Das now!-Archiv: now! N° 13, November 2002

Die dreizehnte Ausgabe des österreichischen Musik- und Pop-Kultur-Magazins now! vom November 2002. 

Am Cover: Foo Fighters 100% now! Empfehlung: Dzihan & Kamien Album des Monats: Badly Drawn Boy Have You Fed The Fish now!-Interview: Tori Amos Interviews & Stories: Foo Fighters, Dzihan & Kamien, Christina Aguilera, DJ DSL, Richard Ashcroft, Justin Timberlake, Pearl Jam, Sinead O’Connor, The Rolling Stones, Johnny Cash, Shaggy, Beck, David Gray, Tom Jones, Patrice. Moderne Klassiker: The Human League Dare!  Talk now! Frageboge: Ronan Keating.

Das now! Magazin ist zehn Jahre lang im Salzburger now! Media Verlag erschienen, der 2001 von mir, der ich als Herausgeber & Chefredakteur fungierte, und drei Freunden, Hans, Bernie und Joe, gegründet wurde. In den kommenden neun Jahren sollten noch 87 weitere Ausgaben von now! erscheinen.

The Verve „Urban Hymns”

 

 

 

 

 

 

 

Exzellente Songkollektion: Kein perfektes, großes Meisterwerk – aber der beste Gitarrenrock, der 1997 neben Radioheads OK Computer produziert wurde.

Als die vielversprechenden Britpop-Debütanten The Verve 1993 auf Tournee durch englische Clubs gingen, ließen sie als Vorgruppe unbekannte Novizen namens Oasis spielen. Zwei Jahre später widmete Oasis-Chef Noel Gallagher, inzwischen ein Star und nach eigener Einschätzung „bester, britischer Songschreiber“, dem Verve-Sänger Richard Ashcroft den Song Cast No Shadow – ein Nachruf auf einen Mann, „der vom Gewicht der Worte, die er zu sagen versucht, niedergedrückt wird.“

Man nannte Ashcroft „Mad Richard“, weil er zu viele Drogen schluckte, mystische Spinnereien von sich gab und in Selbstmitleid versank. Seine Band The Verve hatte er gerade aufgelöst – ein Verzweiflungsakt, mit dem er Gitarrist Nick McCabe, angeblich ein ähnliches psychisches Wrack, loszuwerden trachtete. Der Rest der Band begab sich nach zwei Wochen erneut ins Studio. In den nächsten 18 Monaten kurierte sich Richard Ashcroft aus, war bemüht, einen klaren Kopf zu bekommen und The Verve mit Hilfe namhafter Gitarrenvirtuosen wie Ex-Suede Bernard Butler und Ex-Stone Roses Jon Squire zu reformieren. Vergeblich. Es brauchte Nick McCabe und die aufgewärmte Hassliebe zwischen beiden, um den kreativen Motor endlich wieder auf Touren zu bringen.

 Mit den Weltklasse-Singles Bitter Sweet Symphony und The Drugs Don’t Work entstiegen The Verve den Trümmern ihrer Vergangenheit. So gut war die Band früher nie gewesen. In Wahrheit traute ihnen niemand zu, dass sie so gut sein können. Jammten sie früher, eingeschläfert von Drogen, im Groove-Nirvana drauflos, bringen The Verve hier ihre Fertigkeiten aufs Effektivste ein: die elegischen Melodien, die sie in weitläufige, symphonische Cinemascope-Arrangements hüllen; Richard Ashcrofts bittersüße Weltschmerz-Lyrik, eindringlich vorgetragen von seiner haltlos romantischen Stimme; Nick McCabes prägnantes, furioses Gitarrenspiel.

Die Erwartungen für Urban Hymns steigerten sich ins Unermessliche. Der in England übliche Medien-Hype setzte ein, der aus talentierten, charismatischen Musikern gleich Götter macht. Richard Ashcroft starrte von allen Titelblättern, die Schlagzeilen donnerten „Größer als Oasis“ und „Die beste Rock’n’Roll-Band der Welt“. Ach.

Seit Urban Hymns erschienen ist, ist alles auf irdisches, menschliches Maß reduziert. Ja, Urban Hymns ist eine tolle Songkollektion – der beste Gitarrenrock, der 1997 neben Radioheads OK Computer gespielt wurde. Aber nein, Urban Hymns ist kein perfektes, großes Meisterwerk: darauf hätten die unwürdige Led Zeppelin-Kopie The Rolling People, der Psychedelic-Kitsch von Neon Wilderness und das bemühte Pathos von Lucky Man keinen Platz. Ein Opus magnum sollte auch nicht allein von zwei Ausnahmesongs geprägt sein: Die Qualität und Strahlkraft der restlichen elf Songs können an die beiden Supersingles nicht voll heranreichen. Wenn auch ergreifende Große-Gefühle-Balladen wie Sonnet oder Space and Time, das schöne Rührstück One Day, der Zeitlupen-Funk von This Time, ganz in der Manier von Sly Stone, und der rauschende Schlussrocker Come On ihren eigenen Zauber entfalten.

Die latente Verbindung zu Oasis bleibt irgendwie aufrecht. Wo deren neues Album Be Here Now vielleicht nicht mal bewusst die kollektive Aufbruchstimmung im britischen Königreich reflektiert, schildern Richard Ashcrofts Songs individuelle Alltagsdepressionen. „I take you down the only road / I ever been down“, kündigt Ashcroft in Bitter Sweet Symphony an und beklagt in der Folge, das quälende Allein-in-diese-Welt-geworfen-sein, die Unmöglichkeit der Liebe und das Fehlen jeglicher Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz: „We have existence / and that’s all we share“, formuliert Ashcroft seine Philosophie in Space and Time unschlagbar.

Richard Ashcroft sucht in der Musik Erlösung, Schönheit, Kraft. Urban Hymns ist keine große, aber eine berührend menschliche Platte.

The Verve Urban Hymns, Hut/Virgin, 1997

(Spiegel Online, 30.10.1997, zuletzt überarbeitet im Dezember 2018)