Edwyn Collins, der schottische Pate des Britpop, beamt den Sound seiner Kultband Orange Juice ins neue Jahrtausend.
Wer Edwyn Collins nicht mag und das soll es – unglaublich – schon mal geben, nennt den 43-jährigen Schotten Edwyn Collins einen Verlierer. Verehrern gilt er als Kultfigur und als einer der Gründerväter des Britpop. Ende der 1970er, Anfang der 1980er versuchte Edwyn Collins, mit seiner Band Orange Juice so Gegensätzliches wie Punk, Motown-Soul, Velvet Underground und Disco zu fusionieren und produzierte jugendlich charmanten, hinreißend melodiösen Pop. Kultstatus garantiert, große Erfolge blieben aus, 1985 trennte sich die Band.
Edwyn Collins machte solo weiter, doch er entkam dem brotlosen Kultstardasein nicht. Er konnte froh sein, dass sein im Herbst 1994 veröffentlichtes Album Gorgeous George mit einiger Verspätung den Welthit A Girl Like You abwarf: Seither hat der Schotte sein Bankkonto saniert und in London ein eigenes Studio eingerichtet, in dem er tun und lassen kann, was er will. Dort hat er in aller Ruhe das brillante 1997er Album I’m Not Following You produziert – wieder ein kommerzieller Flop, was sonst?
Mit Doctor Syntax setzt Edwyn Collins noch einen drauf. Vielleicht ist es Zufall, aber es ist genau zwanzig Jahre her, seit er mit Orange Juice das superfunky Disco-Soul-Electro-Pop-Rock-Album Rip It Up veröffentlichte, die erfolgreichste Platte der Band. Mit Doctor Syntax schließt Collins wieder an diesen Sound an, den er perfekt draufhat.
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Seine Soul-Stimme schmachtet oft so tief unten, dass man Barry White zu ihm sagen möchte. Die Songs suhlen sich in eingängigen Melodien, drumherum zirpen süße Chöre, raffinierte Gitarrenakkorde und fiepsende Synthesizer, an der Basis pumpt ein funky Bass Leben in die Grooves. Eine tolle Mischung aus den Orange Juice von Rip It Up, unwiderstehlichem Disco-Groove á la Chic, grellem 1980er Electro-Pop, feisten Gitarrenriffs und herrlich schmierigen Gitarrensoli. Die Songtexte sind eine Klasse für sich, in der beißender Witz, verbitterte Sturheit und nostalgisches Sentiment gemeinsam die Schulbank drücken. Am bösesten: The Beatles, das den psychedelischen Sound der Beatles kopiert, sich aber zugleich über die nicht enden wollende Beatlemania mokiert. Sein Spott macht aber auch vor ihm selbst nicht halt: Gleich zu Beginn schimpft er sich selbst einen „Also-ran / Trying to get by any way I can.“ Mit Verlaub: Dieses Urteil ist viel zu hart für einen Könner wie Edwyn, der auf Doctor Syntax so formidable Songs wie Never Felt Like This, Mine Is At, Splitting Up, Johnny Teardrop oder 20 Years Too Late nur so aus dem Ärmel schüttelt. Von seinen früheren Meriten gar nicht mehr zu reden.
Edwyn Collins Doctor Syntax, Setanta Records, 2002
(now! N° 08, Mai 2002, komplett überarbeitet im November 2020)
© Doctor Syntax Pics shot by Klaus Winninger