem Pop und üppigen, schwermütigen, aber auch genießerisch schwelgenden Balladen.

Schon Diamonds erste Single Solitary Man, eine Art mürrisch-melancholischer Country-Ballade, knackte im Frühjahr 1966 die US-Charts. „Mein Leben hatte sich damit für immer verändert“, meint Diamond. Mit dem überschäumenden, liebestrunkenen, mit einem Latin Groove gepfefferten Gute-Laune-Song Cherry, Cherry, einem Drei-Akkord-Rock’n’Roll-Wunder, gelang Neil Diamond dann der erste eigene Top-Ten-Hit, während The Monkees mit seinem Knaller I’m A Believer einen Nummer-1-Hit hatten. Solitary Man und Cherry, Cherry stammen von Diamonds 1966er Debütalbum The Feel Of Neil Diamond. Auf beide Songs und etliche andere von The Bang Years wollte Diamond zu Recht in seinen Konzerten nie verzichten.

Auf Cherry, Cherry folgen die theatralische Ballade Girl, You’ll Be A Woman Soon, sein 2. Top-Ten-Hit in den USA, von seinem zweiten Album Just For You (1968), das Jahre später Urge Overkill grandios coverten für den Soundtrack von Quentin Tarantinos Kultfilm Pulp Fiction. Das schwungvolle, schon im später typischen Neil-Diamond-Stil scheinbar schwebende Kentucky Woman, seine letzte Single für Bang Records, vom Oktober 1967, das ein Jahr später von Deep Purple gecovert wurde. Der Rhythm and Blues-Groover Thank The Lord For The Night Time und der stramme Rocker You Got To Me. Neil Diamonds eigene mitreißende Version von I’m A Believer und Red Red Wine, das 1969 ein großer jamaikanischer Reggae-Hit für Tony Tribe war, in den 1980ern in England nochmal für UB 40. Der knackige aufgekratzte, pure Pop von The Boat That I Row, den 1967 die schottische Sängerin Lulu zum Hit machte. Im hymnischen Do It vermag man schon den künftigen Neil Diamond zu hören, beim majestätischen The Long Way Home und dem klingelnden Folkrocker I’ve Got The Feeling (Oh No No) ist es nicht anders. Someday Baby hat den düsteren Beat von Velvet Underground.

Zwischendrin eingestreut sind einige energiegeladene Coverversionen, die von Neil Diamonds Einflüssen künden und alle von seinem 1966er Debütalbum stammen, das zweiteJust For You brachte nur noch selbstverfasste Songs. New Orleans (Gary U.S. Bonds), Monday, Monday (The Mamas and The Papas), Red Rubber Ball (Paul Simon), La Bamba (Ritchie Valens), Hankie Panky (Tommy James and the Shondells, geschrieben von Ellie Greenwich und Jeff Barry).  

Am Ende machen sich Shilo, Diamonds erste große Powerballade, die er mit seiner starken Baritonstimme, festem Einzelgänger-Blick und mächtigen Koteletten grandios präsentiert, und das bluesige The Time Is Now, die B-Seite von Kentucky Woman, schon auf den ernsten, grüblenden Singer-Songwriter-Pfad, den Neil Diamond nach den wenigen Jahren bei Bang Records, wo er wegen künstlerischer und finanzieller Differenzen das Weite suchte, beschritten hat.

Neil Diamond The Bang Years 1966-1968, Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011

© Bang Years Pic by the author.

Frank Sinatra (1915 – 1998): Die Stimme des 20. Jahrhunderts

Francis Albert Sinatra, kurz Frank genannt, wurde am 12. Dezember 1915 geboren, am 14. Mai 1998 hörte sein Herz auf zu schlagen. Seine Stimme, seine Songs, sein Mythos werden auch über seinen 108. Geburtstag hinaus weiterleben.

So könnte es gewesen sein: Im Anfang war das Wort, das irgendwann einmal Fleisch geworden ist. Aber als es darum ging, dem Wort eine Stimme zu geben, drängte sich Frank Sinatra, ein kleiner, schlaksiger Italo-Amerikaner rücksichtslos in die erste Reihe und reifte über die Jahre zum Sänger von beinah mythischem Zuschnitt, zur Inkarnation des Sängers schlechthin. Der Sänger, der da vorne ganz allein im zerknitterten Anzug im Scheinwerferlicht am Bühnenrand steht und sich die Seele aus dem Leibe singt, das ist Frank Sinatra. Und er wird es bis in alle Ewigkeit bleiben, auch wenn am 15. Mai 1998 sein Herz nicht mehr länger schlagen wollte.

Seit Orpheus vermochte kein Sänger mehr Gefühle so wahrhaftig vermitteln wie Frank Sinatra. Kein anderer sang so bewegend von höchstem Glück und tiefstem Schmerz, von romantischen Wonnen und zerbrochenen Lieben. Sinatra mag vielleicht nicht der allergrößte Stimmvirtuose gewesen sein. Was aber seine mal butterweich gefühlvolle, mal messerscharf coole Phrasierung, seine klare, immer verständliche Diktion, sein Gefühl für Melodien, sein rhythmisches Sensorium, seine großartige Atemtechnik, sein Einfühlungsvermögen, seine Überzeugungskraft anlangte, da war Frank Sinatra unerreicht. Er verstand es wie kein anderer, mit seinem Gesang in seinen Liedern eine Geschichte zu erzählen. Und er verfeinerte diese Fähigkeit kontinuierlich, kompensierte mit den Jahren die schwindende stimmliche Kraft mit wachsender künstlerischer und menschlicher Reife.

Frank Sinatra hatte es nie nötig, eigene Lieder zu schreiben, er machte alle Lieder, die er sang, zu seinen eigenen. Man glaubte und glaubt ihm jedes Wort, wenn man ihn singen hört. Weil Sinatra selbst jedes Wort glaubte, wenn er sang. Er wollte, dass sein Publikum jedes Wort fühlt und genauso hat er es auch gesungen, ohne irgendwelche manierierten Tricks, ohne jede Heuchelei. Im Idealfall ist Frank Sinatra so sehr mit seinem Gesang, mit dem von ihm vorgetragenen Lied verschmolzen, dass man nicht mehr unterscheiden kann, wo der Künstler aufhört und der Mensch anfängt, wo die Kunst endet und die Realität beginnt. Ganz egal, ob es sich um eine seiner tieftraurigen Balladen, einen seiner alkoholvernebelten Saloon Songs, eines seiner beglückenden Liebeslieder oder eines der vielen aufgekratzten Swingstücke handelt, die einen das Leben und die Welt immer wieder aufs Neue zu lieben lehren.

„Richtiges Singen heißt Schauspielen“, bekannte Frank Sinatra einmal in einem Interview, „ich bin immer vollkommen in den Song involviert. Ich kann gar nicht anders. Wenn eine zerbrochene Liebe beklagt wird, dann tut mir in den Eingeweiden alles weh. Ich schreie die Einsamkeit, den Schmerz einfach raus. Als 18-karätiger Manisch-Depressiver kann ich das ganz gut. Was immer der Schreiber mit einem Song sagen will, ich war schon dort. Ich weiß, worum es geht.“

So war es wirklich: Francis Albert Sinatra wurde am 12. Dezember 1915 in Hoboken, New Jersey geboren, auf der anderen Seite des Flusses lag Manhattan, lockte das verheißungsvolle New York. Seine Eltern waren sizilianische Emigranten. Der Vater Marty war Feuerwehrmann, Mutter Dolly, die Frank abgöttisch liebte, war Hebamme und Gerüchten zufolge auch Engelmacherin und mit den örtlichen Mafiosi recht gut bekannt. Bei der Geburt starb der kleine Frank beinahe. Die Narben in seinem Gesicht stammten von der Zange, mit der ihn der Arzt mehr tot als lebendig auf die Welt zerrte. So einer musste ja ein Kämpfer werden, meinen seine Biographen und seine Tochter Nancy: „Die unglaublichen Schmerzen, das verzweifelte Ringen um Luft, dieser Kampf ums Überleben von der ersten Sekunde an – das hat Vaters Charakter grundlegend geprägt und ist immer seine wichtigste Antriebskraft geblieben.“

Der kleine Frank überlebte und wuchs als Einzelkind in Hoboken auf. Ein kleingewachsener, dürrer Arbeiterklassejunge mit großen Ohren. Ein schüchterner Einzelgänger, ein Underdog, der mit Gesetz und Polizei öfter in Konflikt kam, wie andere in der Verwandtschaft auch. Mit 16 ging er von der Schule ab, ganze 47 Tage hatte es ihn auf der High School gehalten, und er versuchte sich an einer Reihe von Jobs: als Zeitungsausträger, Liftboy, Sportreporter, Taxifahrer, singender Kellner. Das Singen nahm er ernst, der Besuch eines Konzertes von Bing Crosby gab seinem Leben eine entscheidende Wende, seither war er überzeugt, so etwas wie Bing Crosby auch zu können. Außerdem pilgerte er regelmäßig in die Jazzclubs in der 52. Straße, wo Billie Holiday, die er verehrte, regelmäßig auftrat. Franks erste Gesangsversuche fielen aber kläglich aus.

Frank Sinatra nahm also wie besessen Gesangs- und Sprechunterricht. Mit Erfolg. Nachdem er zunächst mit dem Vokalquartett Hoboken Four durch die Gegend tingelte, engagierte ihn der gerade immens erfolgreiche Orchester-Chef Harry James im Juni 1939 als Vokalisten für seine Big Band. Knappe sechs Monate später wechselte Frank Sinatra ins Orchester von Tommy Dorsey, wo er seine wichtigsten Lehrjahre absolvierte. „Anfang 1940 begann ich bei Dorsey, meinen eigenen Stil zu entwickeln“, erinnerte sich Sinatra später und meinte, dass er seine phänomenale Atemtechnik und die nicht zuletzt daraus resultierenden Phrasierungsmöglichkeiten dem Vorbild des Posaunisten Tommy Dorsey verdankte. Sinatra ging regelmäßig schwimmen, tauchte lange Strecken und memorierte dabei Songtexte und lernte, so wie Dorsey unmerklich Luft zu holen. „So konnte ich bald sechs, oft auch acht Takte lang singen, ohne groß zu atmen. Das gab der Melodie einen fließenden, ungebrochenen Charakter. Schon allein dadurch klang ich anders.“

Frankieboy: Im September 1942 verließ Frank Sinatra das Orchester von Tommy Dorsey und versuchte als erster Tanzorchester-Sänger eine Solokarriere. Er nahm Dorseys genialen Arrangeur Axel Stohrdal mit, der die nächsten zehn Jahre seine Stimme in wunderschön romantische Streicherarrangements bettete, und unterschrieb einen Plattenvertrag für die Firma Columbia Records. Mit seinen ersten Soloplatten, einer eigenen Radioshow und einigen Hollywoodfilmen wurde Frankieboy, wie ihn seine Fans nannten, schnell zum ersten richtigen Popstar, zum Teenageridol und Freudenspender einer ganzen Mädchengeneration. 1943 berichtete die Zeitschrift Life: „Jeden Samstagnachmittag ist der Gehsteig vor dem CBS-Schauspielhaus an der Kreuzung Broadway/53. Straße, wo Frankieboy für seine Radioshow probt, vollgestopft mit Mädchen, die kreischen und schluchzen. Seine Stimme richtet etwas Ungewöhnliches mit ihnen an. Im Riobamba, dem Nachtclub, in dem Sinatra gerade auftritt, meinte vor kurzem ein Gast, dass das, was Sinatras Gesang den Mädchen antue, höchst unmoralisch sei. Aber, so fügte er nach einem Blick auf das Meer ekstatischer Gesichter hinzu, es scheint ihnen Spaß zu machen.“

Amerika stand Kopf. In den zugeknöpften 1940er Jahren war die samtig sanfte Stimme von Frankieboy ein Aphrodisiakum, das den amerikanischen Teenagergören samt Müttern und allen einsamen Soldatenbräuten Zutritt zu einem mysteriösen erotischen Universum verschaffte. Wo Frank Sinatras Lieder von romantischen Träumen, flüchtigen Küssen, purer Liebe redeten, verhießen sie in Wahrheit Sex, Lust, Orgasmen. Frankieboy, der nette dünne Jüngling, war ein gefährlicher Tramp. Kein Wunder, dass FBI und CIA sich für ihn interessierten, und die Regenbogenpresse ihn geißelte und sich genüsslich an seinem folgenden kommerziellen und künstlerischen Absturz weidete.

Frankieboy am Boden: Wie wir heute wissen, zürnen die Götter irgendwann einmal jedem Teenageridol. Frankieboy bekam das wohl als erster, ohne jede Vorwarnung, zu spüren. Elvis flüchtete sich später in die US-Armee, die Beatles ließen sich Bärte wachsen und fuhren nach Indien zu einem Guru auf Sommerfrische. Aber Frank Sinatra? Er verkaufte plötzlich keine Platten mehr, und seine Hollywoodfilme wollte auch niemand mehr sehen. Anfang der 1950er Jahre stand er plötzlich ohne Platten- und Filmvertrag da. Zu allem Pech war seine Stimme nach einer Stimmbänderblutung lädiert. In gefährliche Turbulenzen geriet auch sein Privatleben. Seine erste Ehe mit Nancy, der Mutter seiner drei Kinder, Tina, Nancy und Frank Jr., war gescheitert, weil Sinatra immer wieder Affären hatte, mit unbekannten Nachtclubtänzerinnen genauso wie mit den schönsten Frauen Hollywoods. Seine zweite Ehe mit der Schauspielerin Ava Gardner, der großen tragischen Liebe seines Lebens, zerbrach ebenfalls und soll ihn sogar in einen Selbstmordversuch getrieben haben. Das bigotte, konservative Mittelstandsamerika atmete erleichtert auf: Schließlich hatte Sinatra, der Emporkömmling, nie so recht die Tischmanieren der feinen Gesellschaft angenommen, auch wenn er noch so sehr um ihre Anerkennung buhlte. Allein, er prügelte sich zu oft, soff ganze Tage und Nächte mit seinen Freunden, dem sogenannten Rat Pack durch, suchte die Nähe von Mafiabossen, schlief mit viel zu vielen zu schönen Frauen. Und zu allem Überdruss machte er sich auch noch bei jeder Gelegenheit für die Rechte der unterdrückten Schwarzen und für andere liberale Ideen stark, die im damaligen Klima praktisch als kommunistisch galten. Dass Sinatra jetzt am Boden war, gönnte ihm die große Mehrheit der Amerikaner.

Das Comeback: Frank Sinatra dachte aber nicht daran aufzugeben, jedenfalls nicht lange. Der Mann hatte ein Herz wie Löwe, und mehr Mumm in den Knochen als Arnold Schwarzenegger, Sylvester Stallone und Bruce Willis zusammen. Er spielte 1953 für eine minimale Gage den Soldaten Angelo Maggio im Hollywoodkriegsdrama Verdammt in alle Ewigkeit, bekam dafür einen Oscar und einen neuen Plattenvertrag mit Capitol Records, wo er – erwachsen geworden – sein einziges echtes Comeback schaffte. Auch seine Stimme war gereift. Merklich tiefer geworden, war sie vom Tonumfang zwar nicht mehr ganz so brillant und flexibel, wirkte aber noch eindringlicher und gefühlvoller als früher.

In den Capitol-Jahren passte für Frank Sinatra einfach alles. Er arbeitete mit den besten Songschreibern und Arrangeuren zusammen, und mit den genialen Orchesterchefs Nelson Riddle, Billy May und Gordon Jenkins. Mit ihnen erfand er ein neues Medium: die Langspielplatte. Zwar hatte Sinatra schon 1945 mit Axel Stohrdahl mit The Voice eine Art Album aufgenommen, doch jetzt produzierte er bei Capitol Records in knapp neun Jahren an die zwanzig Konzeptalben, deren Songs jedes Mal eine bestimmte Grundstimmung, ein übergeordnetes Thema zum Inhalt hatten. Während allein schon die schönen Plattenhüllen einzigartig sind, werfen einen die großartige Musik und Sinatras wunderbarer Gesang einfach um. Grandiose Alben wie In The Wee Small Hours oder Only The Lonely reihten eine traurige Ballade an die andere, und porträtierten The Voice als einsamen Wolf, als an der Liebe und am Leben Leidenden. In Song For Swinging Lovers und Nice ‘N’ Easy zelebrierte er den lebenslustigen, erfahrenen Liebhaber. In Come Fly With Me und Come Swing With Me gab er weltgewandten, beschwingten Lebemann.

Die Frauen – sie liebten und begehrten Frank Sinatra einmal mehr. Und die Männer? Sie bewunderten ihn jetzt erst recht. Und mal ehrlich, wer wäre nicht gern einmal so wie Sinatra gewesen? Zumal er auch modisch einen erstklassigen Stil hatte. Mit seinen scharfen Anzügen, seinen Krawatten und Hüten und seiner ganzen weltmännischen Art war er der Inbegriff der Coolness, das Inbild des modernen Nachkriegsmannes. Ein runderneuerter Erwachsener, der reif geworden worden war, ohne verknöchert zu werden, und der sich auch im fortgeschrittenen Alter die richtige Haltung, sein Herz und die nötige Lässigkeit bewahrte.

Ol’ Blue Eyes: Danach musste Frank Sinatra niemandem mehr etwas beweisen. Er hatte alles erreicht. Er gründete Anfang der 1960er Jahre seine eigene Plattenfirma Reprise Records, wo er der Chairman Of The Board war, und produzierte weiterhin ein Album nach dem anderen, mit jetzt öfter auftretenden Formschwankungen. Er förderte die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten und wandte sich dennoch aus Trotz den konservativen Republikanern zu, als sich Kennedy wegen seines Lebenswandels und seiner angeblichen Kontakte zur Mafia von ihm distanzierte. Er sang mit Strangers In The Night und That’s Life weitere Welthits und versuchte sich an neuen Popliedern, die nicht immer für ihn passten.  Frank Sinatra wollte als Sänger nicht von der Bühne abtreten, dabei sein, dran zu bleiben war für ihn alles. Er wollte nicht wahrhaben, dass die Welt und die Musik inzwischen völlig anders waren als in jener Zeit, aus der er stammte. Ol’ Blue Eyes, wie er sich mittlerweile selbst scherzhaft nannte, wollte immer noch dazu gehören und gehört werden. Sein beherztes Streben war, wie bei allen Helden, ein wenig tragisch, ein wenig lächerlich, aber auch bewundernswert. Und wenn er einen guten Tag, einen guten Song, ein gutes Orchester erwischte, war er immer noch großartig. Als 1968 weltweit die Studenten gegen den Vietnamkrieg demonstrierten, forderte er mit seinem Seelenbruder Dean Martin in einer Bar in Las Vegas mit einem selbstgemalten Schild „Freie Mädchen für alle“. Als  sich 1969 die Hippie-Generation in Woodstock zusammenkauerte, verweigerte The Voice die Teilnahme und konterte seelenruhig mit „My Way“. Was sollten ihm denn die paar Hippies schon vormachen? Vom Leben wusste er doch selbst mehr als genug.

Der lange Abschied: 1971 dankte Frank Sinatra überraschend ab, und sang auf der Bühne die letzte Zeile „’Scuse me while I disappear…“ und verschwand im Dunklen. Zwei Jahre später hatte er Golfspielen, Pokernächte und Martinischlürfen satt und kehrte mit neuer Platte und einer Reihe von Konzerten zurück: Ol’ Blue Eyes is back, hieß es nun. In seinen letzten beiden Dekaden wechselten allerletzte Tourneen, Abschiedskonzerte und immer seltener werdende Plattenproduktionen einander ab. Auch seine letzten beiden Duets-Alben, auf denen er mit jungen Popstars noch einmal seine alten Klassiker sang, entsprangen seinem unbedingten Willen, nicht aufgeben zu wollen. Sie waren ein letztes Aufbäumen, machten aber schmerzlich bewusst, dass selbst ein göttlicher Sänger wie Ol’ Blue Eyes einmal den Weg alles Fleisches würde gehen müssen. Aber davor sang der Alte in einem Duett mit U2-Sänger Bono den Jungen noch einmal in Grund und Boden. Während sich jener aufplusterte wie ein geiler Gockel, der seit Monaten keine Henne mehr gesehen hat, war Frank Sinatra souverän, cool, abgeklärt und bewegend wie eh und je.

Eines seiner letzten Konzerte sang The Voice am 5. Juni 1993 in Stuttgart: Seine Stimme war schon zittrig und brüchig, und weil er sie sich nicht mehr merken konnte, musste er die Songtexte er vom Teleprompter ablesen. Als er aber Lieder wie die tieftraurige Ballade One For My Baby anstimmte, rührte er nicht nur den im Publikum befindlichen Autor dieser Zeilen zu Tränen. Der alte Frank war schlicht und einfach großartig, sein Charisma, seine Stimme, sein Sexappeal, seine Überzeugungskraft, sie wirkten noch immer. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie alle ihren 1000. Geburtstag erleben“, scherzte er zum Abschied, „und die letzte Stimme, die Sie vor ihrem Tod hören, soll dann die meine sein.“ Das Lachen blieb einem im Hals stecken.  Frank Sinatra ist nicht freiwillig von der Bühne und dieser Welt abgetreten. Dafür hat er das Leben, die Frauen, das Singen zu sehr geliebt. Ist die Welt nach seinem Abgang dieselbe geblieben? Nein. Mit Frank Sinatra hat sich das 20. Jahrhundert verabschiedet.

Basiert auf einem im Juni 1998 anlässlich des Ablebens von Frank Sinatra veröffentlichten Essay, komplett überarbeitet und erweitert im Dezember 2023

© Cover pics snapped by the author.

Record Collection N° 33: The Beatles „Please Please Me“ (Parlophone, 1963)

„One, two, three, four!“ – Als Paul McCartney auf „Please Please Me“, dem 1963er Debütalbum der Beatles, eine Zeitenwende einzählte: den Urknall von Pop- und Rockmusik und den gesellschaftlichen Umbruch und Modernsierungsschub der 1960er Jahre.

„One, two, three, four!“ – Der 20-jährige Paul McCartney zählte so nicht nur den elektrisierenden Beat-Kracher I Saw Her Standing There, den Auftaktsong des Debütalbums der Beatles, ein – er behauptete später, eigentlich hätte er „One, two, three, f..k!“ gezählt. Pauls kecke Ansage ist jedenfalls die Initialzündung für den Urknall der Pop- und Rockmusik. Und für den gesellschaftlichen Umbruch und Modernisierungsschub der 1960er Jahre. Mit Please Plase Me  erfanden die Beatles die Beatmusik, also den Sound wie eine Rock- und Popband ab sofort klingen sollte. Energiegeladene Schlagzeug-Beats, melodiös pumpende Bassläufe, das scharfe, dynamische Duo von Rhythmus- und Sologitarre, leidenschaftlicher Gesang und betörende Gesangsharmonien.

Zehn der der 14 Songs von Please Please Mew wurden mit dem für die EMI arbeitenden Musikproduzenten George Martin, einem typisch britischen, vornehmen Gentleman, binnen zehn Stunden am 11. Februar 1963 in den Londoner Abbey Road Studios aufgenommen – obwohl die Beatles eigentlich gerade auf einer Tournee mit der englischen Popsängerin Helen Shapiro waren. Die Aufnahmen wurden aber rasch wegen des ersten britischen Nummer-1-Hits der Beatles, Please Please Me, angeordnet, mit dem sich die vier Musiker aus Liverpool sofort von den vielen anderen britischen Gitarrenbeatbands absetzen konnten, die Anfang der 1960er diesseits des Atlantiks beim Rock & Roll von Elvis Presley Feuer gefangen hatten.

Ihren rauen, furiosen Stromgitarren-Rock & Roll hatten die Beatles in Hunderten von Live-Auftritten in kleinen Szene- und Kellerlokalitäten wie dem Cavern Club in ihrer Heimatstadt Liverpool oder dem Star Club in Hamburg von der Pike auf gelernt, ebenso die schmusigen Herzdrückballaden zum Verschnaufen zwischendurch. Auf der Plattenhülle der von einer deutschen Programmzeitschrift „Hör Zu“ herausgegebenen Sonderauflage von Please Please Me lockte der Werbespruch „Die zentrale Tanzschaffe der weltberühmten Vier aus Liverpool“. Falsch war das nicht, denn selbst zu den langsameren Songs auf der Platte ließ sich ob ihres lässig schäkernden Grooves gut tanzen.

Die englische Originalhülle zeigte das legendäre Foto der Fab Four im Stiegenhaus des Londoner EMI-Hauptquartiers. Ende der 1960er stellten die Beatles mit langen Haaren und Bärten das Foto noch einmal nach – für das Cover des letztlich nicht realisierten Get Back-Albumprojekts. Auf der Cover-Rückseite die schlichte Vorstellung der vier jungen Musiker, man beachte die Reihenfolge: George Harrison (Sologitarre, noch keine 20 Jahre alt), John Lennon (Rhythmusgitarre, 22), Paul McCartney (Bassgitarre, 20), Ringo Starr (Schlagzeug, 22).

Vier Namen, die man sich fortan merken sollte. Ihr explosiver Mix aus Rock & Roll-Krachern und Schmachtfetzen – aus acht klasse Eigenkompositionen und sechs gut gewählten fremden Songs aus ihrem erprobten Live-Programm – kündigte Großes an. Eingerahmt wird Please Please Me von zwei der zündendsten Dynamitrocker, die die Beatles je aufgenommen haben. Das selbst geschriebene I Saw Her Standing There geht gleich zu Beginn gewaltig los. Die Lichter bläst am Ende der welterschütternde Rock’n’Roll von Twist and Shout aus, das sich die Beatles genauso selbstverständlich zu Eigen machen wie alle anderen Coverversionen der Platte.

Während John Lennon sich ohne Rücksicht auf seine malträtierten Stimmbänder durch Twist and Shout schreit, schmachtet er auch Burt Bacharachs Baby It’s You mit großer Leidenschaft. Paul McCartney kehrt in A Taste Of Honey schon einmal den charmant charismatischen Romantike hervor, allerdings einen mit rauer Schale. Und der von Carole King geschriebene Girl-Group-Hit Chains wird von John, Paul & George mit perlendem Harmonie-Gesang vorgetragen, der auf den 2009er Beatles-Remasters noch brillanter strahlt.

Die Gesangsparts zählen neben Bass und Schlagzeug zu den großen Gewinnern der 2009er Remasters des gesamten Beatles-Katalogs. Welche Nuancen der kraftvoll klare, transparenter abgestimmte Sound jetzt hörbar macht, tritt auch in Boys zu Tage, das Schlagzeuger Ringo singt. Die Rhythmus-Gruppe mit Ringo Starrs dynamischem Getrommel und Paul McCartneys druckvollem, hochmelodiösem Bassspiel ist eine Offenbarung und auch George Harrisons schneidige Sologitarre fetzt voll in der Manier von Country-Gitarrist Chet Atkins. Die Eigenkompositionen, die hier übrigens noch dem Duo McCartney/Lennon zugeschrieben sind – ab dem zweiten Album With The Beatles sollte es Lennon/McCartney heißen –, werden von den beiden Hitsingles Love Me Do und Please Please Me angeführt – zwei famose Rock’n’Roller, denen Misery oder There’s A Place nicht nachstehen. Süßlich säuselnd hingegen die Balladen P.S. I Love You, Ask Me Why und das von George Harrison gesungene Do You Want To Know A Secret.

Die 1987er CD-Ausgabe brachte die ersten vier Alben der Beatles im klassischen Mono-Sound, der stumpf und dumpf aus den Lautsprechern kam. Die 2009er Remasters präsentieren dagegen erstmals George Martins Stereo-Mix aus den 1960ern auf CD – mit der  gewöhnungsbedürftigen Links-/Rechts-Aufteilung von Instrumenten und Stimmen, die in vollem Effekt aber schon enormen Druck machen kann. Die in der The Beatles In Mono-Box neu remasterte, originale Monoversion klingt aber noch energiegeladener, rauer, wilder – voll auf den Punkt. Ganz abgesehen davon, dass die Beatles selbst aus dem läppischsten Plastikradio und der stumpfesten Küchenmaschine noch hinreißend rausrocken – so gut wie anno 2009 haben die Beatles seit den alten Vinyl-Platten der 1960er Jahren nicht mehr geklungen.

Please Please Me ist auch Jahrzehnte nach seinem Entstehen noch taufrisch, voll Charisma, jugendlicher Energie und unwiderstehlichem Enthusiasmus.

The Beatles Please Please Me, Parlophone, 1963/2009

© Please Please Me pics taken by the author.

Record Collection N° 124: Bruce Springsteen „The Promise” (Columbia Records, 2010)

Diese mehr als 30 Jahre lang offiziell unveröffentlichten Songs sind eine Art Heiliger Gral in Bruce Springsteens Schaffen.

Es gibt sie also wirklich all diese Songs, die Bruce Springsteen 1977 alle für sein viertes Studioalbum Darkness On The Edge Of Town mit der E Street Band eingespielt hat. Und es dürften in den Archiven davon noch mehr zu finden sein. Nachdem Springsteen 1975 mit dem epochalen Longplayer Born To Run künstlerisch und kommerziell der große Durchbruch gelang, schlitterte der 26-jährige Musiker überraschend in eine Krise. Ein Rechtsstreit mit seinem Manager Mike Appel hinderte ihn über ein Jahr lang, neue Songs aufzunehmen. Als Springsteen die Kontrolle über sein Werk zurück gewann, hatte sich in seinen eng beschriebenen Notizbüchern eine Vielzahl von neuen Songs angesammelt, die er nun, wie im Rausch mit der E Street Band im Studio aufnahm.

Bruce Springsteen selbst notiert im begleitenden Essay zu The Promise, dass damals Material für vier Alben aufgenommen wurde, ehe er die zehn Songs für das im Juni 1978 veröffentlichte Darkness On The Edge Of Town auswählte. Einige der nicht verwendeten Lieder landeten auf späteren Alben (Sherry Darling etwa auf The River), andere wie Fire oder Because The Night wurden Hits für andere Künstler (Pointer Sisters, Patti Smith).

Das 2010 veröffentlichte Doppelalbum The Promise, das es allein stehend und als Kernstück der aufwändigen, amtlichen Werkausgabe The Promise: The Darkness On The Edge Of Town Story mit 3CDs und 3 DVDs gab, ist mit seinen 21 bislang unveröffentlichten Songs eine Art Heiliger Gral in Bruce Springsteens Schaffen.

Das 2010 veröffentlichte Doppelalbum The Promise, das es allein stehend und als Kernstück der aufwändigen, amtlichen Werkausgabe The Promise: The Darkness On The Edge Of Town Story mit 3CDs und 3 DVDs gibt, ist mit 21 bislang unveröffentlichten Songs eine Art Heiliger Gral in Bruce Springsteens Schaffen. Es handelt sich um keine Ausschussware handelt, sondern um erstklassigen Stoff. Für The Promise wurden nicht einfach Outtakes aneinandergereiht, es handelt sich tatsächlich um ein eigenes, für sich stehendes Album, das der Boss damals zwischen Born To Run und Darkness On The Edge Of Town hätte veröffentlichen können.

Aus der Distanz und mit der Kenntnis von Springsteens weiterer künstlerischer Entwicklung, hatte er damals Recht, auf das bei aller Schwermut doch oft romantisch schwelgende Born To Run das düstere Darkness On The Edge Of Town folgen zu lassen. Mit all den in grobkörnigem Schwarzweiß gehaltenen Songs vom fordernden harten Alltagsleben normaler Leute, ihren unerfüllten Hoffnungen und geplatzten Träumen. Der schier romantische, überschwänglich poppige Rhythm & Blues und Rock & Soul und die vielen Liebesromanzen von The Promise hätten seine künstlerische Karriere wahrscheinlich nie so vorantreiben können, wie der von ihm gewählte radikale Bruch. Dennoch hätten zu jener Zeit gerade Fire oder Because The Night, vielleicht auch das von Springsteen für The Promise jetzt neu eingesungene Save My Love, seine ersten großen Hits in den Charts hätten werden können.

Als die hoffnungsfrohe, helle Seite des tristen, düsteren Darkness On The Edge Of Town ist The Promise ein umwerfender Hörgenuss. Eine vor tollen Popsongs nur so überquellende Jukebox, in der wie schon zuvor auf Born To Run lustvoll Springsteens prägende Einflüsse rotieren: Elvis Presley in Fire, Roy Orbison in Someday (We’ll Be Together), The Brokenhearted oder Breakaway. Buddy Holly in Outside Looking In, Manfred Mann in Rendezvous, Otis Redding und die Rolling Stones in It’s A Shame und Talk To Me, Phil Spector in Gotta Get That Feeling. Erst gegen Ende fährt auch The Promise auf dem endlosen Highway Richtung Schattenseite und gipfelt im grandiosen, hochdramatischen Titelsong. Über dreißig Jahre später konnte man diese Hochkaräter endlich in bester Soundqualität hören. Bruce Springsteen als emsigen Kurator seines eigenen Werkkatalogs sei Dank.

Bruce Springsteen „The Promise”, Columbia Records, 2010

(Erstveröffentlicht als Album des Monats in: now! N° 93, Jänner/Februar 2011, komplett überarbeitet im Juli 2023)

Das now!-Archiv: now! N° 12, Oktober 2002

Die zwölfte Ausgabe des österreichischen Musik- und Pop-Kultur-Magazins now! vom Oktober 2002. 

Am Cover: The Rolling Stones 100% now! Empfehlung: Saybia Album des Monats: Beck Sea Change now!-Interview: Peter Gabriel Interviews & Stories: The Rolling Stones, Saybia, Peter Gabriel, Ashanti, Supergrass, Elvis Presley, Bon Jovi, Chris Rea, Alicia Keys, Christina Aguilera, Ben Kweller, Atomic Kitten, Paul Weller, The See Saw, Hubert von Goisern, Suede, Aimee Mann, The Vines, Saint Etienne, Sophie Ellis-Bextor, Death In Vegas, Ryan Adams, Paul Newman. Moderne Klassiker: The Who My Generation. Talk now! Fragebogen: Sarah Connor.

Das now! Magazin ist im Salzburger now! Media Verlag erschienen, den ich 2001 mit drei Freunden, Hans, Bernie und Joe, gegründet hatte. Als Herausgeber, Chefredakteur & Geschäftsführer fungierte meine Wenigkeit. In den kommenden neun Jahren sollten noch 88 weitere Ausgaben von now! erscheinen.

Record Collection N° 312: Adriano Celentano „Svalutation“ (Clan Celentano, 1976)

Svalutation ist das 16. Studioalbum des legendären italienischen Sängers, eines seiner besten in den 1970er Jahren.

Nach längerer Pause, verursacht durch eine Serie erfolgreicher Kinokomödien, ließ Adriano Celentano Mitte der 1970er auch musikalisch wieder aufhorchen. Svalutation, sein sechzehntes Albumist seine beste Platte aus dieser Zeit. Getextet hat alle Songs Adriano Celentano selbst, die Musik dazu stammt von Gino Santercole und auch Luciano Beretta, die beide seit den frühen 1960ern zum sogenannten Clan Celentano gehörten, der  stets mehr war als nur eine eigene Plattenfirma, sondern eine Art kreativer, oft umstrittener, skandalumwitterter Künstler-Gang. Ins Leben gerufen hat der fortwährend Unangepasste und Rebellische den Clan schon im Jahr 1961, weil er mit seiner Plattenfirma unzufrieden war und deshalb sein eigenes Label „Clan Celentano“ startete.

Der famose Titelsong Svalutation tönte anno 1976 zu Recht aus vielen Radios und passte damals recht gut zwischen die ersten Pubrock- und punkigen New-Wave-Platten, die sich in meiner Plattenkiste drängten. Außerdem hat er hat seither nicht nur nichts an Energie und Charme eingebüßt, die darin geäußerte Politik- und Wirtschaftskritik scheint heute angesichts der vielen Krisen nicht weniger aktuell und gültig. Aber wie Adriano Celentano alles lässig weg rockt, hat schon große Klasse. Nicht von ungefähr wurde der erste italienische Rock & Roller, anno 1979 von Ian Dury and the Blockheads in der Single Reasons To Be Cheerful, Part 3 neben Elvis Presley, den Marx Brothers, John Coltrane und anderen als einer der Gründe, frohgemut und heiter sein zu können, genannt und von Dury als „Adi Celentano“ tituliert.

Aber auch die anderen canzoni, besonders La Camera 21, I Want To Know, Pt. I & II, La Neve oder La Barca, sind eine cool charmante Mixtur aus lyrischen Singer-/Songwriter-Balladen, Italo-Pop, Soul-Gesäusel, schwülstigen Streichern und Disco-Grooves auf den Spuren von Giorgio Moroder und der Bee Gees.

1977 und 1979 folgten mit Disco Dance, inklusive einer Disco-Version seines unsterblichen Sommerhits Azzurro sowie einer unwiderstehlich geschmalzten Interpretation des Soul-Klassikers Don’t Play That Song (Ben E. King, Aretha Franklin, zuletzt auch Bruce Springsteen), und Soli zwei weitere hörenswerte, noch mehr disco-infizierte Alben. Zumal Adriano Celentano mit einer hinreißenden Selbstverständlichkeit und natürlichen Strahlkraft rockt und schmachtet, dass alles runtergeht wie Honig. Tutto bello.

Adriano Celentano, Svalutation, Clan Celentano, 1976

Record Collection N° 218: Norah Jones “I Dream Of Christmas” (Blue Note Records Records, 2021)

Norah Jones erstes Weihnachtsalbum in zwanzig Jahren ist ein Instant-Weihnachtsklassiker, und Balsam auf die wunden Seelen in einer von Krisen und Kriegen erschütterten Welt.

Obwohl Norah Jones seit ihrem wundervollen Debütalbum Come Away With Me ein Fixstern am Jazz- Soul-Pop-Firmament ist, hat sie sich fast zwanzig Jahre mit einem Weihnachtsalbum Zeit gelassen. I Dream Of Christmas ist das lange Warten wert und praktisch ein Instantweihnachtsklassiker als besonders schön glitzernde Kugel am Weihnachtsbaum, und Balsam auf die wunden Seelen in einer von Krisen und Kriegen erschütterten Welt.

Norah Jones wunderbare Stimme, ihr feiner, verträumter Piano-Jazz-Pop passen perfekt für eine Weihnachtsplatte, in ihre behagliche, herzwärmende Melange, die auch mal funky und soulig groovt und swingt, kann man entspannt eintauchen. Die Auswahl der Songs – ein geglückter, angenehm überraschender Mix aus sechs eigenen Stücken und sieben Christmas-Klassikern – macht I Dream Of Christmas zum Weihnachtsglückskeks. Auch weil Norah Jones von exzellenten Musikern unterstützt wird, darunter Schlagzeuger Brian Blade, die Bassisten Tony Scherr (Kontrabass) und Nick Mvovshon (E-Bass), Russ Pahl (Gitarre) und Marika Hughes (Cello).

Schon der lässige Auftakt Christmas Calling (Jolly Jones), obwohl aus der Feder von Norah Jones, klingt wie ein Weihnachtsklassiker, auch der Soul-Gospel Christmastime und das sparsam instrumentierte, aber umso eindringlichere A Holiday With You verbreiten stimmungsvolles Weihnachtsfeeling – ebenso der Slow-Funk Christmas Glow mit seinen funkelnden Piano-Tupfern, die wie Sternspritzer wirken, und das besonders emotionale You’re Not Alone sowie das betont feierliche It’s Only Christmas Once A Year.

Auch die alten Weihnachtsklassiker interpretiert Norah Jones allerfeinstinneuen Arrangements: Das als New-Orleans-Funk groovende Christmas Don’t Be Late (stammt im Original von einem alten Weihnachtsalbum der Chipmunks-Zeichentrickfiguren) und Bing Crosbys White Christmas kommen völlig frisch und neu rüber, detto Chuck Berrys Run Rudolph Run als synkopierter Slow-Funk und das süß verträumte Winter Wonderland. Bei Elvis Presleys Blue Christmas, Vince Guaraldis Christmas Time Is Here und Ella Fitzgeralds What Are You Doing New Year’s Eve? lehnt sich Nora Jones entspannt an die Originale an und versendet wohlige Weihnachtsgrüße.

Norah Jones I Dream Of Christmas, Blue Note Records, 2021

Elvis Presley: The Day The King Of Rock‘n’Roll Died

August 16, 1977: The man on the radio said, that Elvis Presley has died.

When I wrote a shorter version of this story in German, I have been listening to a lot to some older Bruce Springsteen songs originating from his 1977 and 1978 recording sessions for his fourth album Darkness on the Edge of Town They all hadn’t been used for the original album and were collected in the box set The Promise: The Darkness on the Edge of Town Story released in 2010.

Bruce Springsteen’s sentimental crooning of “Come On (Let’s Go Tonight)” reminded me of the cold, rainy summer of 1977, when punk broke in the United Kingdom and Elvis Presley, the King of Rock’n’Roll, died on the other side of the Atlantic in Memphis, Tennessee at his Graceland mansion. The protagonist in Bruce Springsteen’s song hears “the man on the radio” saying, that Elvis Presley has died today. Devastating news, not only for him. It kind of shattered my teenage life too.

I still remember the day Elvis Presley died like it happened yesterday. I had listened to the radio in my bedroom when I fell asleep and the gentle sound from the radio escorted my sleep through the night. At the end of that special night I suddenly woke up. I was wide awake and heard the newsreader heralding the terrible news about King Elvis. It was just like in Bruce Springsteen’s song: “Now the man on the radio said that Elvis Presley died…“ What a shock, giving me the creeps.

At first, I wasn’t the biggest Elvis Presley fan at all. As a pop music lover I was raised by The Beatles, The Rolling Stones, Sweet, Slade, or T. Rex. But then I watched Elvis Presley’s worldwide satellite concert Aloha from Hawaii on our family’s black and white telly. Boy, what a blast! Ignited I searched for further Elvis Presley stuff. I read John Lennon’s saying, that his world changed totally in 1956 with Elvis’ rock’n’roll big bang Heartbreak Hotel and that The Beatles never wouldn’t have been possible without King Elvis. Being a passionate Beatles fan I went to town and searched in a small record shop for a compilation of Elvis’ hits. I bought Elvis Forever, a double LP with Elvis’ most famous songs, “Heartbreak Hotel”, “Blue Suede Shoes”, “Hound Dog”, “Jailhouse Rock”, “In The Ghetto”, “Suspicious Minds” and all that super fantastic stuff.

But when pubrock and punk came along, I had lost track of Presley’s later music and the pictures that showed him getting fat were pitiful. But on the evening after the day Elvis died, I took the train to Linz, a big city nearby, with my best friend. Norbert and I had formed our first band together, named after a famous Elvis song and were deeply moved by his untimely death. We went to a shabby cinema, where we watched f Elvis‘ Wild in the Country, one of the better Hollywood movies he had made, being still in his prime. It wasn’t utterly brilliant, but it did a good job in soothing the loss we felt.

A few weeks later I was in town again digging for new records. In a small, groovy record store I found Elvis Costello’s now famous album debut My Aim is True. A new Elvis had entered the stage. But that is a different story.

Record Collection N° 166: Paul McCartney “McCartney III” (Capitol Records, 2020)

Paul McCartney: „McCartney III“

Paul McCartney beweist, dass er weder seinen Biss, seinen Schaffensdrang, seine Spielfreude noch seine kreative Muse verloren hat.

Nach Paul McCartneys exzellentem Album Egypt Station ist auch McCartney III kein lahmes Im-Spätherbst-des-Lebens-Album geworden. McCartney hat weder seinen Biss, seinen Schaffensdrang, seine Spielfreude noch seine kreative Muse verloren. Er macht einfach weiter das, was ein Paul McCartney eben macht, und er macht das mit Esprit und einer Einstellung, die bar jeder Sentimentalität ist. Gebremst wurde der 78-Jährige in seinem Tatendrang nur,  weil das Covid-19-Virus für Konzerte und Live-Musik die Pausetaste drückte, und McCartney Anfang 2020 seine 2019 noch auf Hochtouren laufende Freshen Up-Welttournee unterbrechen musste.

McCartney III ist Paul McCartneys dritte reine Soloplatte, die er in einer Krisensituation veröffentlicht hat. Krisen scheinen ihn aus seiner kreativen Komfortzone zu locken. Die erste Soloplatte, simpel McCartney betitelt, erschien vor fünfzig Jahren im April 1970, nachdem sich gerade die Beatles getrennt hatten. McCartney II folgte vor vierzig Jahren im Mai 1980 auf die Verhaftung von Paul McCartney in Japan wegen Besitzes von Marihuana, und die Trennung der Wings, die McCartney langweilig geworden waren. McCartney III, dem Covid-19-Lockdown geschuldet, ist wie seine legendären Vorgänger eine alleinige McCartney-Affäre, die nebenbei ohne großes Trara auch McCartneys 50-Jahre-Jubiläum als Solokünstler feierte.

Aufgenommen wurde das Album von Paul McCartney im von ihm so genannten Rockdown, im Frühling und Frühsommer 2020 auf dem Land im englischen Sussex, wo der 78-Jährige mit seiner Tochter Mary und deren Familie zurückgezogen in seinem Farmhaus wohnte: „Ich lebte ein Lockdown-Leben auf meiner Farm mit meiner Familie und bin jeden Tag ins Studio gegangen.“ Aus diesen Zeitvertreib heraus entstand McCartney III, obwohl der ewige Beatle für 2020 gar kein neues Album geplant hatte.

Bedrängt durch die Konzertpause und die Covid-19-Isolation arbeitete McCartney in seinem Studio in einer renovierten alten Windmühle nahe der Farm an älteren Songskizzen und brandneuen Kompositionen. Er komponierte und textete schließlich alle Songs für McCartney III, spielte sämtliche  Instrumente und produzierte das Album gleich auch selbst. Das Resultat? Zurück zum Einfachen von McCartney? Etwas Avantgardistisches wie bei McCartney II? Nun, von beidem etwas. Einzige Regel aber: Alles ist möglich, nichts ist fix.

Pauls Tochter Mary McCartney war als Baby auf dem Cover von McCartney mit ihrem Vater zu sehen,für McCartney III hat sie das Coverfoto und alle Albumfotos fotografiert. Nicht der einzige Link in die Vergangenheit von diesem dieses ganz und gar gegenwärtigen Album.  Im Studio mit dabei: Der legendäre Kontrabass von Elvis Presleys Bassisten Bill Black. Ein Mellotron aus den Abbey Road Studios. Eine weiße 1954er Telecaster Gitarre, ein Geschenk von McCartneys jetziger Frau Nancy Shevell. Der Geist des Beatles-Produzenten George Martin, weil McCartney eine ihrer gemeinsamen Aufnahmen von 1992 verwendete. Und sein iPhone, auf dem Macca spontane Songideen aufnimmt.

Eröffnet wird McCartney III vom bluesigen, über fünf Minuten (aber keine Sekunde zu) langen Long Tailed Winterbird, wo McCartney Spur um Spur über Akustikgitarrenakkorde seine Bassgitarre, Schlagzeug, rückwärtslaufende Tapes, E-Gitarre und seine über die vielen Jahre tiefer, rauer und heiserer gewordene Stimme legt, die hypnotisch ein Mantra summt. Eine Arbeitsweise, die das ganze Album prägt. Beendet wird die Platte mit Winter Bird / When Winter Comes, einer Akustikgitarrenballade, die auf einer Songskizze aus den 1990ern basiert.

Dazwischen lässt Paul McCartney seiner Kreativität frei laufen, ohne sich groß darum zu kümmern, was man vom ewigen Beatle, vom genialen alten Meister Paul McCartney erwartet, wenn der eine neue Platte macht. The Kiss Of Venus,das Paul in einem beachtlichen Falsett singt, ist ein ähnlich zartes, zauberhaftes Akustikgitarrenstück wie When Winter Comes. Die Ballade Women And Wives, die er allein mit Stimme und Klavier stemmt, hat was vom Feeling der letzten paar Platten von Johnny Cash. Und so einfache, hinreißend leichtfüßige Poplieder wie Find My Way und Pretty Boys fallen einem Paul McCartney wohl schon am Morgen beim veganen Frühstücksmüsli ein. Die bluesigen Riffrocker Lavatory Lil, vielleicht eine Abrechnung mit einer früheren Bekannten, und Slidin’ rocken heavy Richtung der Black Keys. Während sich das achtminütige Deep Deep Feeling um intensive Emotionen dreht, die „in einem Meer der Liebe brennen“. Dazu verzichtet McCartney auf eine Mitsingmelodie und drapiert über minimalen Beats, Klaviersplittern und einer gespenstischen Bluesgitarre seine eindringlichen Gesangsmantras, „sometimes I wish it would stay … sometimes I wish it would go away“ – was für ein grandioser Track. Ganz anders der pure Wohlfühlsong Seize The Day, der zwischen den Beatles und Wings hin und her pendelt. Und Deep Down, ein sympathisch verschleppter Groover, in dem es irgendwie ums Party machen geht. Mit 78, echt? Vielleicht ja, wenn die Lockdowns endlich vorbei sind. An Weihnachten 2020 war McCartney III jedenfalls auf Platz eins der britischen Albumcharts.

Paul McCartney McCartney III, Capitol Records, 2020

© McCartney III Pics shot by Klaus Winninger