Record Collection N° 240: Neil Diamond “The Bang Years 1966-1968” (Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011)

Als Neil Diamond beim Songschreiben seine Muse gefunden hat: The Bang Years 1966-1968 bietet einen Überblick über Neil Diamonds frühes, großartiges Schaffen in den 1960ern – ein wundervoller Mix aus lebensfrohem Pop und schwermütigen Balladen.

The Bang Years 1966-1968 dokumentiert ein faszinierendes frühes Kapitel des im Jänner 1941 in Brooklyn, New York geborenen Sängers und bietet einen Überblick über Neil Diamonds Schaffen in den 1960ern. Mit den 23 hier gesammelten Songs und den ehrlichen autobiografischen Liner Notes von Neil Diamond entsteht ein bewegendes, lebendiges Porträt eines aufstrebenden, endlich etwas reißen wollenden, hungrigen Sängers und Songschreibers, der seinem Talent vertraut, und mit seinen Songs seiner inneren Leere zu Leibe rückt.

Mit 16 bekam Neil Diamond, der Sohn einer polnisch-russischen Einwandererfamilie jüdischen Glaubens, zum Geburtstag eine Gitarre geschenkt. Er wollte Sänger werden und seine eigenen Lieder schreiben. Nach Jahren des Scheiterns versuchte er, das Songschreiberhandwerk im legendären New Yorker Brill Building zu erlernen, einer Hitfabrik, wo professionelle Songschreiber-Teams wie Jerry Leiber und Mike Stoller, Carole King und Gerry Goffin oder Ellie Greenwich und Jeff Barry am laufenden Band wunderbare Pophits komponierten und produzierten. Leider und Stoller etwa Jailhouse Rock oder King Creole für Elvis Presley, King und Goffin Will You Still Love Me Tomorrow von den Shirelles oder The Loco-Motion für Little Eva, Greenwich und Barry Be My Baby oder Baby, I Love Youfür die Ronettes. Ein ähnlich großer Wurf gelang Neil Diamond im Brill Building, wo Ellie Greenwich ihm die Türen geöffnet hatte und Leiber und Stoller ihn als bezahlten Songschreiber unter Vertrag nahmen, aber nicht. Noch nicht.

Mitte der 1960er stand Neil Diamond daher das Wasser bis zum Hals. Als herzlich erfolgloser Möchtegernsänger und Auftragssongschreiber kämpfte er ums künstlerische und finanzielle Überleben. Er war frustriert, weil der Erfolg auf sich warten ließ, er aber schon eine kleine Familie zu ernähren hatte und der Schritt, schlussendlich in einem „normalen“ Job versauern zu müssen, bedrohlich näher rückte.

Nach dem Rauswurf aus dem Brill Building,weil ihm keine Hitkompositionen gelangen, ging Neil Diamond plötzlich der Knopf auf. „Ich setzte mich hin und machte, was ich immer machte, wenn ich glücklich und begeistert war. Ich schrieb Songs, aber dieses Mal nicht einfach Songs, sondern Lieder, die meine echten Gefühle ausdrückten. Es war, als ob ich mein Inneres anzapfte“, notiert Diamond in seinen Liner Notes von The Bang Years. Und er nutzte die Kontakte, die er im Brill Building geknüpft hatte. Ellie Greenwich, der er anvertraut hatte, dass er eigentlich seine eigenen Songs schreiben und singen wollte, empfahl ihn an Atlantic Records weiter, wo er für den von den Atlantic-Bossen gegründeten Ableger Bang Records unter Vertrag genommen wurde.

Die 23 Songs auf The Bang Years, die Neil Diamond 1966 und 1967 für Bang Records aufgenommen hat, wurden großteils von Ellie Greenwich und Jeff Barry produziert, finden sich fast alle auf seinen ersten beiden Alben, und sind hier im originalen Mono-Sound zu hören – ein grandioser Mix aus lebensfrohem, ausgelassenem Pop und üppigen, schwermütigen, aber auch genießerisch schwelgenden Balladen.

Schon Diamonds erste Single Solitary Man, eine Art mürrisch-melancholischer Country-Ballade, knackte im Frühjahr 1966 die US-Charts. „Mein Leben hatte sich damit für immer verändert“, meint Diamond. Mit dem überschäumenden, liebestrunkenen, mit einem Latin Groove gepfefferten Gute-Laune-Song Cherry, Cherry, einem Drei-Akkord-Rock’n’Roll-Wunder, gelang Neil Diamond dann der erste eigene Top-Ten-Hit, während The Monkees mit seinem Knaller I’m A Believer einen Nummer-1-Hit hatten. Solitary Man und Cherry, Cherry stammen von Diamonds 1966er Debütalbum The Feel Of Neil Diamond. Auf beide Songs und etliche andere von The Bang Years wollte Diamond zu Recht in seinen Konzerten nie verzichten.

Auf Cherry, Cherry folgen die theatralische Ballade Girl, You’ll Be A Woman Soon, sein 2. Top-Ten-Hit in den USA, von seinem zweiten Album Just For You (1968), das Jahre später Urge Overkill grandios coverten für den Soundtrack von Quentin Tarantinos Kultfilm Pulp Fiction. Das schwungvolle, schon im später typischen Neil-Diamond-Stil scheinbar schwebende Kentucky Woman, seine letzte Single für Bang Records, vom Oktober 1967, das ein Jahr später von Deep Purple gecovert wurde. Der Rhythm and Blues-Groover Thank The Lord For The Night Time und der stramme Rocker You Got To Me. Neil Diamonds eigene mitreißende Version von I’m A Believer und Red Red Wine, das 1969 ein großer jamaikanischer Reggae-Hit für Tony Tribe war, in den 1980ern in England nochmal für UB 40. Der knackige aufgekratzte, pure Pop von The Boat That I Row, den 1967 die schottische Sängerin Lulu zum Hit machte. Im hymnischen Do It vermag man schon den künftigen Neil Diamond zu hören, beim majestätischen The Long Way Home und dem klingelnden Folkrocker I’ve Got The Feeling (Oh No No) ist es nicht anders. Someday Baby hat den düsteren Beat von Velvet Underground.

Zwischendrin eingestreut sind einige energiegeladene Coverversionen, die von Neil Diamonds Einflüssen künden und alle von seinem 1966er Debütalbum stammen, das zweiteJust For You brachte nur noch selbstverfasste Songs. New Orleans (Gary U.S. Bonds), Monday, Monday (The Mamas and The Papas), Red Rubber Ball (Paul Simon), La Bamba (Ritchie Valens), Hankie Panky (Tommy James and the Shondells, geschrieben von Ellie Greenwich und Jeff Barry).  

Am Ende machen sich Shilo, Diamonds erste große Powerballade, die er mit seiner starken Baritonstimme, festem Einzelgänger-Blick und mächtigen Koteletten grandios präsentiert, und das bluesige The Time Is Now, die B-Seite von Kentucky Woman, schon auf den ernsten, grüblenden Singer-Songwriter-Pfad, den Neil Diamond nach den wenigen Jahren bei Bang Records, wo er wegen künstlerischer und finanzieller Differenzen das Weite suchte, beschritten hat.

Neil Diamond The Bang Years 1966-1968, Columbia Records/Legacy/Sony Music, 2011

© Bang Years Pic by the author.

Record Collection N° 161: John Lennon & Yoko Ono “Double Fantasy” (Geffen Records, 1980)

„Double Fantasy“ war das letzte Album von John Lennon, das kurz vor seinem Tod veröffentlicht wurde, und das er sich mit Yoko Ono, der Liebe seines Lebens, teilte. Eine Herzensangelegenheit.

Double Fantasy war John Lennons erstes Album nach fünf Jahren, in denen er sich als Hausmann ins Dakota Building In Manhattan zurückzog, den Haushalt führte, makrobiotisch kochte und sich um ihrer beiden kleinen Sohn Sean Ono kümmerte, während Yoko Ono in ihrem Büro ein paar Stockwerke weiter unten Geschäfte machte. Die Kritiken für Double Fantasy waren als am 17. November 1980 im United Kingdom und in den USA veröffentlicht wurde, nicht gerade berauschend. Vor allem, weil es sich nur um ein halbes neues Album von John Lennon handelte, da Lennon sich das Album mit Yoko Ono, der Liebe seines Lebens, teilte. Auf der Innenhülle der Platte stand über den abgedruckten Songlyrics: DOUBLE FANTASY – A Heart Play by John Lennon & Yoko Ono.

Auf jeden der sieben Songs von John folgte einer von Yoko, teils direkte Antworten auf den Song von John davor. Mit Hard Times Are Over, hat Yoko, die John “Mutter” nannte, das letzte Wort auf Double Fantasy. Im Roman Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens (2020) des US-Autors Tom Barbash, einer spannenden Mischung aus Realem und Erfundenem, lebt der junge Ich-Erzähler mit seiner Familie im Dakota Building, wo John Lennon und er Freunde werden. Über Double Fantasy denkt der junge Mann so: „Es hieß so, weil er und Yoko wollten, dass das Album nur zur einen Hälfte aus seinen Songs bestand und zur anderen aus ihren. Ich war nicht der Einzige, den diese Neuigkeit enttäuschte.“

Dem deutschen Autor Frank Goosen geht es in seiner Beatles-Huldigung in der KiWi-Musikbibliothek (2020) ähnlich: „Auf der Platte wechselten sich Songs von John Lennon und Yoko Ono ab. Ich kann nicht sagen, dass mich das begeisterte.“ Weil Goosen die Songs von John Lennon auf Double Fantasy aber toll fand, stellte er nach Erscheinen des 1984 posthum veröffentlichten Albums Milk and Honey, auf dem es wieder im Wechsel Stücke von John und Yoko gab, eine Seite einer C90-Cassette mit allen John Lennon Songs von beiden Platten zusammen. Heute hätte er, so schreibt Goosen, diese Lennon 80 Playlist immer noch auf seinem iPhone.

Natürlich habe ich so etwas auch versucht, und eine Playlist mit den sieben Lennon-Songs von Double Fantasy und den sechs Lennon-Songs von Milk and Honey, darunter starke Stücke wie I’m Stepping Out, Nobody Told Me oder Borrowed Time und die berührend fragile Klavierballade Grow Old With Me, zusammengestellt. Mit diesen dreizehn Songs wäre Double Fantasy wohl ein klasse Comeback-Album von John Lennon geworden. Und zugleich ein hell strahlendes Signal in Richtung einer würdigen Zukunft, wenn nicht geschehen wäre, was am 8. Dezember 1980 geschehen ist. Aber Lennon wollte so ein Comeback-Album eben nicht. Und ich muss zugeben, beim Hören meiner Lennon 1980-Playlist, in der ich am Ende auch noch seine Double-Fantasy-Songs in der Stripped-Down-Version von 2010 drangefügt habe, fehlt mir Yoko Onos oft hysterischer (in Kiss Kiss Kiss echt orgiastischer) Avantgarde-Pop dann doch – irgendwie.

In ihrer tiefenentspannten Gelassenheit und liebevollen Sanftheit waren John Lennons Songs und das konsequente des Double-Fantasy-Konzepts aber ebenso radikal, wie die Beatles wegen Yoko in die Luft zu sprengen, danach zum friedensbewegten Power-To-The-People-Agitator zu werden und auf seinem ersten richtigen Soloalbum in einer musikalischen Psychotherapie seine Seelenqualen bloßlegte.

Mit dem modernen amerikanischen Rockmusik-Produzenten Jack Douglas (Cheap Trick, Aerosmith) und Topmusikern wie den Gitarristen Earl Slick (David Bowie) und Hugh McCracken (Steely Dan, Billy Joel, Paul McCartney), dem Bassisten Tony Levin (Peter Gabriel, Paul Simon, Lou Reed) oder dem Schlagzeuger Andy Newmark (Roxy Music, Pink Floyd, David Bowie) führte John Lennon auf Double Fantasy die schon mit dem 1973er Album Mind Games begonnene Amerikanisierung seines Sounds konsequent fort.

Viele seiner Songs auf Double Fantasy und Milk and Honey schrieb John Lennon nach einem gefährlichen Segel-Turn, der seine kreativen Kanäle wieder geöffnet hatte, auf den Bahamas. Lennons Lyrics lesen sich wie schon seit Beatles-Zeiten oft wie Tagebucheintragungen. Im modernisierten Doo-Wop von (Just Like) Starting Over passiert genau das, was der Songtitel sagt. In Watching The Wheels bekennt er, dem Weltentreiben jetzt mal gelassen zuzusehen. Im so kraftvoll wie seine früheren Soloplatten rockenden I’m Losing You, gesteht er, Yoko untreu gewesen zu sein. Woman ist eine von Herzen kommende Liebeserklärung an Yoko und die Frauen der Welt, eine beachtliche Wandlung für den misogynen Macker, der Lennon früher gewesen sein soll. Im funky Rhythm & Blues-Kracher Cleanup Time besingt John seine und Yokos neue Häuslichkeit. Im beschwingten Dear Yoko beschwert er sich aber, dass Yoko zu wenig Zeit mit ihm verbringe. Im wunderbar frohen Wiegenlied Beautiful Boy (Darling Boy) singt Lennon nicht nur eine seiner besten Textzeilen („Life is what happens to you while you‘re busy making other plans“), er deklariert auch seine grenzenlose väterliche Liebe für seinen und Yokos Sohn Sean, eine väterliche Liebe, die John selbst nie kennengelernt hatte.

Nicht wenige Kritiker verrissen Double Fantasy, als es 1980 veröffentlich wurde. John Lennons Ermordung nur drei Wochen später änderte die Einschätzung (und auch den kommerziellen Erfolg) der Platte schlagartig. Und je mehr Zeit vergeht, desto heller strahlt die Schönheit von Double Fantasy, und ehrlich noch mehr jene von John Lennons Liedern auf der Platte.

Ich habe mit Sicherheit keine andere Platte so oft ohne Pause gehört wie Double Fantasy, in den Wochen nachdem John Lennon so tragisch ums Leben gekommen ist. Vielleicht auch weil ich unterschwellig dachte, die schreckliche Tat vom 8. Dezember 1980 so ungeschehen machen zu können.

John Lennon & Yoko Ono Double Fantasy, Geffen Records, 1980

© Double Fantasy Pics photographed by the author

Record Collection N° 162: John Lennon “Gimme Some Truth” (Universal Music International, 2020)

Eine allerfeinst zusammengestellte, kraftvoll und brillant klingende Kollektion der Solosongs von John Lennon  nach der Trennung der Beatles. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

Die erste Best-Of-Sammlung von John Lennon, Shaved Fish, war die einzige die zu Lennons Lebzeiten 1975 veröffentlicht wurde. Und sie sollte für eine lange Zeit auch die beste bleiben, obwohl nach der Ermordung des Ex-Beatle im Dezember 1980 eine Vielzahl an Lennon-Kollektionen erschienen ist, darunter die formidablen Working Class Hero: The Definitive Lennon (Doppel-CD, 2005) und Power To The People: The Hits (CD/DVD, 2010).

Mitunter waren das aber lieblos zusammengeschusterte Einzel-CDs oder überbordende Box Sets, die man interessehalber vielleicht ein paarmal hört und dann nie wieder, und sie verstauben im Regal. Auch von Gimme Some Truth, das zum 80. Geburtstag von John Lennon erschienen ist, gibt es gleich mehrere Editionen mit so vielen CDs oder LPs, das man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Übrigens hat es bereits 2010 eine pralle 4-CD-Box gleichen Namens gegeben, die ambitioniert wirkte, aber erneut mehr etwaswas für Sammlerregale war statt häufig gespielt zu werden.

Bei Gimme Some Truth anno 2020 machen zwei Fakten den Unterschied: Erstens wurden die 36 Songs dieser 2-CD-Deluxe-Edition von Johns Sohn Sean und Yoko Ono persönlich ausgewählt. Und es ist fast alles mit dabei, was für das Beste von John Lennon dabei sein sollte.  Ob Singles oder Albumtracks, die meisten sind natürlich sehr bekannt, aber oho: Give Peace A Chance, Cold Turkey, Instant Karma!, Power To The People, Gimme Some Truth, Jealous Guy und Imagine bis Whatever Gets You Thru The Night, Stand By Me, (Just Like) Starting Over, Watching The Wheels, Woman, Losing You oder Nobody Told Me erzählen John Lennons Geschichte nach der Trennung der Beatles. Das Spektrum seiner Themen – Seelenschmerz, Liebe, Friede, Religion, Rassismus, Politik, Anti-Beatles – ist präsent. Auch wenn sein ultimativer Trauma-Song Mother ebenso wie Woman Is The Nigger Of The World aus welchen Gründen immer weggelassen wurde, auf Working Class Hero war er 2005 jedenfalls noch zu finden. Dafür gibt es mit der Angela (über die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis) von Some Time In New York City und Angel Baby, ein Outtake der Aufnahmesessions des 1975er Album Rock ’n‘ Roll, zwei nicht so oft gehörte Songs von John Lennon.

Zweitens ist der remasterte Sound, der unter der Ägide von Sean Lennon abgemischt wurde und von der Plattenfirma als „Ultimate Remixes“ beworben wird, eine Offenbarung. Haben Lennons Songs je besser geklungen? Sie funkeln und strahlen, tönen entstaubt, durchlüftet, schlagkräftig – volle Power für John Lennon!

John Lennon Gimme Some Truth, Universal Music International, 2020

Record Collection N° 130: John Lennon „John Lennon/Plastic Ono Band” (Apple Records, 1970)

Das erste Soloalbum von John Lennon nach dem Ende der Beatles, auf dem er sich seine inneren Qualen und Dämonen von der Seele schreit. John klingt, als ob seine Stimmbänder und sein Herz vor dem Mikrophon geblutet hätten.

Wenn man sich Peter Jackson’s phänomenale neue Dokumentation The Beatles: Get Back ansieht, ist unschwer zu erkennen, dass der Beatle John Lennon im Jänner 1969 alles andere glücklich ist, und nicht so recht eins mit sich selbst zu sein scheint. Dem ersten Soloalbum von Lennon waren die famosen Singles Give Peace A Chance, Cold Turkey und Instant Karma sowie das mit der Plastic Ono Band aufgenommene Livealbum Live Peace In Toronto 1969 vorangegangen. Nachdem sich die Beatles im April 1970 nach dem Ausstieg von Paul McCartney schlussendlich getrennt hatten, folgte am 11. Dezember 1970 mit John Lennon/Plastic Ono Band Johns erstes Soloalbum, seine kraftvollste, aufwühlendste, vielleicht auch berührendste Soloplatte, die einer Operation am offenen Herzen gleichkommt.

1970 war John Lennon einer der berühmtesten Männer auf dem Planeten Erde. Mit den Beatles hatte der Dreißigjährige in den 1960er Jahren die Popmusik revolutioniert. Bestärkt von seiner zweiten Frau, der japanischen Avantgarde-Künstlerin Yoko Ono, engagierte er sich gegen Ende des Jahrzehnts in politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und wurde zu einer Art Gewissen des Rock’n’Roll – eine Bürde, die ihm ebenso zu schaffen machte wie der gigantische Erfolg der Beatles.

Im April 1970 nach der offiziellen Trennung der Beatles, flogen John und Yoko wenige Tage später nach Los Angeles, um sich einem besonderen Krisenherd zu widmen: John Lennons Psyche. Dass John Lennon nicht nur ein energiegeladener, schlagfertiger, selbstsicherer Mann war, schimmerte schon in Beatles-Songs wie I’m A Loser oder Help durch. Doch bei den Beatles verzierte Lennon seine Bekenntnisse noch mit gedrechselten witzigen, oft sarkastischen Wortspielen und oft aufwändigen musikalischen Arrangements. Um mit seinen inneren Dämonen zurecht zu kommen, unterzogen sich John und Yoko beim Therapeuten Dr. Arthur Janov aber einer Urschrei-Therapie, um die  tiefsten Wurzeln für seine persönlichen Probleme noch einmal zu durchleben und so ein besseres Selbstwertgefühl zu erlangen. Nebenbei schrieb John Lennon in Los Angeles in vier Monaten über dreißig neue Songs.

Zurück in London im Herbst 1970 führte John Lennon (Gesang, Gitarre, Klavier) die Urschrei-Therapie musikalisch fort. Unterstützt von der Plastic Ono Band mit Yoko Ono (Inspiration, Co-Produzentin), Ringo Starr (Schlagzeug), Alan White (Schlagzeug), Klaus Voormann (Bass), Billy Preston (Keyboards) und dem legendären 1960er-Jahre-Produzenten Phil Spector. Sein Gesang auf John Lennon/Plastic Ono Band gehört zu den intensivsten, leidenschaftlichsten vokalen Darbietungen des Rock’n‘Roll. Er klingt, als ob seine Stimmbänder und sein Herz vor dem Mikrophon geblutet hätten. Die Songs selbst haben simple Melodien, karge Arrangements, oft einen lauten, rauen Sound, starke Gefühle und brutal autobiographische Songtexte. In einer bis dahin nicht gekannten Offenheit und emotionalen Radikalität sang Lennon, was er in der Seele spürte, und versuchte der ihn erstickenden Verbitterung zu entkommen.

In Mother geht es um seine traumatische Kindheit und Jugend ohne Vater, und einer zu früh verstorbenen, abgöttisch geliebten Mutter. In Hold On John spricht er über einer berückenden Tremologitarre sich und Yoko, aber auch dem Hörer Mut zu, man müsse durchhalten, bis es am Ende des finsteren Tunnels wieder lichter wird. In I Found Out wettert Lennon über Ringo Starrs mächtigem Getrommel, dem heftig pumpenden Bass von Klaus Voormann und seiner eigenen widerspenstigen, schrillen Gitarre über das, was ihm gerade so gegen den Strich geht. Working Class Hero hat eine starke politische Botschaft, es geht um die seelischen  Verstümmelungen, die den Menschen generell so im Laufe des Lebens zugefügt werden, und um die Ausbeutung der Arbeiterklasse im speziellen. In der hypnotischen Klavierballade Isolation offenbart Lennon seine Angst vor Einsamkeit, und sehnt sich nach innerer Ruhe und Glück. In Remember ermahnt er sich, sich nicht von der Vergangenheit unterkriegen zu lassen. Love meditiert zauberhaft über die Natur der Liebe, zugleich ist die anrührende Klavierballade ein Liebeslied für Yoko.

Well Well Well hat etwas vom Bluesrock von I Want You (She’s So Heavy) auf Abbey Road, Lennon schwadroniert über Sex und Politik, und das schlechte Gewissen, es sich als reicher Liberaler in der Sonne gut gehen zu lassen, schließlich eskaliert alles in einer Schreiorgie. Look At Me hingegen ist ein zartes, charmantes Geflüster zwischen Liebenden, auf den Spuren der von Lennon für das White Album der Beatles in Indien geschriebenen Akustikgitarrenballaden (Dear Prudence, Julia). Im großen musikalischen Drama von God schreit Lennon alle Mythen raus, an die er nicht (mehr) glaubt: Gott, die Bibel, Buddha, Yoga, Elvis, Zimmerman (Dylan), die Beatles, Hitler, Jesus, Kennedy (J.F.K.) und so fort. Er glaube nur noch an sich selbst, so Lennon, an Yoko und sich selbst. Der Traum sei vorbei. Er sei das das Walross gewesen, jetzt wäre er nur noch John. Punkt. Der Schlusssong My Mummy’s Dead, ein fragiles Kinderlied, ist mit all seinem Schmerz kaum zu ertragen. Eine offene Wunde, wie sie auch das blutige Attentat eines irren Fans auf John Lennon am 8. Dezember 1980 in New York für immer in dieser Welt hinterlassen hat.

John Lennon John Lennon/Plastic Ono Band, Apple Records, 1970

Record Collection N° 60: The Beatles “Beatles For Sale” (Odeon/EMI Records, 1964)

Das vierte Album der Beatles, „Beatles For Sale“ ist nicht ihr bestes, aber eine großartige und mitreißende Platte. Und die erste, die in meinem jungen Leben auftauchte, Licht und Hoffnung in meine Provinzwelt brachte und mein jugendliches Selbst veränderte.

Der amtlichen Beatles-Geschichtsschreibung gilt Beatles For Sale, das vierte Album der Fab Four, als einer der schwächeren Beatles-Longplayer. Dieses Urteil ist, mit Verlaub, falsch. Natürlich hat Beatles For Sale im extragrandiosen Kanon der Beatles-Alben keinen leichten Stand, aber auch keine leichte Entstehung. Weil inmitten der turbulenten Beatlemania, laufend auf Tournee, in Fernseh-, Film- und Radio-Studios, auf Pressekonferenzen, bei Interviews und Foto-Shootings, nicht viel Zeit und Energie übrig war fürs Songschreiben und die Aufnahmen in den Abbey Road Studios.

Im selben Jahr, 1964, war mit A Hard Day’s Night schon das erste Meisterwerk der Beatles veröffentlicht worden, alle Songs von Lennon/McCartney komponiert und getextet, fabelhaft gespielt und gesungen, die A-Seite der LP noch dazu der Soundtrack ihres ersten hinreißenden Kinofilms gleichen Namens. Dass während der Aufnahmen von Beatles For Sale unbedingt eine neue Single, die nicht am Album sein durfte, für den boomenden Plattenmarkt produziert werden musste, machte es für die vierte LP der Band nicht leichter. Wären I Feel Fine (A-Seite), eines von John Lennons optimistischsten Liedern mit seinem charakteristischen, verzerrten Feedback-Gitarrenriff, das George Harrison den ganzen Song hindurch spielt, und She’s A Woman, ein fulminanter Rocksong, den Paul McCartney geschrieben und mit seiner Little-Richard-Rock & Roll-Stimme gesungen hat, mit auf Beatles For Sale gewesen, wäre die Platte wohl ein großer Knüller gewesen. Aber auch so ist Beatles For Sale eine tolle, mitreißende Platte geworden – obwohl den Fab Four auf dem ikonischen Coverfoto die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben steht. Spuren der rasenden Beatlemania.

Beatles For Sale ist das erste Album der Beatles in meinem jungen Leben gewesen. Es tauchte noch vor den beiden, 1973 veröffentlichten Beatles-Samplern The Beatles 1962-1966 und The Beatles 1967-1970 auf, dem legendären Roten und Blauen Album der Fab Four, die in den 1970ern meiner Generation die Beatles nahebrachten. Ein älterer Freund in der Nachbarschaft, Franz mit Namen, hatte mir Beatles For Sale auf einer Musikcassette aufgenommen, die ich auf meinem neuen SABA-Radio-Rekorder, damals ein Wunderwerk der Technik für mich, praktisch pausenlos spielte, bis sie irgendwann kaputt ging, da hatte ich aber schon das Rote und das Blaue Album als Vinyl-Doppel-LPs, die Beatles For Sale LP folgte bald. Eine Offenbarung für mich, die Licht und Hoffnung in meine Provinzjugend brachte und mein Leben, innerlich jedenfalls, entscheidend veränderte.

Die Aufnahmen für Beatles For Sale mussten im prallen Terminkalenderder Beatles zwischen die vielen anderen Verpflichtungen gezwickt werden. Diesem Termindruck und einem dringend nötigen, aber fehlenden kreativen Durchschnaufen ist geschuldet, dass sich auf Beatles For Sale nur acht neue Beatles-Originale finden, dazu sechs Coverversionen alter Rock’n’Roll- und Rhythm-&-Blues-Hadern, die schon zu Beginn ihrer Karriere im Liverpooler Cavern Club und in den Hamburger Reeperbahn-Clubs im Repertoire der Beatles waren. Chuck Berrys Rock And Roll Music und Dr. Feelgoods Mr. Moonlight – beide von John inbrünstig gesungen. Kansas City, im Arrangement von Little Richard, furios gerockt von Paul. Buddy Hollys Words Of Love, im Duett von John und Paul gesäuselt. Und zwei Kracher von Carl Perkins, Everybody’s Trying To Be My Baby, als cooler Country-Swing von George rübergebracht, dazu Honey Don’t, von Ringo im Country-Stil gerockt. Das war das letzte Mal, von den 1969er Get-Back-Sessions mal abgesehen, dass die Fab Four die Plattentruhe mit den Hits ihrer Jugend plünderten.

Seite eins der LP wird von einem umwerfenden Lennon-McCartney-Trio eröffnet. Auf Johns Liebesleid-Klage No Reply, folgt sein Selbstzweifler I’m A Loser, sein bis hierhin persönlichster Song, der schon den Einfluss von Bob Dylan spüren ließ. Im Jänner 1964 sollen die Beatles nämlich nichts anderes im Hotel gehört haben als Dylans zweites Album The Freewheelin‘ Bob Dylan, das Paul vor Ort von einem französischen Radioreporter bekommen hatte, und Dylans gleichnamiges Debütalbum, dass sie sogleich selbst in einem Pariser Plattenladen kauften. John und Pauls Duett Baby’s In Black wirkt ähnlich niedergeschlagen wie die ersten beiden Lieder, erst Rock And Roll Music hebt die Stimmung, ebenso Pauls wundervoll perlende Ballade I‘ll Follow The Sun, die buchstäblich die Sonne aufgehen lässt, bevor Mr. Moonlight und Kansas City am Ende nochmal losfetzen und die Wände  wackeln lassen.

Seite zwei  wird vom populärsten Song des Albums, dem Wohlfühl-Hit Eight Days A Week, eröffnet, den die Beatles angeblich nie so recht gemocht haben, vor allem John Lennon nicht. Paul McCartney allerdings spielte es immer wieder in seinen Konzerten bis ins neue Jahrtausend, solange noch Tourneen möglich waren und nach Corona auch wieder. Der Rest von Seite zwei ist in der Folge vielleicht nicht ganz so stark und prickelnd wie die erste Seite. Words Of Love singen John und Paul in einem hübschen Duett, erstaunlicherweise ist es der einzige Song von Buddy Holly, den sie für eine ihrer Platten coverten, obwohl Holly ein großer Einfluss für sie war. Honey Don’t ist Ringos großer Country-Moment. Pauls Every Little Thing und das musikalisch stärkere What You’re Doing, das mit seiner zwölfsaitigen Gitarre den Folkrock-Sound der Byrds vorwegnimmt (und beeinflusst hat) handeln von Pauls komplizierter Liebesbeziehung mit der englischen Schauspielerin Jane Asher, die nicht nur die Freundin eines berühmten Popmusikers sein wollte, sondern eben auch Schauspielerin. Auch am Country-Flair von I Don’t Want To Spoil The Party lässt sich erkennen, dass die Beatles Countrymusik wirklich mochten. Gesungen wird es von John und Paul, die es eigentlich für Ringo geschrieben hatten, Johns persönlicher Text lamentiert über sein Unvermögen, den Verlust einer Geliebten zu verschmerzen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Mit dem coolen Country-Swing Everybody’s Trying To My Baby setzt George den Schlusspunkt auf Beatles For Sale, das mir ein wertvoller Teil meiner Plattensammlung ist.

The Beatles Beatles For Sale, Odeon/EMI Records, 1964

© Beatles For Sale Pics by the author.

Record Collection N° 50: The Beatles: „A Hard Day’s Night“ (Parlophone/EMI, 1964/2009)

„A Hard Day’s Night“, das dritte Album der Beatles, veröffentlicht am 10. July 1964, ist zur Hälfte der Soundtrack ihres famosen ersten gleichnamigen Kinofilms in Schwarzweiß, die Songs erklingen in leuchtendem Bunt. In der zweiten Hälfte gibtes weitere famose selbstgeschriebene Songs der Fab Four aus Liverpool. Man kann getrost sagen, dass A Hard Day’s Night das erste Meisterwerk der Beatles in Albumlänge ist.

John, Paul, George & Ringo waren gerade von ihrer Heimatstadt Liverpool nach London, der Popmetropole der Swinging Sixties, umgezogen. A Hard Day’s Night war ihr dritter Longplayer innerhalb von 18 Monaten. Und das erste Album der noch immer blutjungen Musiker, das allein mit Eigenkompositionen bestückt ist. Zudem der einzige Longplayer der Beatles, auf dem sich ausschließlich Kompositionen des Songschreiberteams Lennon/McCartney befinden.

Die A-Seite der originalen Vinyl-LP ist der Soundtrack des grandiosen, superwitzigen, supersympathischen gleichnamigen Kinofilms. In der rasanten Handlung mit halbfiktiven Alltagsszenen aus der Turbokarriere der Beatles spielen ihre Songs natürlich keine Neben- sondern die Hauptrolle. Beatlemania in Bild und Ton. In Spielfilmlänge und überschäumender Laune. Mit vier gutaussehenden, ungemein coolen, charismatischen Hauptdarstellern, superwitzigen Schnellfeuerdialogen. Mit der berühmtesten Band der Welt. Der allerbesten Band sowieso. Und dem obercoolen Beatle, Ringo Starr.

Vom gewaltigen Eröffnungsakkord des Titelstücks an gibt es praktisch nur Hits zu hören, und solche, die Hits hätten werden können. Zuerst die glorreichen Sieben aus dem Film: A Hard Day’s Night, John Lennons ungestümer Titel-Rocker, der den zunehmenden Karrierestress der Beatles widerspiegelt und zugleich eine Art Arbeiterklasseblues ist – während Lennons markige Stimme durch Refrain und Strophen führt, übernimmt Paul McCartney die Bridge, die er mit seiner heiser aufgerauten Rock’n’Roll-Stimme singt, ein elektrisierender Effekt. Ringo Starr rockt heißer als jeder Brandstifter, George Harrison spielt das markante Fade Out auf seiner neuen 12-saitigen Rickenbacker-Gitarre. Diese prägte den Sound des ganzen Albums und sollte in den USA bald The Byrds wachrütteln. I Should Have Known Better startet mit einer von Bob Dylan abgekupferten Mundharmonika, danach legt John Lennon ungewohnt aufgekratzt und glückselig los, während Harrisons 12-Saiten-Rickenbacker ihm den Weg weist. Unvergessen wie die Fab Four im Film während einer Bahnfahrt zu diesem Song Karten spielen, eingesperrt im Postwagon, wo sie zu den Instrumenten greifen.

Die wunderschöne Ballade If I Fell singen John und Paul im Duett. Songautor John Lennon zeigt, dass er nicht nur rocken, sondern es auch mal romantisch kann, wenngleich die besungenen Liebesverwirrungen die für ihn typische wehmütig-bittere Note haben. Für I’m Happy Just To Dance With You darf mal George Harrison ans Mikro, der voll auf Mr. Superlässig macht und glatt damit durchkommt. Worauf Paul McCartney sich mit And I Love Her, einer wunderschönen Liebesballade in einem zauberhaften Arrangement aus Akustikgitarren und Bongos, als allerfeinster Popromantiker erweist. Tell Me Why dagegen ist simple, mitreißende uptempo Beatmusik über eine unglückliche Liebe, die John Lennon flehend besingt, während McCartney und Harrison ihn mit glasklarem Harmoniegesang stützen.

Paul McCartneys raue Rock’n’Roll-Stimme Marke Little Richard kommt in Can’t Buy Me Love zum Tragen, einem prickelnden Song, der ausnahmsweise außerhalb der Abbey Road Studios in Paris aufgenommen und schon vor dem fertigen Album veröffentlicht wurde. Prompt ein weiterer Nummer-1-Hit, und die erste Single der Band, die nur einen einzigen Sänger in den Vordergrund stellt. Die sieben weiteren Songs auf der B-Seite der Originalplatte halten die exzellente Qualität von Seite A. Allen voran McCartneys herrlich melodiöses, nachdenkliches Things We Said Today. Lennons rauer Rocker When I Get Home, der das häusliche Glück idealisiert, und sein packendes Liebeswerben in You Can’t Do That.

Die 13 Songs auf A Hard Day’s Night sind ein großer Entwicklungssprung für die Beatles. Sie sind als Songschreiber gereift, was die Songtexte, komplizierten Akkordfolgen, die gesteigerte Raffinesse der Melodien anlangt, aber auch als Arrangeure, Musiker und Studiokünstler. Das wird auch am volleren, aufwändigeren Sound deutlich. Dieser ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass man nicht mehr bloß auf zwei Tonspuren aufnahm, sondern Produzent George Martin jetzt Vier-Spur-Rekorder einsetzte. George Harrisons klingelnde, 12-saitige Rickenbacker, John Lennons stramme Rhythmusakkorde, Paul McCartneys melodiös-druckvolle Bassläufe, Ringo Starrs minimalistische, energiegeladene Beats, die bestechend brillanten Gesangsharmonien – sie sind so klar und deutlich wie noch nie zu hören auf den aktuellen 2009er Beatles Remasters. Egal, ob in Mono oder in Stereo.

Dass John Lennon und Paul McCartney jetzt häufiger getrennt Songs schrieben, ist auf A Hard Day’s Night deutlich zu bemerken. Zugleich hielten die beiden aber an ihrer professionellen Songschreiberpartnerschaft zugunsten des größeren Ganzen fest und halfen sich gerne immer wieder gegenseitig aus. Die Klischeebilder von Lennon, dem Rebell, Revolutionär, Neuerer, und  McCartney, dem Softie, Kitschkomponisten, Karrieristen sind aber nicht mehr als Mythen in Tüten. Auf A Hard Day’s Night zeigt sich John Lennon besonders kreativ und ist bei der überwiegenden Zahl der Songs federführend. Doch Paul McCartneys wenige Beiträge können voll mit Lennons Songs mithalten. Das Resultat ihrer kreativen Chemie trieb die Beatles zum ersten  Höhepunkt auf dem Weg zur Popband von epochalen Dimensionen.

Ende Juli 1964 katapultierte sich A Hard Day’s Night auf den ersten Platz der britischen Charts und thronte dort ganze 21 Wochen lang. Und das voll verdient, weil es das erste Meisterwerk der Beatles im Albumformat war.

The Beatles A Hard Day’s Night, Parlophone/EMI, 1964/2009

Record Collection N° 49: The Beatles „With The Beatles” (Parlophone/EMI, 1963/2009)

Beatlemania pur. „With The Beatles“ ist das zweite Album der Fab Four, ein Yeah-Yeah-Yeah-Wunder aus Liverpool. Veröffentlicht wurde es vor sechzig Jahren am 22. November 1963 im britischen United Kingdom, der Heimat der Beatles. Am europäischen Festland gab es die Platte schon zwei Wochen früher, dort war es aber das Debütalbum von John, Paul, George and Ringo.

Vorne auf dem Plattencover – das ikonische Schwarzweißfoto der Fab Four aus Liverpool, das den ganz frühen Fotos der Band nachempfunden ist, welche die mit der Band befreundete Fotografin Astrid Kirchherr in Hamburg geknipst hat. In den orginalen Linernotes des Albums, die auch im Booklet der pipifein remasterten 2009er Neuauflage von With The Beatles abgedruckt sind, schreibt Pressemann Tony Barrow im November 1963: „The Beatles haben die Erfolgsformel wiederholt, die ihre erste LP Please Please Me zum am schnellsten verkaufenden Album von 1963 machte.“

Es stimmt. Die 33 Minuten neuer Beatles-Musik auf With The Beatles, diese 14 frisch eingespielten neuen Songs sind Please Please Me, Teil 2 – ungeniert und das mit Recht, voller Selbstbewusstsein.

1963 explodierte die Karriere der Beatles. Beatlemania überall. Auf das im März veröffentlichte Debütalbum folgten rasch mit dem bluesigen From Me To You (April) und dem explosiven Yeah-Yeah-Yeah-Wunder She Loves You (August) zwei nur als Singles veröffentlichte Nummer-1-Hits. Und gar nur eine Woche nach der Veröffentlichung von With The Beatles brachte die Band mit dem vor freudiger Energie nur so vibrierenden Lennon/McCartney-Duett I Want To Hold Your Hand schon wieder einen neuen, nur auf Single veröffentlichten Hit in die Läden, der 1964 auch die USA erobern sollte.

Die Aufnahmen für With The Beatles starteten Mitte Juli 1963, als in Großbritannien die Beatlemania schon voll im Rollen war, eingeschoben zwischen Tourneen, Radio- und TV-Shows und sonstigen Verpflichtungen der vier Musiker. Allzu viel Zeit für die Arbeit im Aufnahmestudio blieb da nicht. Ein paar Stunden mehr wie noch beim Debüt sollen es schon gewesen sein, man hört die zusätzliche Studiozeit ebenso wie die bereits im Aufnahmestudio gewonnene Erfahrung. Einerseits wirken die härteren Stücke nicht mehr ganz so rau und ungeschliffen wie noch auf Please Please Me, andererseits ist eine gesteigerte Raffinesse in Stücken wie dem wunderbaren All My Loving mit seinen wirbelnden Akkordgirlanden oder in Paul McCartneys süß romantischer Schmachtballade Till There Was You deutlich zu bemerken.

With The Beatles übernimmt von Please Please Me die zündende Mixtur von eigenen Song-Orginalen, die unterwegs auf Tour geschrieben wurden, und bewährten Rock & Roll- und Rhythm & Blues-Krachern aus der Liveshow der Beatles. Es versucht auch, die dramaturgische Klammer des Debüts zu wiederholen: Das stürmische It Won’t Be Long reicht mit seinen frenetischen Yeah-Schreien zwar nicht ganz an I Saw Her Standing There heran, aber wie viele Songs können das schon? Und am Ende gelingt den Beatles mit dem Motown-Stomper Money (That’s What I Want) ein brennender Soul-Rocker, der es mit der Ekstase von Twist And Shout aufnehmen kann. Es ist wieder John Lennon, der sich hier die Stimmbänder in Fransen brüllt.

Neben Money finden sich unter den Coverversionen noch zwei weitere Songs aus der Detroiter Soul-Hitfabrik Motown. Smokey Robinson & The Miracles’ You Really Got A Hold On Me, für das sich Lennon einmal mehr voll Inbrunst die Stimmbänder blutig röhrt. Auch in Please Mister Postman agiert er an vorderster Front, unterstützt von den gekonnten Vokalharmonien Paul McCartneys und George Harrisons. McCartney setzt dann mit  Till There Was You einen wunderbaren romantischen Höhepunkt. George Harrison singt Chuck Berrys Roll Over Beethoven zwar mitreißend – das ratternde Schlagzeug von Ringo Starr stiehlt ihm aber fast die Show. Auch weil George nicht ganz so kraftvoll rüberkommt wie  John Lennon ein Jahr später im anderen Chuck-Berry-Klassiker Rock And Roll Music auf dem vierten Beatles-Album Beatles For Sale.

So gut die Coverversionen auf With The Beatles sind, noch besser sind die acht von ihnen selbstgeschriebenen Songs, die das Herz der Platte bilden. Darunter auch das trotz fetzigem Gitarrensolo noch leicht blasse Don’t Bother Me, der erste von George Harrison geschriebene und gesungene Beatles-Song. Am allerbesten in seiner simplen, hinreißenden Schönheit und dem jugendlichem Überschwang ist Paul McCartneys All My Loving. Fast genauso gut: It Won’t Be Long und die schmerzlich schöne Lennon-Ballade All I’ve Got To Do. Not A Second Time, eine weitere bittere Midtempo-Ballade von John Lennon über eine enttäuschte Liebe mit einer umso reichhaltigeren Melodie und einem verzerrten Piano-Solo von Produzent George Martin. Little Child, einer ihrer besten eigenen, frühen Rocker. Und das noch härter rockende I Wanna Be Your Man, das sich schon einige Wochen zuvor die Rolling Stones für ihre zweite Single ausliehen, mit dem supercoolen Ringo als Sänger. Alles einmal mehr in Mono statt Stereo noch eine Spur brisanter tönend. Vor allem You Really Got A Hold On Me und Money sind an Intensität und Spannung im originalen Mono-Mix kaum zu überbieten. Beatlemania pur.

The Beatles With The Beatles, Parlophone/EMI, 1963/2009

Record Collection N° 33: The Beatles „Please Please Me“ (Parlophone, 1963)

„One, two, three, four!“ – Als Paul McCartney auf „Please Please Me“, dem 1963er Debütalbum der Beatles, eine Zeitenwende einzählte: den Urknall von Pop- und Rockmusik und den gesellschaftlichen Umbruch und Modernsierungsschub der 1960er Jahre.

„One, two, three, four!“ – Der 20-jährige Paul McCartney zählte so nicht nur den elektrisierenden Beat-Kracher I Saw Her Standing There, den Auftaktsong des Debütalbums der Beatles, ein – er behauptete später, eigentlich hätte er „One, two, three, f..k!“ gezählt. Pauls kecke Ansage ist jedenfalls die Initialzündung für den Urknall der Pop- und Rockmusik. Und für den gesellschaftlichen Umbruch und Modernisierungsschub der 1960er Jahre. Mit Please Plase Me  erfanden die Beatles die Beatmusik, also den Sound wie eine Rock- und Popband ab sofort klingen sollte. Energiegeladene Schlagzeug-Beats, melodiös pumpende Bassläufe, das scharfe, dynamische Duo von Rhythmus- und Sologitarre, leidenschaftlicher Gesang und betörende Gesangsharmonien.

Zehn der der 14 Songs von Please Please Mew wurden mit dem für die EMI arbeitenden Musikproduzenten George Martin, einem typisch britischen, vornehmen Gentleman, binnen zehn Stunden am 11. Februar 1963 in den Londoner Abbey Road Studios aufgenommen – obwohl die Beatles eigentlich gerade auf einer Tournee mit der englischen Popsängerin Helen Shapiro waren. Die Aufnahmen wurden aber rasch wegen des ersten britischen Nummer-1-Hits der Beatles, Please Please Me, angeordnet, mit dem sich die vier Musiker aus Liverpool sofort von den vielen anderen britischen Gitarrenbeatbands absetzen konnten, die Anfang der 1960er diesseits des Atlantiks beim Rock & Roll von Elvis Presley Feuer gefangen hatten.

Ihren rauen, furiosen Stromgitarren-Rock & Roll hatten die Beatles in Hunderten von Live-Auftritten in kleinen Szene- und Kellerlokalitäten wie dem Cavern Club in ihrer Heimatstadt Liverpool oder dem Star Club in Hamburg von der Pike auf gelernt, ebenso die schmusigen Herzdrückballaden zum Verschnaufen zwischendurch. Auf der Plattenhülle der von einer deutschen Programmzeitschrift „Hör Zu“ herausgegebenen Sonderauflage von Please Please Me lockte der Werbespruch „Die zentrale Tanzschaffe der weltberühmten Vier aus Liverpool“. Falsch war das nicht, denn selbst zu den langsameren Songs auf der Platte ließ sich ob ihres lässig schäkernden Grooves gut tanzen.

Die englische Originalhülle zeigte das legendäre Foto der Fab Four im Stiegenhaus des Londoner EMI-Hauptquartiers. Ende der 1960er stellten die Beatles mit langen Haaren und Bärten das Foto noch einmal nach – für das Cover des letztlich nicht realisierten Get Back-Albumprojekts. Auf der Cover-Rückseite die schlichte Vorstellung der vier jungen Musiker, man beachte die Reihenfolge: George Harrison (Sologitarre, noch keine 20 Jahre alt), John Lennon (Rhythmusgitarre, 22), Paul McCartney (Bassgitarre, 20), Ringo Starr (Schlagzeug, 22).

Vier Namen, die man sich fortan merken sollte. Ihr explosiver Mix aus Rock & Roll-Krachern und Schmachtfetzen – aus acht klasse Eigenkompositionen und sechs gut gewählten fremden Songs aus ihrem erprobten Live-Programm – kündigte Großes an. Eingerahmt wird Please Please Me von zwei der zündendsten Dynamitrocker, die die Beatles je aufgenommen haben. Das selbst geschriebene I Saw Her Standing There geht gleich zu Beginn gewaltig los. Die Lichter bläst am Ende der welterschütternde Rock’n’Roll von Twist and Shout aus, das sich die Beatles genauso selbstverständlich zu Eigen machen wie alle anderen Coverversionen der Platte.

Während John Lennon sich ohne Rücksicht auf seine malträtierten Stimmbänder durch Twist and Shout schreit, schmachtet er auch Burt Bacharachs Baby It’s You mit großer Leidenschaft. Paul McCartney kehrt in A Taste Of Honey schon einmal den charmant charismatischen Romantike hervor, allerdings einen mit rauer Schale. Und der von Carole King geschriebene Girl-Group-Hit Chains wird von John, Paul & George mit perlendem Harmonie-Gesang vorgetragen, der auf den 2009er Beatles-Remasters noch brillanter strahlt.

Die Gesangsparts zählen neben Bass und Schlagzeug zu den großen Gewinnern der 2009er Remasters des gesamten Beatles-Katalogs. Welche Nuancen der kraftvoll klare, transparenter abgestimmte Sound jetzt hörbar macht, tritt auch in Boys zu Tage, das Schlagzeuger Ringo singt. Die Rhythmus-Gruppe mit Ringo Starrs dynamischem Getrommel und Paul McCartneys druckvollem, hochmelodiösem Bassspiel ist eine Offenbarung und auch George Harrisons schneidige Sologitarre fetzt voll in der Manier von Country-Gitarrist Chet Atkins. Die Eigenkompositionen, die hier übrigens noch dem Duo McCartney/Lennon zugeschrieben sind – ab dem zweiten Album With The Beatles sollte es Lennon/McCartney heißen –, werden von den beiden Hitsingles Love Me Do und Please Please Me angeführt – zwei famose Rock’n’Roller, denen Misery oder There’s A Place nicht nachstehen. Süßlich säuselnd hingegen die Balladen P.S. I Love You, Ask Me Why und das von George Harrison gesungene Do You Want To Know A Secret.

Die 1987er CD-Ausgabe brachte die ersten vier Alben der Beatles im klassischen Mono-Sound, der stumpf und dumpf aus den Lautsprechern kam. Die 2009er Remasters präsentieren dagegen erstmals George Martins Stereo-Mix aus den 1960ern auf CD – mit der  gewöhnungsbedürftigen Links-/Rechts-Aufteilung von Instrumenten und Stimmen, die in vollem Effekt aber schon enormen Druck machen kann. Die in der The Beatles In Mono-Box neu remasterte, originale Monoversion klingt aber noch energiegeladener, rauer, wilder – voll auf den Punkt. Ganz abgesehen davon, dass die Beatles selbst aus dem läppischsten Plastikradio und der stumpfesten Küchenmaschine noch hinreißend rausrocken – so gut wie anno 2009 haben die Beatles seit den alten Vinyl-Platten der 1960er Jahren nicht mehr geklungen.

Please Please Me ist auch Jahrzehnte nach seinem Entstehen noch taufrisch, voll Charisma, jugendlicher Energie und unwiderstehlichem Enthusiasmus.

The Beatles Please Please Me, Parlophone, 1963/2009

© Please Please Me pics taken by the author.

Record Collection N° 145: Bob Marley & The Wailers „Catch A Fire” (Island Records, 1973)

Das im April 1973 veröffentlichte Album Catch A Fire  begründete Bob Marleys globalen Ruhm. Aber die internationale Version, die in London entstanden ist, unterscheidet sich von der schon 1972 in Kingston, Jamaika aufgenommenen Version.

Im Ghetto-Song Concrete Jungle schrauben sich über dem pulsierenden Rhythmus die klaren Gesangsharmonien von Bob Marley, Peter Tosh und Bunny Livingston empor: „No sun will shine in my day today …“ Aufgenommen wurden ihre Stimmen in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston, wo The Wailers 1972 ihr Debüt für Chris Blackwells Label Island einspielten. Die geschmeidigen Gitarrenläufe und das hart rockende Solo, die den ersten Song auf Catch A Fire ebenso prägen wie die Stimmen der Wailers wurden Monate später in London hinzugemischt. Dort unterzog Blackwell die von Marley mitgebrachten Bänder einer subtilen Soundpolitur, um die Reggae-Musik auch dem weißen Rockpublikum näher bringen zu können.

Chris Blackwells Idee war die große Chance für die Wailers. Ihre in den frühen 1960er Jahren mit fetzigem Ska gestartete Karriere stagnierte. Um die Jahrzehntwende produzierten sie mit dem legendär bekifften Produzenten Lee Perry eine Reihe jamaikanischer Hits wie Trenchtown Rock, abseits Jamaikas blieb ihre Musik aber ohne größere Resonanz. Blackwells dynamischer Mix eröffnete eine neue Dimension: Der Gitarrist Wayne Perkins gab nicht nur Concrete Jungle einen Kick, er zauberte auch die hypnotisch flirrenden Töne in Stir It Up aus seiner Steelgitarre. Der britische Keyboarder John Bundrick sorgte mit Synthesizer und Orgel für intensive  Klangfarben und gab No More Trouble das an Stevie Wonder erinnernde Klavinett-Riff.

Auf dem originalen stylishen Cover, der Nachbildung eines Zippo-Feuerzeugs, wurden nur die Namen der Wailers genannt.Es brauchte  bis 2001, dass allen beteiligten Musikern ihre Credits gewährt wurden. Auf der in diesem Jahr veröffentlichten Deluxe Edition von Catch A Fire konnte man zum ersten Mal auf einer zweiten CD auch die Originalversionen der Songs hören – so wie die Wailers sie 1972 in Kingston, Jamaika aufgenommen hatten. Zudem gibt es mit High Tide Or Low Tide und All Day All Night hier auch die beiden souligeren Stücke, die Chris Blackwell damals nicht auf dem Album haben wollte. Die ursprünglichen Aufnahmen verzichten auf raffinierte Klangeffekte und setzen auf einen simplen, raueren und intimeren Sound. Der lose, weitschweifige one drop rhythm der Barrett Brüder pumpt hypnotisch aus den Boxen, Peter Toshs monoton minimale Gitarrenriffs und die süßen, aber messerscharfen Gesangssätze schneiden durch die dicken Ganja-Schwaden. Kinky Reggae – ein gedämpfter, cooler Groove mit spirituellen Vibes.

Neben Bob Marley als dem Hauptsongschreiber und Leadsänger steuerte Peter Tosh zwei Songs bei, 400 Years und Stop That Train, welche die Verbrechen der Sklaverei anklagten. Mit den ausnahmslos starken Songs wurde Catch A Fire zum ersten richtigen Album des Reggae, der zuvor vor allem auf die Veröffentlichung von Singles konzentriert war. Die Kritik an der Unterdrückung und Ausbeutung der entrechteten Dritte-Welt-Bevölkerung, die urbanen Getto-Stories und die leidenschaftliche Liebeslyrik bewirkten, dass der charismatische Bob Marley bald mit Songschreibern wie Bob Dylan, Stevie Wonder oder Curtis Mayfield verglichen wurde. Innerhalb der Wailers kam es zu Eifersüchteleien und Machtkämpfen. Ein Jahr und ein weiteres Album später hatten Peter Tosh und Bunny Livingston die Band schon verlassen: Bob Marley setzte seinen Weg mit den neu formierten Wailers fort.

Das Album: Catch A Fire

Aufgenommen 1972 in Kingston, Jamaika, und London, England.  Veröffentlicht: 13. April 1973. Chartsplazierung: Keine (England), 171 (USA). Band: Bob Marley (Gesang, Akustikgitarre), Peter McIntosh, später Tosh (Piano, Orgel, Gitarre, Gesang), Bunny Livingston (Congas, Bongos, Gesang), Aston Barrett (Bass), Carlton Barrett (Schlagzeug) sowie John Bundrick (Synthesizer, Orgel), Wayne Perkins (Leadgitarre) u.a. Produzenten: Bob Marley & The Wailers & Chris Blackwell.

Bob Marley & The Wailers Catch A Fire, Island Records, 1973

© Catch A Fire Pics shot by the author.

Record Collection N° 139: The The „Soul Mining” (Epic, 1983)

Vor rund vierzig Jahren erschien mit „Soul Mining“ eines der besten Pop-Alben der 1980er Jahre. Es war Matt Johnsons erstes Album unter dem Spitznamen The The und ist ein Selbstporträt des Künstlers als nachdenklicher junger Mann – gequält von emotionalen Schwankungen, Sehnsüchten, Weltschmerz und gerettet von der heilenden Kraft der Popmusik.

Wenn der Morgen graut, und die Nadel sich in die Plattenrille senkt und der Countdown beginnt: „Six, five, four, three, two, one … zero!“, knistert es und schon detoniert der erste Beat. „All my childhood dreams are bursting at the seams“, röchelt der Sänger, ein schmächtiger, blasser Bursche, der den schmerzvollen Blues vom Erwachsenwerden singt. Ein dreiundzwanzigjähriger Melancholiker, der auf der Suche nach seiner verlorenen Jugend und irgendeinem Sinn in seinem Leben ist: „I’ve been waiting for tomorrow / All of my life.“ Eine drückende Katerstimmung schiebt sich über das Morgengrauen. „You didn’t wake up this morning / Because you didn’t go to bed”, grübelt Matt Johnson mit tiefer, rauchiger Stimme in This Is The Day, dem zentralen Song von Soul Mining. „Du hast beobachtet / Wie das Weiße in deinen Augen rot wird”, sinniert er weiter und schmachtet eine verführerische Melodie wie aus einem Chanson.

Paris stand bei der britischen Popintelligenz in den frühen 1980ern hoch im Kurs, Songs wurden in Anlehnung an Romane von Camus geschrieben, Alben nannte man Café Bleu, postmoderne französische Philosophen wurden für den theoretischen Überbau zitiert. Die Musik schwankt zwischen düsteren, pessimistischen Post-Punk-Experimenten, Lärmexzessen und  strahlender, geiler Pop-Euphorie. Am Grad zwischen Depression und Glückseligkeit balancierend, produziert Matt Johnson, ein genialischer britischer Songschreiber, Lyriker, Multiinstrumentalist und Sänger, sein zweites Album Soul Mining. In der offiziellen Diskografie gilt sein Debütalbum Burning Blue Soul von 1981 heute als erste Platte von The The, es gibt seit 2004 auch eine Neuauflage mit eigenem Cover im punkig-expressiven Grafikstil der ersten The-The-Platten, erschienen ist es damals aber unter Matt Johnsons Namen, klarer Fall von Geschichtsklitterung.

Soul Mining ist und bleibt Matt Johnsons erstes Album unter dem Firmennamen The The, inzwischen ist die Ende der 1970er Jahre gegründete Band wieder ein Einmannbetrieb mit Gastmusikern. „Der Kalender an der Wand zählt die Tage runter“, brummt die Raucherstimme, während ein Akkordeon und eine Fiedel sich über harschen Computerbeats wiegen, und Matt hinabsteigt in das Kellergewölbe seiner Seele. Unterwegs verfängt er sich in Selbstmitleid und Selbstzweifel, versucht sich loszureißen und amüsiert sich königlich über seine Jammerei und über das Wehklagen von allen anderen.

Matt Johnson besingt auf Soul Mining nicht weniger als das Gewicht der Welt, das schmerzlich auf seinen jungen Schultern lastet. Die sieben Songs auf Soul Mining (auf einer CD-Edition ist noch die wunderbare Single Perfect angehängt, die den ersten Vinyl-LPs als 12-Inch-Vinyl beigelegt war) sind verdichtetes Leben und romantische Fiktion. Ein Pop-Album, das den Künstler als nachdenklichen jungen porträtiert Mann – gequält von  Gefühlsschwankungen und brennenden Begierden, bedrängt von seinem Weltschmerz,  gerettet von seinem schwarzen Humor und der heilenden Kraft der Popmusik. „My head is like a junk shop / in desperate need of repair”, heult der Sänger in The Sinking Feeling,  und folgert gewitzt: „Am besten gehe ich gleich wieder ins Bett.“ Matt Johnson verpackt seine emotionale Nabelschau nicht in fragilen Folkrock, tröge Rock-Balladen oder schaurige Industrial-Hämmer, er inszeniert sie lieber als modernen, kraftvoll melodiösen Electro-Pop, der einen voll berührt. „Something always goes wrong / when things are going right“, behauptet er im Titelsong. Das mag so sein. Aber auf Soul Mining läuft gar nichts falsch, doch war Matt Johnson je wieder so gut?

Soul Mining: Aufgenommen von Herbst 1982 bis Frühjahr 1983 in London und New York. Veröffentlicht: Oktober 1983. Charts-Platzierung: 27 (UK). Musiker: Matt Johnson (Synthesizer, Percussion, Gesang), Zeke Manyika (Schlagzeug), Camelle G. Hinds (Bass), Thomas Leer (Synthesizer), Jools Holland (Klavier) und andere. Produzenten: Matt Johnson & Paul Hardiman.

The The Soul Mining, Epic, 1983